Hausen – Haunted-House-Serie mit Castorf-Cast passend zu Halloween auf Sky
Kein Anschluss unter diesem Kummer
von Sophie Diesselhorst
28. Oktober 2020. Einen besseren Erscheinungstermin als Halloween im pandemischen Herbst 2020 hätte sich "Hausen" (gedreht "vor Corona" im Sommer 2019) nicht aussuchen können: Porträtiert die achtteilige Serie über ein Hochhaus, das seine Bewohner*innen in sich festhält, doch einerseits das Leben in einer extremen Form von Lockdown; andererseits verbreitet dieses "Haunted House" eine derart gruselige Atmosphäre, dass einem das eigene Zuhause-Bleiben schaurig gemütlich wird.
Nicht hier um zu kritisieren. Theater bis der Vorhang fällt – Lucas Thiems Dokumentarfilm über das Landestheater Neustrelitz
"Nur spielen reicht nicht mehr"
von Georg Kasch
6. Juni 2019. Urlaub, Seenplatte, Herzogtum: Wer an die kleine Stadt Neustrelitz im östlichen Mecklenburg denkt, hat selten zuerst das Theater auf dem Schirm. Dabei wird dort seit knapp 250 Jahren gespielt. Im Landestheater – außen 20er-Jahre-Klassizismus, innen Charme der frühen DDR – residiert ein Mehrspartenhaus mit Oper, Schauspiel, Ballett, Orchester und Bürgerbühnenformaten. Deutsche UNESCO-Stadttheaterlandschaft in der Nussschale. Und wie an vielen größeren Häusern zeigt sich auch hier der tägliche, unterfinanzierte Kampf um die kulturelle Vielfalt, um das Publikum, aber auch um Details wie Saumfassungen und Akzente im Klavierauszug.
Macht das alles einen Sinn? Und wenn ja: Warum dauert es so lange? – Andreas Wilckes Backstage-Film über die letzte Volksbühnen-Saison unter Frank Castorf
Trommelfeuer der Erinnerung
von Christian Rakow
Berlin, 15. Mai 2019. An einschlägigen Berliner Orten wie dem Alexanderplatz oder dem Checkpoint Charlie stößt man auf wackere Händler, die mit Souvenirs einer versunkenen Epoche ihren Unterhalt verdienen. DDR-KFZ-Kennzeichen finden sich dort auf den Tischen, Matrjoschkas, Fähnchen und natürlich zuhauf Militärkram, Abzeichen, Offiziersmützen, Gasmasken. Als Objekte einer Erinnerungskultur haben sie längst ausgedient. Ihren zweifelhaften Wert beziehen sie aus der maximalen Distanz zum Herkunftskontext. Wer hier kauft, muss über die NVA oder die Rote Armee so wenig wissen wie über Trabis oder Demonstrationen am 1. Mai mit Arbeiterfähnchen. Die jeglicher Signifikanz beraubten Gegenstände funktionieren allenfalls noch als blasse Marker einer exotischen Andersheit. Eine eigene Sprache haben sie nicht mehr.
3000 Euro – Thomas Melles zweiter Roman zu Wohlstandsverwahrlosung und Selbstverwirklichungslügen
Porno fürs Konto
von Eva Biringer
30. September 2014. Geld oder Liebe, kann es so einfach sein? Es kann. Thomas Melle, Schriftsteller, Dramatiker, Gegenwartsanalyst, weiß um die Verlogenheit unserer hehren Ideale. 2011 war sein erster Roman "Sickster" für den Deutschen Buchpreis nominiert, der Nachfolger "3000 Euro" steht erneut auf der Shortlist. Geliebt wird der Autor für seine rohe Sprache und seinen in-your-face-Humor, der in besonders sozialdystopischen Momenten an den norwegischen Berufszyniker Matias Faldbakken erinnert.
UnRuhezeiten – Eike Weinreich hat einen zärtlichen Abgesang aufs (Stadt-)Theater gedreht
Etwas Besseres als den Theatertod finden wir überall
von Esther Slevogt
24. April 2019. So was nennt man wahrscheinlich Künstlerpech. Gerade erst wurde der Lebkuchenmann auf der Probe des Weihnachtsmärchens am Seil in die Höhe gezogen, da mahnt ein Techniker auch schon die gewerkschaftlich verordnete Ruhezeit an. Der Regisseur will weiterprobieren. Wenigstens diese Szene noch. Schließlich ist das hier ja kein Amt, sondern ein Theater. Aber er kann sich nicht durchsetzen. Die Bühne leert sich. Bloß der Lebkuchenmann zappelt noch in der Luft. Keiner fühlt sich zuständig, den Ärmsten aus seiner misslichen Lage zu befreien. Ruhezeit eben.
