Schachbrett mit zehn Damen

von Kaa Linder

Zürich, 16. August 2014. Es ist ein seltenes Glück, Theater aus dem Iran zu sehen. Noch dazu als Uraufführung an einem der bestdotierten Theaterfestivals der Schweiz – am Zürcher Theater Spektakel. "Sâl Sâniye" ist überdies ein Stück, das sich mit Frauenthemen auseinandersetzt und von jungen Frauen gespielt wird. Umso erstaunlicher und umso enttäuschender, dass es für eine deutsche Übersetzung des in Farsi gesprochenen Theaterabends nicht gereicht hat. Denn die jüngste Arbeit des iranischen Regisseurs Hamid Pourazari und seiner Papatiha Theatre Group lebt von den Dialogen und Erzählungen.

 Irren und Suchen

"Sâl Sâniye" ist so wortgewaltig und wortreich, dass eine Übersetzung schlicht zwingend ist. Die vor Vorstellungsbeginn ausgehändigte Synopsis gibt lediglich wieder, was die szenischen Fragmente zum Inhalt haben, und das ist nicht viel mehr als was auf der Bühne zu sehen ist. Auf den Einlass wartend wird das Publikum von einer jungen Frau angesprochen. Sie hämmert immer wieder gegen dir Tür, scheint etwas zu suchen und wirkt verzweifelt. Ihre Lippen sind nachtschwarz geschminkt. Sie trägt schwarze Schnürstiefel und ein Jeanskleid, welches halb Hose, halb Rock ist, dazu ein schwarzes Kopf- und ein rotes Halstuch. Sie sieht zugleich aus wie ein Landkind und wie ein Punk. Nach langem Warten und Hämmern gegen die Tür geht diese endlich auf. Der Raum hängt voller Trockeneisschwaden. Die Tribünen sind beidseitig längs des Raumes angebracht. Kreuz und quer marschieren zehn Frauen, alle identisch angezogen. Ihr Schritt ist entschlossen, ihr Ziel unklar. Es ist ein Irren und Suchen in diesen Gängen. Eine leise Unruhe, die sich allmählich ausbreitet.

salsaniye3 560 zts christian altorfer u© Christian Altorfer

Kontrollverlust beim Putzen

In der nächsten Szene sind die zehn Spielerinnen mit transparenten Regenhäuten ausgestattet und mit Besen und Gummihandschuhen bewaffnet. Im Akkord schrubben sie den Betonboden. Eimerweise wird Wasser ausgeschüttet, nicht nur auf den Boden. Eine hat die Kontrolle verloren über das Putzen. Sie kniet auf dem Boden, ihre Bewegungen sind obsessiv. Die anderen reden auf sie ein, beschwichtigen sie. Solche Momente werden repetitiv eingesetzt in den insgesamt zehn Fragmenten, die sich lose aneinanderreihen. Zu den stimmungsvollsten gehört jene Szene von auf weißen Laken zu zweit sich tummelnden junger Frauen. Aus einem Tablet erklingt leise Musik, es wird gekichert und gekuschelt, und wenn auch keine Kissenschlacht zu sehen ist, so lässt dieses Bild an eine universelle Freiheit, an Ausgelassenheit und Zuversicht denken. An die Hoffnung auf einen neuen Morgen.

In "Sâl Sâniye" (dt. Sekunden wie Jahre) bildet die gemeinsame und die individuelle Suche nach Identität das zentrale Thema. Jede dieser Frauenfiguren hat ihr eigenes Trauma und ihren eigenen Traum, sowie die Entschlossenheit, das Vergangene zu vergessen und sich in eine bessere Zukunft aufzumachen. Was genau diese Frauen umtreibt, wonach sie suchen und was hinter ihnen liegt – das kann das Publikum allerdings nur erahnen. Wenn sich alle eine weiße Schürze umbinden und von einer Kollegin mit Megafon herumkommandiert werden, so darf man annehmen, dass es sich jedenfalls nicht um einen Kochwettbewerb handelt.

Fiebrige Nervosität

Hamid Pourazari hat den Theaterabend gemeinsam mit den zehn Performerinnen in Teheran erarbeitet. Der Regisseur reiht die Fragmente aneinander und arbeitet mit strengen Choreografien. Auf- und Abtritte werden im rechten Winkel vorgenommen, als wäre die Bühne ein Schachbrett und die Performerinnen freistehende Damen, die sich vor einem oder mehreren Angreifern schützen müssen. Diese Angreifer wird es im iranischen Kontext zweifellos mehrfach geben, allein sie bleiben in den ausführlichen, für das Publikum nicht verständlichen Textpassagen unerkenntlich. Man gäbe in diesen starken Momenten, von deren Schlichtheit die Inszenierung lebt, viel darum, den Frauen nicht nur zuschauen sondern auch zuhören zu können. Denn sie haben etwas zu sagen. Sie sind präsent und konzentriert und lassen die fiebrige Nervosität, die in "Sâl Sâniye" mitschwingt, als etwas begreifen, was weit über starke Bilder hinausgeht.

Am Schluss stehen auf der Bühne zehn paar Schnürstiefel. Da ist noch eine, die in grimmigem Eifer Seil springt. Das Springseil ist giftgrün. Sie scheint die Sprünge zu zählen und die Schritte vielleicht, die sie noch trennen vom Ende des Alptraums, in dem sie lebt.

 

Sâl Sâniye
Regie: Hamid Pourazari, Text: Nashmineh Nourouzi, Dramaturgie: Narges Hashempour, Kostüme: Neda Nasroulahzadeh.
Mit: Mina Zaman, Nasrin Derakhshanzadeh, Maryam Heydari, Parastoo Ghorbani, Saeideh, Niazkhani, Sahar Gholamisaba, Shima Hosseinabady, Soudeh Sadaei, Tina Younestabarbisheh und Hoda Heydari.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterspektakel.ch



Kritikenrundschau

"Leider unverständlich", so ist der Artikel von Anne Bagattini in der Neuen Zürcher Zeitung (online 18.8.2014) betitelt. "Es hat zwar durchaus auch seinen Reiz, den für unsere Ohren so fremden Klängen zu lauschen, doch je länger die Vorstellung dauert, desto mehr möchte man verstehen, was da eigentlich gesagt wird." Für die performativen Darbietungen der "jungen, überaus engagierten Performerinnen" abseits der sprachlichen Hindernisse hat die Kritikerin viel übrig.

Kommentare  
Sâl Sâniye, Zürich: Assoziationen?
"Was genau diese Frauen umtreibt, wonach sie suchen und was hinter ihnen liegt – das kann das Publikum allerdings nur erahnen." Was assoziieren denn Sie damit, Kaa Linder? Es wäre schon interessant zu wissen, wie Sie als Rezensentin diese Inszenierung wahrgenommen haben.

Ihre Beschreibung klingt für mich so, als ob die Frauen das "Schlachthaus" bzw. "Schlachtfeld" säubern müssten, vielleicht im Anschluss an die blutige Niederschlagung der "Grünen Revolution" durch das iranische Regime 2009? Die Aussage wäre dann zum Beispiel, dass die Frauen hier doppelte Leidtragende sind, einmal durch die Frauenunterdrückung und ausserdem dadurch, dass dann auch noch sie selbst die Spuren der (auch ihnen?) angetanen Gewalt wieder wegwischen müssen. Wie sangen nochmal John Lennon und Yoko Ono? "Women Is the Nigger of the World". Und das ist als Metapher zu lesen.
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