Autsch, Liebe

von Katrin Ullmann

Hamburg, 6. September 2014. Zunächst steht da nur einer inmitten der Dunkelheit. Ganz in schwarz und ganz allein. Am Bühnenrand. Einer mit seiner E-Gitarre. Zwei Akkorde sind es nur, die Anton Spielmann stetig wiederholt, zwei Akkorde, für eine Liebe, zwei Akkorde eines lonesome Cowboys. Einsam, traurig und allein.

Seine Schwermut ist authentisch: Schließlich liegt im Hintergrund seine große, aber nunmehr (schein-) tote Liebe Julia (Birte Schnöink), aufgebahrt auf einem schwarzen Konzertflügel. Und: Seine Schwermut ist ansteckend. Nach und nach treten immer mehr schwarz gekleidete Jungs an den Bühnenrand. Um den Hals eine Gitarre, im Herzen die Trauer. An die 20 Gitarristen. An die 20 wehmütige Jungs. Diese großartigen fünf Minuten sind nicht nur verzigfachtes Liebesleid, sondern möglicherweise auch ein ironischer Kommentar auf Indiepopstar-Pathos und postpubertäre Singer-Songwriter-Imagepflege.

Aus drei Ebenen konzipiert

Postpubertär muss eigentlich jede Romeo-und-Julia-Inszenierung sein. Das liegt an der Sache an sich: Teenagerliebe gerät an gesellschaftliche Grenzen, lebt den verbotenen Augenblick und stirbt schließlich den gemeinsamen Liebestod. Am Thalia Theater und zur Eröffnung der Spielzeit hat sich Jette Steckel der Shakespeare-Tragödie angenähert, in einer Neuübersetzung ihres Vaters, des Regisseurs Frank-Patrick Steckel. Sein Text ist recht rauh und roh, versucht Alltagsdeutsch und meidet Verse.

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Doch für Jette Steckel scheinen die Worte nicht allzu wichtig. Sie konzipiert die Tragödie aus dreierlei Komponenten: den Hauptdarstellern, dem Soundtrack und der körperlichen, physischen Präsenz. Möglichst gleichwertig sollten die Anteile sein, möglichst durchlässig. Auf der Bühne stellt sich das so dar: Für die titelgebenden Figuren hat sie mit Birte Schnöink (die aktuelle Boy-Gobert-Preisträgerin) und Mirco Kreibich zwei großartige Schauspieler, für die musikalische Ebene zwei großartige – und gerade recht angesagte – Musiker (Anja Plaschg von "Soap&Skin" und Anton Spielmann, den Frontmann von "1000 Robota") und auf der physischen Ebene eine Menge an männlichen und weiblichen Jugendlichen (insgesamt 40).

Dreieinhalb Stunden lang versucht Jette Steckel, diese drei Ebenen in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Oder auch mit ihnen ein besonders heterogenes und starken Temperaturschwankungen unterworfenes Wechselbad zu befüllen. Mal baut sie harte, gewaltvolle Szenen mit Romeo und seiner Gang (Julian Greis ist ein fantastischer, massiger und gefährlich erregbarer Mercutio!), mal verhakt sie sich in alberne Slapsticks, mal performt Anja Plaschg einfach einen großartigen, zutiefst melancholischen Song, mal kugelt Karin Neuhäuser als Amme mit ihrem Rumfläschchen über die Bühne, mal schreit Vater Capulet (Matthias Leja) seine Erziehungsversagensohnmacht in den Raum, mal tanzen 40 Jugendliche hoch energetisch auf der Capulet-Party (Choreografie: Dorothea Ratzel). Dazwischen: Familienhass, Liebestöne, Mondphilosophisches, Küsse, Morde, Verbannung und Gift.

Zuckelndes Kräfteverhältnis

Natürlich ist das Kräfteverhältnis dieser Melange mal mehr und mal weniger stabil. Und die diesem Konglomerat eigene Zentrifugalkraft würde das Ganze noch stärker nach außen drängen, wäre es nicht eingerahmt in ein so simples wie berauschendes Bühnenbild von Florian Lösche. Fünf Vorhanglagen Lichterketten bestimmen die bis auf Flügel, Schlagzeug und Gitarre ansonsten leere Bühne. Eine Watt-reiche Rauminstallation, die schichtweise hoch- und runterfährt, dadurch Tanzsäle öffnet, Vorräume und Gruften, Sternenhimmel oder auch ein Tränenmeer. Es zeigt zugleich Glamour und Club (das Hamburger "Golem" lässt grüßen), ist Konzertbühne und Kirche. Je nach Fokus sind die Schauspieler darin mal wortreiches Rezitativ, mal handlungstreibende Vormacht.