Moskauer Prozesse – Milo Rau verfilmt seinen Moskauer Theaterprozess
Demokratiemangel vorrechnen
von Dirk Pilz
20. März 2014. Die Moskauer Prozesse von Milo Rau bleiben ein ungemein cleveres, streitbares Kunststück. Theater, das zu einer Form von politischer Installationskunst findet, mit der die Bühne keine moralische, sondern eine im besten Sinne intellektuelle Anstalt wird, weil sie die Teilnehmer wie die Zuschauer als Selbstdenker ernst nimmt, nicht zu bloßen Botschaftsempfängern erniedrigt, nicht zu Schulbankhockern macht.
Brecht – Heinrich Breloer verfilmt Leben und Arbeiten Bertolt Brechts in zwei Teilen für die ARD
Soll man ihn freisprechen?
von Gabi Hift
Berlin, 10. Februar 2019."Reptil!", "Hersteller künstlicher, eitler und unnützer Bücher!" – so und noch ärger hat Bertolt Brecht über Thomas Mann gelästert. Vor 15 Jahren stand dieses Reptil im Zentrum eines Dreiteilers "Die Manns – Ein Jahrhundertroman", der so erfolgreich war, dass die Familie Mann seitdem als so etwas wie die deutsche Königsfamilie gilt. Und nun hat sich der Schöpfer dieses Dokudramas, Heinrich Breloer, für sein neues Projekt ausgerechnet den ausgesucht, der seinen ersten Helden so gehasst hat.
Im August in Osage County – John Wells' Verfilmung gibt Tracy Letts' Erfolgsdrama "Eine Familie" die Landschaft zurück
Königinnen in Oklahoma
von Georg Kasch
6. März 2014. Es ist die Landschaft, die verblüfft. Wenn man schon einige Versionen von Tracy Letts' Stück "August: Osage County" auf der Bühne gesehen hat, fällt diese Weite besonders auf, die sich im Osage County in Oklahoma öffnet: endlose Horizonte, garniert mit Hügel, Vieh und Strohballen, darüber ein Himmel, der alle Farben kennt. Ziemlich winzig wirkt da der Mensch, und einmal, zu Beginn, sagt Barbara sinngemäß: Für dieses elende Land haben wir all die Indianer abgemurkst?
Leto – Der inhaftierte Regisseur Kirill Serebrennikow feiert in seiner filmischen Hommage an die legendäre russische Band "Kino" die Freiheit der Kunst
Der Sommer kurz vor dem Kometeneinschlag
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 6. November 2018. Der Regisseur Kirill Serebrennikow steht in Moskau vor Gericht, er soll als künstlerischer Leiter des Moskauer Gogol Center Geld veruntreut haben. Stichhaltige Beweise liegen nicht vor, die jetzt angelaufene Gerichtsverhandlung wurde lange hinausgezögert. Es riecht nach Schauprozess, und Serebrennikow ist längst zu einer Symbolfigur geworden. Der Hashtag #FreeKirill kursiert – zumindest im Westen, wo natürlich auch gerne Unfreiheit und Schurkentum auf Russland projiziert werden.
Der Glanz des Tages – Philipp Hochmair spielt Philipp Hochmair in dem Film von Tizza Covi und Rainer Frimmel
Worte gegen Forellen
von Martin Pesl
September 2013. "Ah, ein Theaterspieler", sagt der ältere Herr zu seinem Neffen, den er gerade erst kennen gelernt hat und in dessen Leben er eintreten möchte. Walter, der noch nie im Theater war, geschweige denn im deutschen – arbeitete er doch als Zirkusartist in Italien –, trifft ausgerechnet auf die Vollblutrampensau, den Figurenpsychologieverweigerer und Textedekonstrukteur Philipp Hochmair. Theaterkenner wissen, wer das ist: Der gebürtige Wiener prägte in Nicolas Stemanns Burg-Jahren dessen Jelinek-Inszenierungen und wechselte 2009 ans Thalia Theater Hamburg.
