Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben - In der von Krieg und Terror geprägten Weltlage müssen wir ein berühmtes Diktum von Brecht überdenken
Das Sprechen über Untaten
18. Oktober 2023. Gräuelbilder prasseln auf die Benutzeroberflächen unserer Handys ein, um unser Denken und Fühlen abzutöten. News rauschen, Fake News branden. In diesen Stürmen lohnt es sich, ein Diktum von Bertolt Brecht neu zu lesen.
Von Esther Slevogt
18. Oktober 2023. Am liebsten würde ich über Bäume schreiben. Wie sie dieser Tage schon etwas kraftlos auf ihren Stämmen in den Himmel ragen. Wie sie vor den plötzlich kälter werdenden Herbstwinden erschrecken, die ihnen schon bald klirrend die Blätter von den Ästen reißen werden. Aber wir kennen ja das berühmte Diktum vom Schreiben beziehungsweise Sprechen über Bäume, das in manchen Zeiten zum Verbrechen werden kann. Weil es ein Schweigen über so viele Untaten bedeutet.
Das nämlich hat in den 1930er Jahren in seinem berühmten Gedicht "An die Nachgeborenen" Bertolt Brecht geschrieben, damals, als im nationalsozialistischen Deutschland der Terror immer massiver wurde, und kaum einer davon sprach geschweige denn dagegen aufgestanden ist. Als er selbst als linker Schriftsteller mit seiner jüdischen Frau, der Schauspielerin Helene Weigel, und den gemeinsamen Kindern der Verfolgung ins Exil entkommen war.
Sprechen über Untaten
Heute kann dieses Diktum nicht mehr gelten, wo das Sprechen über Untaten auf allen Kanälen immer unerträglichere Ausmaße annimmt. Weil das Reden über Untaten längst einschüchternder Teil gegenwärtiger Kriegsführung ist. Wenn das Reden über Untaten alles Denken und Fühlen abtötet und ganze Armeen in Bewegung setzt. Weil in Echtzeit Mörder ihre Morde auf Social Media übermitteln, Folterer die Bilder der von ihnen Geschundenen dort einspeisen, Vergewaltiger die leblosen Körper ihrer Opfer zur Schau stellen und weiter erniedrigen.
Wir stehen im Dauerfeuer der Nachrichten und Meinungen, die wie Geschosse im Sekundentakt uns um die Ohren pfeifen. Die selbst zu Mordwaffen werden, weil sie in wenigen Minuten gewaltbereite Massen (oder Einzelne) mobilisieren und ungeschützte Ziele und Menschen angreifen lassen. Die im gleichen Affekt, mit dem sie sonst retweeten oder liken, jetzt auf den Abzug drücken oder Granaten werfen. Weil sie in unser aller Poren dringen, unser Denken und unsere Empathiefähigkeit töten und stattdessen an unsere niedersten Instinkte appellieren: Rache, Hass, Mordlust, Rassismus und Ressentiment. Und trotzdem hängen alle an ihren Geräten und Timelines wie die Junkies an der Nadel, all die News und Fake News dringen ungeprüft, unverarbeitet, unverdaut in unsere Seelen und machen Monster aus uns.
Kostbarkeit des einzelnen Lebens
Deswegen müssen wir über Bäume reden. Weil wir damit zivile Räume des Denkens und Fühlens, des Nachhörens und Reflektierens, oder einfach nur des Einhaltens nicht nur behaupten, sondern verteidigen. Weil wir dadurch die Zeit gewinnen, unserem Gegenüber ins Gesicht zu sehen, statt lediglich die Fratze des eigenen Hasses, der eigenen Angst, des eigenen Ressentiments darin zu erkennen. Weil wir im Gespräch über Bäume uns daran erinnern können, wie kostbar diese Welt, wie kostbar jedes einzelne Leben ist. Wie wenig Meinungen und irgendwelche hohlen Statements überhaupt noch helfen, wenn sinnlos Menschen sterben und die Welt am Abgrund scheint.
