Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben - Theater als Speicher der Geschichte
Schule der Gefühle
1. Oktober 2024. "Als ich zum ersten Mal die Stones hörte, wusste ich, dass der Sozialismus nicht siegen kann". Dieser geschichtsträchtige, erinnerungswürdige Satz des Regisseurs Alexander Lang fiel am Wochenende im Deutschen Theater Berlin - und rüttelt im Bewusstsein, wie Theater die deutsche Geschichte aufgerollt hat.
Von Esther Slevogt
1. Oktober 2024. Manchmal kann das Theater eine Zeitmaschine sein. Wenn etwa die Erinnerung an Aufführungen, die man einmal sah, längst Vergangenes aus den Tiefen des Gedächtnisses befördert. Und auch die Person, die man selber war, als man auf diese Arbeiten traf – auf die Inszenierungen des Regisseurs Alexander Lang zum Beispiel.
Am Wochenende hat das Deutsche Theater Berlin an diesen großen Regisseur erinnert, der am 31. Mai im Alter von 82 Jahren gestorben ist und dessen bedeutendste Arbeiten an diesem Haus entstanden. Das ist schon lange her. In Berlin stand damals noch die Mauer, deren Fall sich in diesen lichten, manchmal grellen und immer geschichtsfatalistischen Arbeiten aber schon andeutete. Obwohl das damals noch niemand ahnen konnte – in dieser Zeit, die inzwischen so versunken ist wie die Stadt, die Berlin damals war. Und die dort lag, wo Europa am dunkelsten war – so zumindest hat es damals der (westdeutsche) Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger empfunden (und in "Der Untergang der Titanic" beschrieben).
Geschichts-Séancen
"Als ich zum ersten Mal die Stones hörte, wusste ich, dass der Sozialismus nicht siegen kann", zitierte jetzt auf der Bühne des Deutschen Theaters der Regisseur Alexander Stillmark den einstigen Kollegen Alexander Lang. Dabei waren Langs Inszenierungen alles andere als Rock'n'Roll – sondern eher Séancen, die mithilfe einer Schule der Gefühle und Studien abgründigster menschlicher Schwächen am Einzelfall jeder Figur immer wieder aufs Neue die Frage aufrollten, wo genau die Geschichte nach 1789 (speziell in Deutschland) falsch abgebogen war.
Jetzt hatte sich auf dieser Bühne ein überlebender Kern des alten wie verschworenen Alexander-Lang-Ensembles samt weiterer Weggefährten oder Zeugen seiner Arbeit auf der Bühne versammelt: zuallererst Christian Grashof, legendärer Protagonist von Langs bedeutendsten Arbeiten, wie "Herzog Theodor von Gotland" (1984), "Philoktet" (1978) und allen voran "Dantons Tod" (1980), der diese Matinee organisierte, und und sich nun vor dem Freund noch einmal verneigte.
Dantons Tod und das unbelehrbare Volk
Dann waren da Simone von Zglinicki und Johanna Schall, die an der Rampe noch einmal den Schlussmonolog der Lucile Desmoulins sprach – an der gleichen Stelle, wo sie diesen Text über vierzig Jahre zuvor in Langs Inszenierung von "Dantons Tod" gesprochen hatte – und dann von den Wächtern der Revolution in den Tod getanzt worden war. Im Parkett saß Margit Bendokat, damals die "Marion", am Flügel auf der Bühne Roman Kaminski, der nun noch einmal einige seiner Keith-Jarrett-Improvisationen zu Gehör brachte, mit deren süffigem Vergeblichkeitssound er 1980 Langs Büchner-Inszenierung über das Scheitern der Revolution an der Schwäche ihrer Protagonisten und der Unbelehrbarkeit des Volks unterlegte hatte – (wo er darüber hinaus in der Doppelrolle St. Just / Desmoulins zu sehen war - und Grashof Danton und Robespierre als zwei Versionen einer Medaille spielte – weshalb auch aus der Revolution nichts werden konnte.)