Mackie Messer. Brechts Dreigroschenfilm – Nicht immer hat der größte Fan das beste Händchen
Einmal in dem tristen Leben einem Mann mich hinzugeben
von Gabi Hift
11. September 2018. "Siehst du den Mond über Soho?"– "Ich seh ihn, Lieber". – Keinen Pappmond, der von oben herunterfährt, sondern einen, der über dem Wasser aufsteigt, denn wir sind nicht im Theater sondern im Kino. Die Liebesleute, Mackie Messer und seine minderjährige Braut Polly, fahren Boot. Von einer Brücke schaut Brecht, gespielt von Lars Eidinger, auf seine Geschöpfe hinunter und erklärt seinem Begleiter, dem Filmproduzenten Nebenzahl, wie er sich die Szene vorstellt: "Am Ruder: sie", sagt er, und: "Ein oder zwei Monde genügen." Sofort geht pflichtschuldig ein zweiter Mond auf – da ist also hinter der Kamera jemand am Werk, dem dran liegt, Brechts Phantasien akkurat umzusetzen. Man kann ja dran zweifeln, ob Brecht das mit den zwei Monden so wortwörtlich gemeint hat, aber als gleich drauf eine Balletttruppe in weißen Gewändern auf dem Gehweg auftaucht und eine schreckliche Verliebt-im-Mondlicht-Choreographie aufs Pflaster zuckert, gibts nichts mehr zu zweifeln: das kann Brecht nie und nimmer gewollt haben!
Lontano. Die Schaubühne von Peter Stein – Der Dokumentarfilm von Andreas Lewin schaut Peter Stein beim Zurückschauen zu
Tränen in den Augen
von Nikolaus Merck
Berlin, 8. September 2013. "Lontano. Die Schaubühne von Peter Stein" heißt ein 90-Minuten-Film des Dokumentarfilmers Andreas Lewin, der schon die Schauspieler Klaus Kammer und Thomas Holtzmann sowie den Regisseur Fritz Kortner filmisch portraitiert hat. "Lontano" ist italienisch und heißt "fern", als musikalischer terminus technicus bezeichnet es die Musik, die von hinter der Bühne kommt.
Zwei Herren im Anzug – Josef Bierbichler verfilmt seinen Roman "Mittelreich"
Ich hasse diesen Heimatkram
von Elena Philipp
Berlin, 22. März 2018. Vater und Sohn im düsteren Wirtshaussaal. Die Mutter ist gestorben, letzte Gäste kehren dem Leichenschmaus den Rücken. Neben Tortenresten und einem Haufen Fotos sitzen der Seewirt Pankraz und sein Erbe Semi, trinken, rauchen – und steigen hinab in den Schacht der Erinnerung. Auf seinem Grund: alte Schuld.
Gold – Thomas Arslan schickt deutsche Theaterschauspieler in die nordamerikanische Wildnis
Begrabt mich, wo ich scheiterte
von Elena Philipp
Berlin, 13. August 2013. Sieben sind's, die sich Glück und Gold entgegen mühen. Ein Häuflein deutscher Auswanderer in den Weiten des kanadischen Nordens. Zusammengeführt hat sie eine Anzeige: Gegen Bares bietet der Geschäftsmann Wilhelm Laser den Deal, sie vom nördlichsten Bahnhof Kanadas auf der Landroute an den Klondike River zu führen. Dorthin, wo das Goldfieber grassiert. Eine Strapaze, die nur eine Einzige von ihnen durchstehen wird: Emily Meyer, zäh und stoisch, schweigsam, aber handfest.
Partisan – Die Dokumentation von Lutz Pehnert, Matthias Ehlert und Adama Ulrich ist ein Erinnerungsfest für wehmütige Frank-Castorf-Volksbühnenliebhaber
In der Badewanne
von Michael Stadler
Berlin, 22. Februar 2018. Es ist eine prächtige Weltpremiere im ost-prächtigen Berliner Kino International. Gezeigt wird "Partisan", ein Dokumentarfilm über die Frank-Castorf-Ära an der Volksbühne. Einige Weggefährten schauen mit, darunter Herbert Fritsch, Alexander Scheer, Henry Hübchen. Einer ist nicht da, der Chef selbst. Castorf war ja oft nicht bei seinen Theaterpremieren anwesend, kam erst zum Schlussapplaus. Das übliche Duckmäusertum, scherzt Henry Hübchen, und erzählt nach dem Film dem Publikum, wie er an einem Premierentag um 17 Uhr im größten innerlichen Stress mit seinem Regisseur Castorf telefoniert habe. Der lag in irgendeiner Badewanne.
George – Götz George spielt in der ARD den eigenen Vater
Mozärtlicher Elefant und Sohn
von Esther Slevogt
Berlin, 23. Juli 2013. Das zumindest hat dieser Film geschafft, einen vergessenen Großschauspieler noch mal auf die Bühne der Gegenwart zu holen: Heinrich George, Theater- und Filmstar der 1920er bis 1940er Jahre, dessen animalische Wucht auch nach über sieben Jahrzehnten noch regelrecht aus dem dokumentarischen Material hervorwuchert, das Joachim A. Lang in sein Fernseh-Doku-Drama "George" montiert hat.