Bekenntnis zur Ohnmacht
Ist das Theater der Ort, um dieses Gespräch über Bäume zu führen, was eben nichts anderes als ziviles Sprechen, Denken und Verhandeln meint? "Wir erkennen unsere Ohnmacht", hat vor ein paar Tagen das Berliner Maxim Gorki Theater erklärt und eine Vorstellung von Yael Ronens Inszenierung von "The Situation" abgesagt. "The Situation", das ist das, was gerade im Nahen Osten in einer immer rasender werdenden Gewaltspirale außer Kontrolle zu geraten droht.
In ihrem Stück hatten Ronen und ein Ensemble aus jüdischen und palästinensischen Schauspielern und Schauspielerinnen aus Israel, Syrien und Deutschland die tragischen wie unlösbaren mörderischen Gemengelagen aufs menschliche und manchmal auch humoristische Maß herunter gebrochen. Die aktuelle Eskalation hat diesen Diskurs für alle Beteiligten jetzt unmöglich gemacht. "Wir bekennen unsere Ohnmacht", schreibt das Theater also nun. Erst dachte ich: wie mutlos und verdruckst. Jetzt denke ich: wie wichtig und mutig, sich zur eigenen Ohnmacht zu bekennen. Zum Innehalten.
Mein Opa Karl Nord bekam einen Stolperstein.
www.ludwigshafen-setzt-stolpersteine.de/gedenkbuch/nord-karl/
Weil er ein Antifaschist war. Er war mutig und tapfer – er hat Einzelhaft und Folter u. a. deshalb überlebt, weil er im Kopf Gedichte schrieb – Papier und Stift hatte er natürlich nicht. Nachdem er den Strafbataillon 999 überlebt hat, wurde er Kulturamtsleiter in Ludwigshafen, hat das Theater Pfalzbau bauen lassen und die Theatergemeinde mitgegründet, in der heute noch viele Intendant*innen Mitglied sind. Meine Eltern holten ihn zu sich, als er krank wurde und pflegten ihn. Kurz vor seinem Tod hatte er immer wieder Panikattacken, während denen er seine engsten Verwandten nicht erkannte und dachte, die Gestapo komme ihn holen. Da half nur noch Morphium, um ihn wieder zu beruhigen, doch die Angst vor den Faschisten kam immer wieder. Ich bin unter Antifaschisten aufgewachsen, mein gesamtes familiäres Umfeld bestand aus Menschen, die gegen Nazis kämpften und mir früh klar machten, wozu Faschisten fähig sind. Mit 10 habe ich in der Gedenkstätte Buchenwald zum ersten Mal Bilder von den Leichenbergen in Konzentrationslagern gesehen, darunter auch von Babies. Es hat mich zutiefst verstört und erschüttert. Jetzt habe ich einige der Bilder gesehen, die von dem Massaker im Süden Israels kursieren, teilweise auf Seiten, auf denen Leute diese Bilder feiern wie ein gewonnenes Fußballspiel. Und ich erkenne diese Bilder wieder. Seit ich diese Bilder gesehen habe, bin ich von einer großen inneren Unruhe ergriffen. Und diese Unruhe wird dadurch verstärkt, dass ich sehe, wie wenig Menschen aus meinem eigenen Umfeld innehalten – und sei es auch nur für einen Moment, einen Augenblick - und sich eingestehen, dass wir diese Bilder kennen, diese Gewalt, diese Grausamkeit. Und es aussprechen: Das ist Faschismus. Die HAMAS ist faschistisch. Wenn wir den Faschismus nicht mehr erkennen, selbst wenn er so unfassbar grell, grausam und deutlich auf sich aufmerksam macht, dann fürchte ich, ist er schon längst da...
Schon immer; nicht erst jetzt in dieser so realistisch von der Kolumnistin beschriebenen "timeline" der telekommunikativen Echtzeit-Nadel, an die sich die überwiegende Mehrheit der Einzelnen in unseren Gesellschaften selbst gelegt hat...
Dankeschön für die harten und wahren Sätze.