Vor allem im ersten Teil des Abends ruckelt es sehr zwischen den Welten, da wird Steckels ambitioniertes Konzept zum Stolperstein mit Atmosphärenbremse. Da wirkt die dröhnende Musik – bis auf eine vor Zauber und Pantomime an Kitsch grenzende, großartige Hochzeitsszene – noch wie ein Fremdkörper, und der Text ist nurmehr Mittel zum Zweck. Erst im letzten Drittel, wenn Verbannung und Tod vorherrschen, wenn sich elende Katerstimmung einstellt, geht die Rechnung besser auf. Mehr Leid verlangt und verträgt einfach mehr Musik: Love hurts.

 

Die Tragödie von Romeo und Julia
in einer Neuübersetzung von Frank-Patrick Steckel
Regie: Jette Steckel, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Pauline Hüners, Live-Musik: Anja Plaschg und Anton Spielmann, Choreografie: Dorothea Ratze, Dramaturgie: Carl Hegemann.
Mit: Stephan Bissmeier, Julian Greis, Pascal Houdus, Mirco Kreibich, Matthias Leja, Karin Neuhäuser, Sven Schelker, Birte Schnöink, Rafael Stachowiak, Oda Thormeyer, sowie 40 Jungen und Mädchen.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Jette Steckel habe "eine bewegende, präzise und sehr energiegeladene Komposition über Tod, Finsternis, Einsamkeit, Liebe, Passion und die Kraft der Destruktion" geschaffen, schreibt Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (8.9.2014). Auf ausführliches Einzellob für fast alle Schauspieler folgt das Fazit: "Jette Steckel hat einiges gewagt in ihrer Inszenierung. Es ist ziemlich gut aufgegangen, als ein Kunstwerk."

"Sehr spielerisch" findet Heide Soltau Steckels Inszenierung im NDR (8.9.2014) und mit fantastischen Bildern, die natürlich ein bisschen kitschig seien, die man aber trotzdem nicht vergessen könne. Die omnipräsente Musik schüre und verstärke die Emotionen – "Schade nur, dass der Text oft nicht zu verstehen ist." Dafür lasse die Inszenierung den Figuren Raum für Eigenarten. Birte Schnöink und Mirko Kreibich gäben ein hinreißendes Liebespaar. "Und wenn sie nach der heimlichen Trauung ihre Hochzeitsfeier pantomimisch durchspielen und plötzlich alle Sorgen vergessen, dann geht dem Zuschauer das Theaterherz auf."

"'Romeo und Julia' ist die Liebestragödie, klar, aber es ist auch ein Pubertätsdrama, das macht Jette Steckel in ihrer großartig popmusikverliebten und jugendseligen Inszenierung zum Saisonauftakt am Hamburger Thalia Theater deutlich", schreibt Anke Dürr auf Spiegel online (8.9.2014) und findet nicht nur die Titeldarsteller toll, sondern auch, dass "die vielen Elemente und Ebenen" der Inszenierung "erstaunlich gut ineinandergreifen".

"Wieder trifft die visuelle Magie von Lösche und Steckel mit minimalistischen Mitteln den Kern", lobt Rachelle Pouplier in der Welt (9.9.2014). "Steckel und ihre Darsteller erarbeiten sich den Stoff vor allem über Musik"; die Songs "schaffen es die Tragödie in einen melancholisch zeitgenössischen Kontext zu betten. Schmerz und Liebe der Figuren drücken sich der Performanz der Künstler auf natürliche Art und Weise aus." Gelegentlich wirke die Musik aber auch "fehlplatziert, klamaukig". Bei aller Brillanz der Protagonisten könne die Inszenierung ihre anfängliche "Wucht" nicht aufrechterhalten.

Die Inszenierung beweist Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (10.9.2014), dass der "Pop-Stil gerade ein Comeback" feiert, und zwar "mit dem alten Auftrag des Pop: gut zu unterhalten". Der Abend sei zur Hälfte Konzert und "computergesteuertes Riesenspektakel"; die Figuren "changierende Phänomene verschiedener Pop-Mythen" (mit Anleihen bei Björk oder auch den "Sopranos"). Fazit: "Die Rückkehr der Neunziger verwandelt den Pop-Diskurs in Popcorn-Theater, und Steckels Inszenierung ist ein gelungenes Beispiel dafür, dass das gekonnte Spiel mit Codes und Emotionen in einer langeweilefreien Version wie dieser einfach auch mal ohne Anspruch schön sein kann."

