Auf der Lebenslaufbahn

Elfriede Jelinek: Angabe der Person, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Jossi Wieler)

Von Sascha Krieger

Zu Beginn des Abends knallt Linn Reusse einen Ordner auf die Bühne. Die „Lebenslaufbahn“ der Autorin beinhalte er, hören wir. Und weil wir ja in Deutschland sind, ist diese natürlich in erster Linie eine Steuerakte. „Alles, was hier steht, kann auch umfallen“, sagt sie und diesem Um-, In- und Durcheinander-, Zusammen-, Auseinanderfallen eines, vieler Leben dürfen wir in den folgenden zweieinhalb pausenlosen Stunden beiwohnen. In ihren Text startet Elfriede Jelinek bei einer Hausdurchsuchung. Deutsche Steuerbehöreden waren der meinung, die Österreich schulde auch dem deutschen Staat Geld und nahmen mit, was sier kriegenen konnten, auch und gerade Jelineks „Schrifterln“, ihr Leben, ihr Überleben. Und da wir bei der Assoziationskünstlerin überhaupt sind, bleiben wir nichtlange bei den fleißig pflichtbewussten Steuereintreibenden, sondern landen in Jelineks Familiengeschichte, beim jüdischen Vater und seiner Verwandtschaft, bei den Versteuten, auf Friedhöfen oder im nirgendwo, den Verlorenen, Vergessenen, dem Cousin Walter, der gerade noch so floh, nein, flog, dem Onkel Adalbert, der das Überleben nicht lange überlebte. Und beim fleißigen deutschen Staat, der gern zurückgab, den Familien der Täter, versteht sich, bei denen der Opfer war es etwas komplizierter.

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Bild: Arno Declair

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Bilder von ihnen

Nach Jean-Luc Lagarce: Einfach das Ende der Welt, Schauspielhaus Zürich / Deutsches Theater, Berlin (Regie: Christopher Rüping)

Von Sascha Krieger

Jetzt ist die Welt wieder da, der Raum ist voll mit Zuschauern, alles wie gehabt. Als Christopher Rüpings Bearbeitung von Jen-Luc Lagarces Roman in Zürich Premiere feierte, war alles anders: Maximal 50 Zuschauer*innen verloren sich Corona-bedingt im riesigen Schiffbau, das Theatertreffen-Gastspiel 2021 fand als Livestream statt, Rüping entwickelte zwei Fassungen – eine für die Bühne, eine für den Bildschirm. Die Distanz, in der es um den Text ging, war allgegenwärtig, erfüllte die Theatersituation, Zuschauen und Spiel wurden eins, die Unmöglichkeit der Nähe, von der die Inszenierung sprach, Teil ihrer Rezeption. Jetzt, da alles wieder „normal“ ist und der Abend umzog in den intimeren Raum des Deutschen Theaters, wie wirkt dieses zweieinhalbstündige Sich-Abarbeiten an der Verunmöglichung von Nähe heute? Anders, ohne Zweifel. Und das wissen Rüping und sein Ensemble. Hauptdarsteller Benjamin Lillie, dessen gleichnamige Figur nach zwölf Jahren nach Hause kommt, um der Familie von seinem baldigen Tod zu berichten, und es doch nicht schafft anzukommen, geht deshalb sofort in die Interaktion. Er stellt dem Publikum Fragen, lässt es abstimmen, macht es zum Mitmach-Chor.

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Bild: Thomas Aurin

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Irdisch

Zubin Mehta dirigiert Bruckners achte Sinfonie bei der Staatskapelle Berlin

Von Sascha Krieger

Ein Riesenwerk ist es, das die Staatskapelle Berlin am Karfreitag in den Großen Saal der Philharmonie hievt, 90 Minuten Universumsdurchquerung, ein Großereignis schon bei seiner Uraufführung 1892. Und dann noch in den Händen eines Orchesters, das ohnehin zum Schweren neigt, das lieber klanglich und dynamisch mehr tut als weniger. Und dann kommt dieser 87-jährige Dirigent, Zubin Mehta, längst das, was man eine Legende nennt, und macht diesen Abend überraschend leicht, zu leicht zuweilen, leichtgewichtig gar. Ein Werk des gläubigen Katholiken Bruckner an em Tag der Kreuzigung Christi – da kann es nur um Alles gehen, das erhabene, Schöne, Gute, Überwältigende, Tod, Leben, Gott, Mensch. Mahta weiß das und scheint vom ersten Ton an entschlossen, nicht in diese vermeintliche Falle zu tapsen. Und so geht er achte Sinfonie von Anton Bruckner mit einem Attrubut an, das man mit seinem Werk kaum assoziiert: Nüchternheit.

