Geisterbilder aus dem Internet

von Friederike Felbeck

Dortmund, 12. September 2014." Es ist ein Kreuz mit den Bits and Bytes: Stunde um Stunde verdaddelt man mit neuen Betriebssystemen, Software-Updates, vertrackten Spielen, unfertigen Avataren oder wartet einfach nur auf eine Antwort (texting anxiety), bis die Wanne übergelaufen ist! Der Aufmerksamkeit entgeht das Wesentliche, das, was es rechtzeitig abzustellen oder zu kanalisieren gilt, denn der Pixel-Rausch und die Zeitfressmaschine Virtualität haben ihre Klauen nach dem echten Leben ihres Warmblüter-Users ausgestreckt und ihn in die kalten Logarithmen einer cloud entführt.

"Mehr Inhalt, weniger Kunst" schreiben die Zuschauer am Ende per SMS an Wum und Wendelin, die auf der Bühne stehen und politisches Theater ankündigen. Dabei ist die Vorstellung, rein rechnerisch, schon zu Ende. Postum wird gerade von zwei verkleideten Schauspielern die "Mausefalle" gegeben, jenes Stück im Stück also, das Held Hamlet seiner ehebrecherischen Mutter und seinem mörderischen Stiefvater vorspielen lässt, um sie zur Preisgabe ihrer wahren Motive und Gefühle zu bewegen.

Technik wie im Überwachungsstaat

Kay Voges, Regisseur des Abends und Schauspieldirektor des Theater Dortmund, setzt mit der Inszenierung des "Hamlet" seine Experimente mit Videoprojektionen, Live-Cam und der Kooperation mit Programmierern fort. Nach etwa Nachrichten an das All und Psychose 4.48 von Sarah Kane, in dem die Bio-Daten der Protagonisten live abgehorcht und visualisiert wurden, wird seine Inszenierung von Shakespeares "Hamlet" nun aus einem flach ausgeleuchteten Operettenstaatfilmset bis auf wenige Ausnahmen für das Publikum live auf eine riesige Leinwand übertragen und mit zahlreichen visual effects und Fremdtexten aufgepeppt. Der Videokünstler Daniel Hengst, seit der Spielzeit 2010/2011 regelmäßig an Projekten am Theater Dortmund beteiligt, schafft zahlreiche beeindruckende visuelle und akustische Momente, die vergessene Bilder aus den Tiefen unseres kollektiven Datenspeichers nach vorne holen.

hamlet2 560 ediszekely uBühnenscreenshot mit Polonius (Michael Witte) am OP-Tisch © Edi Szekely

Shakespeares Story gibt das her: Dänemark ist ein Überwachungsstaat, Hamlet einer jener verzogenen und mit System infantil gehaltenen Erben, deren Störenfried-Potenzial mit Brot und Spielen in Schach gehalten wird. Eva Verena Müller spielt Hamlet mit kurz geschnittener platinblonder Perücke, Batman-Gürtel und schwarzem Umhang, der unter lebensgroßen Teddybären lebt. Eine große Hornbrille markiert die Ähnlichkeit mit dem Vater, an dessen Sarg sie bitterlich schluchzt.

Telenovela-Reich

Aber die Besetzung ist mehr zufällig denn notwendig. Lediglich, wenn Hamlet Ophelias Liebe zurückweist und die beiden Frauen offensichtlich nicht zueinander können (aber wollen), gewinnt die "Verbotene Liebe" ein wenig an Fahrt.

hamlet 280h ediszekely uHamlet und Ophelia © Edi SzekelyDenn nach einem vielversprechenden Quereinstieg in den 5. Akt zu Ophelias Tod und Yoricks Grab zu Beginn des Abends, die Hengst und Voges mit schwirrenden Geisterbildern aus den Tiefen des World Wide Webs illustrieren, schwenkt die Inszenierung in eine trashig-parodistische Telenovela um: Die Schauspieler agieren in einem für die Zuschauer unsichtbaren verschachtelten Raum aus dänischem Oval Office, Kinderzimmer und Wintergarten und werden auf der Leinwand assoziativ nebeneinander gestellt und schlagwortartig, teilweise mit der Nummerierung der Szenen, serviert.

Wenn Hamlet Ophelia auf Herz und Nieren prüft, schließt er sie in seinem "Friedhof der Kuscheltiere"-Ersatzreich an einen selbstgebastelten Lügendetektor an, um sie nach jeder (falschen) Antwort mit einem Plastikgewehr zu erschießen. Polonius ist ein Chirurg, der auch die eigene Tochter auf den OP-Tisch legt, und seine beiden Kinder mit Verhaltensmaßregeln für den öffentlichen Raum in der Diktatur versorgt. Wenn Hamlet und Ophelia ein Stelldichein haben, sehen Claudius und Polonius natürlich auf dem Bildschirm zu.

Feedback digital

Daneben pumpen Videoclips von öffentlichem Protest und von den Herrschern, gegen die protestiert wird, die Matrix der Inszenierung auf, ohne dass sich die beiden Ebenen jemals verzahnen. Dem Grundsatz der Unsichtbarkeit der Schauspieler bleibt Voges bis zuletzt treu: das Feedback können die Zuschauer per SMS und Twitter live aus dem Zuschauerraum verschicken, um es dann gepaart mit Bildern von sich selbst auf der Leinwand zu sehen.