Kongo Tribunal – Milo Raus Dokumentarfilm über seinen fiktiven Gerichtshof in Bukavu und Berlin zur Untersuchung von Verbrechen im Ostkongo
Gerichtstag über die Ausbeuter der Erde
von Sophie Diesselhorst
14. November 2017. Mit wehendem Haar sitzt Milo Rau auf einem Auto, das über die Schotterpisten der ostkongolesischen Provinz Süd-Kivu holpert – da, wo der Erdboden am reichsten ist, und die Menschen am ärmsten. Schnitt. Wir sehen jubelnde Menschen, die sich in einem Dorf vor ihren Häusern versammelt haben und ihre hoffnungsbrennenden Gesichter dorthin zu richten scheinen, wo eben noch Milo Rau saß. Einen kleinen Moment lang wird dieses Missverständnis in der Luft hängen gelassen und dann aufgelöst – es ist nicht Rau, den sie feiern, sondern der oppositionelle Präsidentschaftskandidat Vital Kamerhe, mit dem zusammen Rau unterwegs ist und der in der nächsten Szene eine Ansprache hält, in der er um Unterstützung für Raus "Kongo Tribunal" wirbt.
Caesar muss sterben – Ein Film im Theater im Gefängnis
Lebenslänglich für Cassius
von Sophie Diesselhorst
3. Januar 2013. "Jetzt ist aber Schluss", sagt der eine Wärter zum anderen. "Jetzt müssen sie wieder rein." Die beiden stehen in einer Galerie und schauen hinunter auf einen der Höfe im Gefängnis Rebibbia (bei Rom). Dort unten schüttelt Antonius gerade die blutigen Hände der Verschwörer um Brutus und bittet darum, Julius Caesars Leiche aufs Forum bringen zu dürfen. "Lass sie doch die Szene noch zu Ende spielen", sagt der angesprochene Wärter. Während Antonius also, nun alleine mit Caesars Leichnam, einen Racheplan ausheckt, kommt oben noch ein dritter Wärter hinzu, der die anderen beiden darauf aufmerksam macht, dass "sie" jetzt wieder reinmüssen. Auch er lässt sich dann aber vom Spiel im Hof faszinieren, es folgt oben auf der Galerie noch eine kleine Diskussion darüber, ob Antonius ein sympathischer Charakter ist ("Ja, er ist doch kulant") oder nicht ("Er ist ein Hurensohn!").
Spielweisen – Auf einer DVD-Edition befragt die Berliner Akademie der Künste neun Schauspieler, was sie auf der Bühne tun
Was in uns lügt, mordet, stiehlt
von Nikolaus Merck
Berlin, Oktober 2014. Was heißt das: Schauspielen? Was treibt einen auf die Bühne? Welcher Preis ist dafür zu bezahlen? Welche Wirklichkeit teilt man mit Zuschauern und Kollegen? So lauten einige der Fragen, die der Schauspieler und Sektionschef der Darstellenden Kunst in der Akademie der Künste Ulrich Matthes sich selbst und neun Kolleginnen* (vier Männer und fünf Frauen) hat vorlegen lassen. Zehn halbstündige Interviews vor leeren Zuschauerräumen versammelt die Doppel-DVD "Spielweisen", die die Akademie im Rahmen ihres Großprojektes Schwindel der Wirklichkeit herausgegeben hat.
Alexander Granach – Angelika Wittlichs Porträt des Schauspielstars der Weimarer Republik
Überwirkliche Wirklichkeit
von Georg Kasch
Berlin, 4. Dezember 2012. Es ist nur ein Gesicht, schwarz und weiß fotografiert, das vor nachtfinsterem Grund pulsiert zwischen Klarheit und Unschärfe: Mal glaubt man, deutlich die dunkel glänzenden Augen zu erkennen unterm vollen, dunklen Haar und den sinnlichen Mund, dann wieder verschwimmen die Konturen. Ein treffendes Bild, das die Macher des Dokumentarfilms "Alexander Granach – Da geht ein Mensch" im Abspann gefunden haben für das Bemühen, eine Person lebendig werden zu lassen, die seit über 65 Jahren nicht mehr lebt. Zumal einen Schauspieler, von dem – immerhin! – ein paar Kinofilme existieren (darunter legendäre wie Murnaus "Nosferatu" und Lubitschs "Ninotschka") und wenige Tonaufnahmen, Fotos natürlich und Briefe.