Zubin Mehta (Bild: Marco Brescia / La Scala)

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„Also tanzen wir“

Sivan Ben Yishai: Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert, Deutsches Theater (Kammer), Berlin (Regie: Anica Tomić)

Von Sascha Krieger

Es hat etwas Geisterhaftes, dieses Haus, das laut Text der protagonist dieses Stücks ist, wie es sich zu Beginn aus dem Nebel schält, wie es immer wieder im bräunlich goldenen Zwielicht halb verschwindet, wie sich in ihm Endlosschleifen, Wiederholungen, Zeitraffer abspielen (Bühne: Mila Mazić). Ein Haus zwischen oder außerhalb der Zeit, ein Ort des Stillstands, der Erinnerung, des Weiter-so. Wirklich drin sind nur die Besitzer, die Helmers, bekannt aus Henrik Ibsens Nora. Ein Puppenhaus, seit 140 Jahren eine vermeintliche Ikone feministischer Emanzipation. In Sivan Ben Yishais Stoffbefragung ist jedoch gerade Noras Position fragwürdig. Sie ist Teil des Hauses – um das es, wie wir wiederholt hören – hier ginge und damit des patriarchalen kapitalistischen Systems, das die Spielregeln setzt für Selbstbestimmung und individuelle Befreiung. Im Pelzmantel gibt sie (Anja Schneider) Anweisungen, schüchtert ein, umgarnt, droht.

Bild: Jasmin Schuller

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Politischer Durchfall

Nach Lewis Carroll: Alice im Wunderland, Maxim Gorki Theater, Berlin (Regie: Oliver Frljić)

Von Sascha Krieger

Im Grenzzaun ist ein Loch. So ist sie hereingekommen, Alice, die Geflüchtete im grauen Kartoffelsackkleid. Nur um sogleich abgefangen zu werden, vom Weißen Kaninchen, das ihr Tränen als Eintrittsgeld abpresst. Ohne Kindertränen keine Integration. So einfach. Nein, ein Kindermärchen ist diese freie Adaption von Lewis Carrolls Traumklassiker nicht, die der Brachialsatiriker des politischen Theaters Oliver Frljić auf die Gorki-Bühne bringt. Auch wenn Märchen immer mal wieder zitiert werden, etwa Andersens Des Kaisers neue Kleider, das hier den Herzkönig trifft. Die politische Stoßrichtung ist von Beginn an klar: Die Wellblechgrenzanlagen zieren populistische SPIEGEL-Titel zu Geflüchteten, der Bundestag dient als Klo des Königs, dessen poltische Ideenschmiede im Wortsinn zu Durchfall führt, das Königspaar sind reinste Demagog*innen, es gibt Gaza-Anspielungen, die Zeit wir totgeschlagen – nein, gehängt – es geht um Schuld und Freiheit, um Sprache als Instrument der Lüge und um Boomer, die genauso auszurotten seinen wie Kinder. Ein wilder knapp zweistündiger Ritt durch alle Diskurse der Gegenwart, die nicht bei drei auf den Bäumen waren.

Bild: Ute Langkafel MAIFOTO

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Ruinen der Realität

Yael Ronen & Shlomi Shaban: Bucket List, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Yael Ronen) – eingeladen zum Theatertreffen 2024

Von Sascha Krieger

Es gibt Tage, nach denen ist nichts mehr, wie es war. Der 7. Oktober 2023, an dem die Terroristen der Hamas das größte antijüdische Pogrom seit der Shoah verübten, war ein solcher Tag. Bucket List, die neue Arbeit der israelischen Autorin und Regisseurin Yael Ronen und ihres Landsmanns, des Komponisten Shlomi Shaban, ist ein Ergebnis und Ausbruch des Bruchs, der an und mit diesem Tag entstand. Von der ursprünglichen Idee einer Befassung mit der Frage, was vor dem eigenen Tod alles noch an Leben zu erledigen sei – daher der Titel – ist so gut wie nichts übrig geblieben. Stattdessen befasst sich dieser Abend ganz mit dem Bruch selbst, dem Auseinanderbrechen von Individuum und Realität, der Hilf- und Ratlosigkeit ob des vollständigen Verlusts jeglicher Gewissheiten. Und er spricht nicht nur darüber, er macht diese zu seinem Kern, gibt ihnen Ausdruck und eine Bühne.