Dieser überraschende Epilog bleibt der radikalste Ansatz des Abends. Neben dem Winken in die Kamera von Zuschauern, die den Saal verlassen, Taxibestellungen und Daumen hoch, Daumen runter-Nachrichten ist das etwas konsequent Neues: Indem sie auf die twitternden Zuschauer auf der Leinwand deuten, fordern sie ihnen durch die konsequente Verweigerung einer Applausordnung weitere Kommentare ab. Es wird sicher spannend, diese in den nächsten Vorstellungen jenseits der Premiere zu verfolgen.

Derweil sich Laertes und Hamlet "Drück auf Pause!" – "Drück auf Blut!" an die Köpfe werfen und sich mit Maschinengewehr und Walther PP duellieren. Voges' Inszenierung ist ein bisschen weniger als ein gelungenes Experiment. "Hamlet" ist am Ende nur das Storyboard für eine opulente Technik-Show.

Hamlet
nach William Shakespeare, Übersetzung von Reinhard Palm
Regie: Kay Voges, Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert, Kamera-Konzept/Video-Art/ Programming/Live-Schnitt: Daniel Hengst, Video-Art/Programming/Additional Video-Sounddesign: Lars Ulrich, Musik: Paul Wallfisch, Licht: Sibylle Stuck, Ton: Chris Sauer, Andreas Sülberg, Live-Kamera: Jan Voges, Robin Otterbein, Dramaturgie: Anne-Kathrin Schulz.
Mit: Eva Verena Müller, Sebastian Kuschmann, Carlos Lobo, Friederike Tiefenbacher, Michael Witte, Christoph Jöde, Bettina Lieder, Frank Gesner, Uwe Schmieder.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theaterdo.de

 


Kritikenrundschau

Als "verhinderter Snowden des Mittelalters" in einem Dänemark als "Überwachungsstaat" erscheine dieser Hamlet, berichtet eine angetane Dorothea Marcus im Gespräch für die Sendung "Kultur des Sonntag" auf WDR 3 (14.9.2014, hier im Podcast). Das Verbergen der Akteure vor dem Blick der Zuschauer, die ungeheure, von der Rezensentin auch kritisch gesehene, "Technikshow" mache im Ganzen "Sinn". Der Abend sei eine "philosophische Bestandsaufnahme, in welcher Lage man sich als Mensch heute befindet", mit einer (wiewohl durch den ganzen Technikaufwand gebrochen inszenierten) Tendenz: "Wir sind auf einem Zustand der Verdummung gehalten. (...) Am besten Handy und Computer aus und analog werden."

Kay Voges' "Hamlet"-Inszenierung sei "keine Offenbarung", meint Arnold Hohmann auf dem WAZ-Portal Der Westen (15.9.2014). "Reichlich freie Assoziationen und der üppige Umgang mit neuen Medien lassen die Schauspieler weit von uns wegrücken." Und das "nahezu gänzliche Verschwinden des Schauspielers aus der Bühnengegenwart", ertrage das Theater auf Dauer nicht sehr gut. "Voges und Hengst, man kennt das schon aus glücklicheren Produktionen, übertragen ihren Umgang mit dem Dänenprinzen nahezu vollständig via Live-Cam auf Leinwand, wie Nachrichten aus einem fernen Land hinter der Bühne. Das schafft zwar Möglichkeiten, zwischendurch mit Bilderfluten von Volksaufständen und Tyrannen aufzuwarten, verhindert in diesem Fall aber jede Form emotionaler Berührung, ohne dies durch spürbaren Erkenntnisgewinn wettzumachen."

Ralf Stiftel empfindet die Aufführung im Westfälischen Anzeiger (14.9.2014) als "streckenweise fragwürdig", sie finde "aber auch großartige Bilder". Voges unterlege der Tragödie "eine zweite Spielebene, die über weite Strecken schlüssig funktioniert. Dänemark wird zum Symbol mal für die USA, mal für Deutschland" mit Laertes als Whistleblower. Das Technik-Team entfessele "einen Bilderrausch", teile "die Leinwand in manchmal hunderte Felder, die durcheinanderwirbeln." Allerdings habe "diese Verdichtung ihren Preis. Voges fragmentiert das Stück in Schlüsselstellen", man "sollte die Tragödie schon kennen, sonst verliert man sich", und nicht zuletzt der Titelheld verliere "viel in diesem Konzept: Eva Verena Müller spielt keinen Intellektuellen, keinen tragisch zaudernden Rebellen, sondern einen überforderten Jugendlichen".

Bei Voges werde "Hamlet" "zum Diskurs-Theater in Sachen Vernetzung, Kontrolle, Computerstaat", schreibt Kai-Uwe Brinkmann in den Ruhr-Nachrichten (15.9.2014). "Dauerflimmern und Splitscreen-Bildersalat machen 80 Prozent der Handlung aus", was Brinkmann für "zu viel, zu schnell, zu hektisch, absichtlich überdosiert" hält. Es sei eine "Inszenierung, die das Publikum mehr weichklopft als wach rüttelt und im Überschwang ihrer Mittel drauf und dran ist, ihr Anliegen zu pulverisieren."

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