Was für ein Präzisionsinstrument allein schon das Gesicht eines Schauspielers wie Grashof oder Kaminski sein kann, konnte man dann in den Großaufnahmen eines Zusammenschnitts von alten Inszenierungsaufzeichnungen sehen, wo dann auch jene noch einmal sprachen oder spielten, die schon gestorben sind: die große Schauspielerin Katja Paryla etwa oder Volker Pfüller, kongenialer Ausstatter von Langs Inszenierungen. Der Kritiker Hans-Dieter Schütt rahmte das Gedenken fachlich und Thomas Flierl sprach nicht ohne Bitterkeit von seinem Versuch, als Kultursenator der Linken (2002 bis 2006) noch einmal eine ostdeutsche Leitung im DT zu installieren. Der Regisseur und einstige Ernst-Busch-Theaterprofessor Rudolf Koloc erzählte, wie Lang als junger Schauspieler und Hilfsarbeiter Paul Bauch in Volker Brauns Stück "Die Kipper" auf der Bühne des DT einst das Recht eines jeden auf Glück eingefordert hatte: "Die Welt ist falsch für uns, muss sie eben umgestürzt werden!"
Ein Impulsgeber
Auch ich war unter denen, die an Alexander Lang erinnern durften: weil Lang ein entscheidender Impulsgeber für meine Berufswahl war und für eine lange Beschäftigung mit dem Deutschen Theater. Nicht persönlich, denn persönlich kennengelernt habe ich ihn erst wenige Jahre vor seinem Tod. Aber eben durch das Theater, das er machte. Und von dem ich lernte, dass diese Kunstform ein Weltbeschreibungsinstrument ist – und dabei seismografisch auch in Regionen vordringen kann, wo die meisten anderen Instrumente längst nicht mehr funktionieren.
Langs Arbeiten begegneten mir, als ich in den 1980er Jahren zum Studieren nach Berlin kam, nach Westberlin sollte ich vielleicht präzisieren. Damals, vor 1989, war es kein geringes Unterfangen, aus Charlottenburg, wo ich noch immer wohne, ins Deutsche Theater zu kommen. Es war eine veritable West-Ost-Passage. Eine Passage, die jedes Mal eine unmittelbare Konfrontation mit der deutschen Geschichte war.
Geteilte Stadt
Schon damals nahm ich die S-Bahn zur Friedrichstraße. Das letzte Stück fuhr die S-Bahn direkt an dieser tödlichen Grenze entlang. Das Foyer des Deutschen Theaters begann für mich eigentlich immer schon am Bahnhof Friedrichstraße. Dort passierte man die Grenze und musste 25 Westmark in 25 Ostmark umtauschen. Das war mein Eintrittsgeld. Von den günstigen Ticketpreisen in der DDR konnte ich damals so nicht profitieren – trotzdem habe ich viele dieser Inszenierungen mehrfach gesehen.
Im Theater, das ich bisher gekannt hatte, spielte die Teilung der Stadt ebenso, wie die Umstände, die dazu geführt hatten, damals kaum eine Rolle. Wie überhaupt die Deutsche Geschichte, ihre offenen oder nur schlecht verheilten Wunden wenig vorkamen und ich auf viele Fragen, die mich damals (und eigentlich bis heute) beschäftigten, keine Antworten fand.
Speicher auf Lebenszeit
In den Arbeiten von Alexander Lang erschienen mir die Figuren nun plötzlich wie aus der Tiefe dieser Geschichte angeweht – egal, ob es Stücke von Shakespeare, Lessing, Goethe, Grabbe, Strindberg, Heiner Müller oder Büchner waren – Immer wieder waren es ebenso grelle, wie abgründige Geschichtsséancen, die im Grunde stets aufs Neue die Fragen aufgerollt haben, warum die Geschichte in diesem Land zum Glück zu wenden nicht gelungen war. Durch Alexander Langs Theater habe ich mir außerdem eine Art Speicher auf Lebenszeit anlegen können, in dem das Bewusstsein aufgehoben ist, was Theater kann. Das hat mich mein ganzes Berufsleben über begleitet.
Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben
Esther Slevogt
Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?
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