Der König von Scheißegalien

von Matthias Weigel

Berlin, 4. September 2014. Voilà, der neue Patrick Wengenroth: Gepflegter Hipster-Haarschnitt, souveräner Popstarauftritt und die Inszenierung eines echten Klassikers: "Leonce und Lena" von Georg Büchner. Früher stürzte er sich mal als bärtiger Zottelbär an theoriegeladenen Abenden in selbstauferlegte Peinlichkeiten. Heute aber schwappt die "Fame"-Leuchtschrift auf dem T-Shirt des schauspielenden Regisseurs Patrick Wengenroth gar nicht so selbstironisch über, in der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz.

Auftritt mit Prinzenrolle

Ist es ihm also ernst um die Sache, gar um Georg Büchner? Ulrich Hoppe in der Prinzenrolle (wird auch während des Stückes gegessen) als Leonce spielt zu Beginn erstmal Auftrittvergeigen, Nichtspielen, Bühnenvorbereiten. Jule Böwe als sein Kumpel Valerio spielt Zuspätkommen, Angetrunkensein und lustloses Wrack auf Stöckelschuhen. Aus jeder Pore schreit das Gegenprogramm zur klassischen Figurendeutung als träumerischem Luftikus und abgedrehtem Schlingel.

Dem "Lustspiel" wird also schon mit gesunder Distanz und Unterspanntheit entgegnet, ab und zu auch mit kleinem Schenkelklopfer zwischendurch. Richtig funky wird es, als der Spielleiter selbst in besagtem Shirt mit ärgstem Auto-Tune-Effekt den ersten Elektropop-Song trällert: "Ich bin der König von Scheißegalien".

leonce lena becher hoppe 560 c gianmarcobresadola uGegenprogramm zum Lustspiel: Iris Becher als Lena und Ulrich Hoppe als Leonce.
© Gianmarco Bresadola

Nur zu welchem Ziele? Die Holzscheibe der steilen Bühne beginnt sich langsam zu drehen, das Stück kommt als Hoppe-Böwe-Duett wie nebenbei in Gang. Dem Prinzen Leonce ist langweilig, er will bloß keinen Sinn im Leben (und auf der Bühne), also zieht er sich erstmal bis auf sein Kermit-der-Frosch-Kostüm aus. Leonce soll vom regierenden Vater (Wengenroth) zwangsverheiratet werden, also nichts wie weg – "gen Italien". Dort kommt erstmals Lena (Iris Becher) ins Spiel: Dem Nörgelpüppchen ist ähnlich langweilig. Das passt doch zusammen, man knutscht sich ab. Die abgebrühte Augenzwinker-Veranstaltung hat inzwischen etwas Fahrt aufgenommen, kleinere Ausbrüche sind zu verzeichnen, zurückhaltende Emotionen in der Stimme, ein klein bisschen Figurenpsychologie also.

Meister der Regie...rung

Jedoch nur solange, bis der Meister mal wieder vorbeischaut, um als Regisseur die "Regie... -rung" auf den Sohn zu übertragen. Alles wieder schön abkühlen, die Ironie noch einmal wie aus dem Icebucket über die Bühne ergossen: Für Büchner wird sich jedenfalls nicht interessiert. Aber wenn die ironische Behandlung eines Stoffes zu nichts Neuem führt, bleibt nur finale Nichtigkeit. Und problematisch wird es, wenn die Selbstdekonstruktion des Regisseurs nicht so recht zünden will. Dann mischt sich ein überheblicher Nachgeschmack hinein.

Leonce echauffierte sich zu Beginn des Stückes, dass die sich für produktiv haltende Menschheit doch auch alles nur aus Langeweile mache – Studieren, Beten, Heiraten, alles nur "raffinierter Müßiggang". Wengenroth hat erfolgreich den Beweis angetreten, dass man aus Langeweile auch Büchner aufführen kann. Und Theatermachen also durchaus dazu gehören kann, zum raffinierten Müßiggang.


Leonce und Lena
von Georg Büchner
Realisation: Patrick Wengenroth, Bühne: Mascha Mazur, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Musik: Matze Kloppe, Licht: Erich Schneider.
Mit: Iris Becher, Jule Böwe, Ulrich Hoppe, Patrick Wengenroth und Matze Kloppe (Musiker).
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schaubuehne.de


Wengenroth ohne kanonische Bühnenliteratur gibt's hier: Männerphantasien 2013 in Karlsruhe, Also sprach Zarathustra 2012 an der Berliner Schaubühne, Prinzessinnendramen 2011 in Braunschweig, Die letzten Tage der Menschheit 2010 am Berliner HAU und Was! Ist das episches Theater? 2010 an der Berliner Schaubühne – und drei Abende zur Frage Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken (Teil 2 und Teil 3) 2009 an der Berliner Schaubühne.

 

Kritikenrundschau

"Zynismus, Frühvergreisung, Depression, Nihilismus, Wohlstandsekel, Sexgeplänkel − darum geht es bei Büchners bösem Lustlosigkeitslustspiel, und all das findet sich auf den allerersten Blick in der Wengenroth'schen Inszenierung wieder", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (6.9.2014), "zu Humorzwecken auch auf der selbstreflexiven Ebene und angereichert mit Musik". Wengenroth illustriere, wovon die müde Rede ist. Seidlers Fazit: "Über diesen Abend trifft zu, was Wengenroth einmal im öffentlichrechtlichen Kulturfernsehen über eine Revue des Friedrichsstadtpalastes sagte: Sie habe, obwohl alles wie immer gewesen sei, nicht den richtigen Boing."

Patrick Wengenroth rühre sich aus dem Stück seinen eigenen Brei zurecht, "er benutzt und verdreht das Stück, verschnulzt es auch schon mal, und man weiß nicht einmal, ob er es überhaupt leiden kann", so Hans-Peter Göpfert im RBB Kulturradio (5.9.2014). Büchners vielfältiges Assoziationsgeflecht werden vom Regisseur mit eigenen Anspielungen angereichert, "leider bleiben diese oberflächlich". Und Büchners politische und soziale Kritik interessiere ihn vor lauter Witzelei keinen Pfifferling.

Wengenroth covere quasi Büchners Methode und rücke "Leonce und Lena" mit einem Zitatgut zu Leibe, das eher in den Assoziationsuntiefen unserer Tage fischt", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (8.9.2014). "Statt Tieck reüssiert also Heidi Klum, wenn Iris Becher als Lena ihre glitzeranzugsumspannten Hüften wie eine schulungsbedürftige Topmodel-Aspirantin übers Szenario schwingt." Die Diagnose, dass das von Büchner vorgeführte monarchische Ennui sich heute als Pop feiert, sei inhaltlich sicher seit längerem ebenso korrekt wie performativ eben entsprechend – langweilig, so Wahl. "Ein Dilemma, das Wengenroth freilich mit vielen Kollegen teilt, die Inhalte – mal mehr, mal weniger konsequent – in Form auflösen."

 

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