Bild: Ivan Kravtsov

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Berlinale 2024: Day 11

By Sascha Krieger

Vogter (Competition / Denmark, Sweden / Director: Gustav Möller)

When a new prisoner arrives, amicable guard Eva (Sidse Babett Knudsen), changes. Her face hardens, her demeanor becomes distant and almost hostile. There is a secret, no doubt, and soon enough we learn of it. Vogter is an intimate drama set in the cold light and the bare corridors of prison that sets up its premise and remains there. Any character development or complexity are absent, acting, cinematography and direction are little more than one-tone. Topics such as guilt and redemption are hinted at, even spoken out but remain phrases. For a prison drama, the film is not really interested enough in the dynamics of this place, for a psychological drama, there ist too little psychology. The film sets up its conflict like an experiment and leaves it there. There is nothing beneath the surface, the stony or scared face of the guard, the aggression of the prisoner. When an event changes the power balance, Eva’s demeanor changes again. Completely, too easily. The hopeless claustrophobia of the long corridors soon becomes an empty image just as the tragic backstory is just a vehicle for an entirely predictable plot that asks no questions and leaves the audience unaffected.

All Shall Be Well (Photo: Mise en Scene filmproduction)

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Berlinale 2024: Day 10

By Sascha Krieger

The Stranger’s Case (Berlinale Special Gala / Jordan / Director: Brandt Andersen)

Opening with a Shakespeare quote on the lot of migrants and refugees, the episodic film intertwines several stories surrounding the Syrian civil war and the refugee movement following it. A doctor, a poet and a soldier end up fleeing with the „help“ of a smuggler before bei g rescued by a Greek coast guard captain. The film’s focus is on the suffering, looking for the most drastic and dramatic scenes at every point.  It goes for immerdiacy but the pronouncedly unsteady hand-held camera and the heavy-handed soundtrack accentuate a little too much what it’s trying to do, ending up hardly scratching the surface. The film gets so close it becomes strangely distant. The focus is mostly on the reasons for fleeing and the dehumanizing process, leaving plenty of victims on the way whose main purpose is proving the point. A mixture of pamphlet and effect-heavy tearjerk action drama done in the convenient episodic structure, such films aiming at a universal message love to employ. The Stranger’s Case delivers its message to reinforce and remind the audience of the plight of refugees and immigrants – primarily a particular group. As a film, it’s of rather little interest.

Yoake no subete (Photo: Maiko Seo/2024 All the Long Nights Film Partners)

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Berlinale 2024: Day 9

By Sascha Krieger

Shambhala (Competition / Nepal, France, Norway, Hong Kong – China, Turkey, Taiwan, United States, Qatar / Director: Min Bahadur Bham)

In a remote Nepalese village, Pema marries three brothers, as is traditional. After the one she loves goes away on a long trade trip, rumours spread. When he does not return, the pregnant woman sets out a journey that becomes that of her life. Shambhala follows her at the speed of the world in which modern life is only hinted at in the watches the men wear and the teacher’s jacket. Religion, tradition and patriarchy unite in a web of expectations and assigned roles that are impossible to escape from. Stubbornly, dignified and seriously she follows her path wherever it might lead her, slowly taking control over her life, her family, her independence, while acknowledging the foundation tradition and culture has built. She accepts her life without giving it up. This quiet, magnificently photographed and exquisitely paced film, in which the natural and the mythical and mystical are only ever a short way apart, creates its own time and lives by its own speed brings alive a world entirely alien to most of its audience, its rules, its hardship – and celebrates the resilience and dignity of this, of all women. A late Competition highlight.

Shambhala: (Photo: Aditya Basnet / Shooney Films)

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Berlinale 2024: Day 8

By Sascha Krieger

Mé el Aïn (Competition / Tunisia, France, Canada / Director: Meryam Joobeur)

The wound won’t heal. After two of her sons disappear to join ISIS, Aïcha cuts herself in the kitchen. The blood won’t stop – the film’s central image for the wounds left by violence. A piece of naturalistic surrealism ensues, a ghost tale in which everybody ends up haunted. Dark dirty flashback, a grayish ominous present, a kitschy summer hue – these are the three corners of the palette the film uses. Again and again, the objects and characters literally go out of focus, the camera lurks from behind or goes painfully close. There is no perspective to be found, stories emerge and and exposed as lies. The redness of blood waits everywhere, is even foreshadowed by the brothers‘ appearance. A film full of symbolism, a little heavy at times, a story not to explained in any way possible. There remain open ends, fractures in the narrative, open wounds. Another one of this Competition’s somewhat heavy-handed films but one that is compelling in its restless searching for a meaning in all this, this violence, all this death. A search, a sense of being lost the audience shares.

Mé el Aïn (Photo: Tanit Films, Midi La Nuit, Instinct Bleu)

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