Im Deutschlandfunk in der Sendung Kultur Heute (8.9.2014) sagt Michael Laages, dass den beiden beiteiligten Musikern vor allem eines gelinge: "Die vollkommene Zerstörung von Dramaturgie und Dynamik jenes Theatertextes, der früher mal im Zentrum stand bei Aufführungen dieses Stückes." Auch der "zweite Rattenfänger-Trick der Inszenierung" (die 40 Statisten) funktioniere nicht: "Massen-Choreographie, sonst nix." "Nichts von Belang" habe die Regisseurin zum Drama-Stoff beizutragen, "höchstens das übliche"." Effekte, Effekte – und kein Gedanke, keine Idee." Die dreieinhalb Stunden der Aufführung wirkten doppelt so lang.

Kommentare  
Romeo und Julia, Hamburg: Mirco Kreibich-Fan
welch ein erlebnis. wer einmal mirco kreibich (in welcher rolle auch immer) erlebt, genossen hat, erleben und geniessen durfte, wie dieser junge schlaks mit seiner sprache, mit seiner stimme, mit seiner körperlichkeit, mit seiner präsenz ganz in einen hineinkriecht.. wer erleben durfte, wie er als don carlos liebte (mutter und freund), der wird begeistert sein, dass er jetzt als romeo wieder liebt.. ein unbeschreibliches und ich glaube immer noch kaum darstellbares gefühl auf der bühne, weil immer wissend, dass gespielt, nur wenige in der lage sind, dieses gefühl auszudrücken und einem glaubhaft vermitteln, so dass es berührt. Ich danke ihm, dem ganzen ensemble, der phantastischen klangcollage zweier großartiger musiker, dem schönen, weil einfachen und dennoch beeindruckendem bühnenbild und einem autoren, den vor so vielen hundert jahren solche rollen einfielen. ich bin immer noch ganz weit weg.. vielen dank dafür.
Romeo und Julia, Hamburg: superschöne Kritik
Superschöne Kritik. Danke!
Romeo und Julia, Hamburg: erst fesselnd, dann quälend
Klasse: Die Inszenierung zieht die vielen Schüler*innen im Theater in ihren Bann; alle halten bis zum Schluss konzentriert aus. Das muss man erst einmal schaffen!
Der erste Teil hat mich mit gelungenen Bildern gefesselt und selten gelangweilt. Der zweite Teil ist dann nur noch quälend. Wenn echtes Gefühl einsetzen könnte, sich Entsetzen breitmachen könnte, ja müsste, plärren triviale Song mit (in Reihe 5 unverständlichen) Texten jede Atmosphäre zu. Statt der Kunst der Darsteller*innen zu vertrauen, nur Hörmüll. Warum Julia gegen den letzten Tropfen aus Romeos Giftampulle immun ist, die sie doch bis zur Neige und sehr offensichtlich einsaugt, bleibt mir verborgen. Dem ausgelassenen Jubel konnte ich mich nicht anschließen.
Romeo und Julia, Hamburg: nah dran
Als große Indiepop-Oper inszenierte Jette Steckel den Shakespeare-Klassiker zum Spielzeit-Auftakt des Thalia Theaters 2014.

Die TV-Aufzeichnung, die 3sat schon kurz nach der Premiere realisierte, obwohl der Abend nie zum Theatertreffen eingeladen war, zeigt, was ein Stream im besten Falle leisten kann. In Großaufnahme fängt die Kamera die Verzweiflung und die Liebes-Sehnsucht in den Gesichtern der beiden Hauptdarsteller*innen Birte Schnöink und Mirco Kreibich ein. Wie viel kommt davon noch in Reihe 10 oder 15 des Parketts oder gar erst im Rang bei einer „normalen“ Live-Theater-Aufführung am Alstertor an?

Das Besondere an dieser Inszenierung sind die Verspieltheit und Opulenz, mit der Steckel das schon oft gesehene, bekannteste Liebesdrama der Weltliteratur so umsetzt, dass auch drei Stunden nicht langweilig werden.

Beide Hauptrollen werden vervielfacht: Für die erste Dopplung sorgen die Live-Musiker*innen Anja Plaschg (Soap&Skin) und
Anton Spielmann (1000 Robota) komponierten. In entscheidenden Momenten der Inszenierung werden sie zu einer zweiten Julia und einem zweiten Romeo. Sie umkreisen die Hauptdarstellerinnen, greifen ihre Sätze, Gedanken und Gefühle auf und übersetzen sie in melancholische Pop-Songs. Mal sind Schauspieler*innen und Musiker*innen-Alter ego gemeinsam auf die Bühne, oft steht aber in dieser hochmusikalischen Inszenierung das Musiker*in-Double allein im Zentrum der Bühne.

Für eine weitere Vervielfachung sorgen die je 20 Romeos und Julia, Hamburger Teenager*innen, die in geisterhaften Choreographien von Dorothea Ratzel über die Bühne von Florian Lösche kreisen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/04/12/die-tragodie-von-romeo-und-julia-jette-steckel-thalia-theater-kritik/
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