Kolumne: Queer Royal - Die Oper als unmögliches Kunstwerk
In Richtung Rosarot
18. Januar 2022. Vor einem Jahr outeten sich 185 Bühnen-, Film- und Fernsehschauspieler:innen als schwul, lesbisch, bisexuell, trans und non-binär. Wie steht es um die angemahnte Queerness in einer anderen der szenischen Kunstformen – in der Oper?
Von Georg Kasch
18. Januar 2022. Was, schon wieder ein Jahr rum? Als sich damals, Anfang Februar 2021, mit dem #actout-Manifest 185 Bühnen-, Film- und Fernsehschauspieler:innen als schwul, lesbisch, bisexuell, trans und non-binär outeten, knallte es mitten im Corona-Lockdown – und zeigte, dass auch an Theatern immer noch Normierungen hinsichtlich Geschlecht, sexueller Präferenz und Schönheitsvorstellungen existieren. Was aber ist mit den anderen szenischen Künsten, dem Musiktheater zum Beispiel? 185 Sänger:innen, die ebenfalls sagen: "Wir sind schon da", müssten ja zu finden sein. Aber würde es die Opernwelt verändern?
Unmögliches Kunstwerk
Die Sache ist kompliziert. Denn Oper ist per se queer – also merkwürdig, verdreht, eigenartig, so die ursprüngliche Bedeutung des Worts. Oder, wie es Oscar Bie 1913 in seinem Buch "Die Oper" gleich im ersten Satz formulierte: "Die Oper ist ein unmögliches Kunstwerk." Weil sie voller Widersprüche steckt: Sie "ist die Einbildung, daß es möglich ist, stundenlang eine zusammenhängende Musik zu schreiben, dass einige Noten dieser Musik von Sängern zu einem richtigen Drama als Wortunterlage gesungen werden, teilweise sogar alle untereinander, dass das begleitende Orchester seine Selbständigkeit trotzdem wahrt, dass das alles auf einer Bühne wirklich gemacht wird mit Dekorationen, Indispositionen, Eifersüchteleien und Balletten, dass dieser ganze Apparat im Verhältnis zum Publikum, welches ja im Grunde unmusikalisch ist, ein gutgehendes Rechenexempel wird und dass endlich, nachdem man alle diese Schwierigkeiten eingesehen hat, sich noch Leute finden, die eine Oper komponieren."
Allein die äußerst naturferne Grundkonstellation, dass Menschen singen statt zu sprechen und für dieses Singen höchst kunstvoll geschulte Stimmen benötigen, ist queer. Weil Rollen und Ausführende nichts miteinander zu tun haben müssen. Wo Stimmfach, -material, -farbe ausschlaggebend für eine Besetzung sind, spielen Geschlecht und Aussehen eine untergeordnete Rolle. Und auch, wenn in den letzten Jahrzehnten Attraktivität und Spiellust wichtiger geworden sind, so ist es doch bis heute kaum vorstellbar, Cherubino mit einem Knabensopran zu besetzen statt mit einer Mezzosopranistin, nur damit das Geschlecht von Figur und Darsteller:in übereinstimmen.
Queere Figuren noch und nöcher
Das Prinzip der Hosenrolle ist ja nur eines von vielen "unmöglichen" Operneigenheiten. Wer Wahrscheinlichkeit erwartet, Logik, Eindeutigkeit, wird mit der Oper nicht glücklich. Wenn Frauen, die junge Männer spielen, sich wiederum als Frauen verkleiden (wie bei Mozart und Strauss), ist das mindestens eine Umdrehung zu viel – und zugleich wunderbar! Die Oper kennt dutzende dieser Konstellationen, dank Kastratenrollen, die von Frauen übernommen werden, dank der barocken Ammen mit Bassregister, aber auch dank des 20. Jahrhunderts, in dem Péter Eötvös etwa seine "Tri sestri" (nach Tschechows "Drei Schwestern") für drei Countertenöre schrieb.
Und das sind ja noch nicht einmal queere Figuren, von denen das 20. Jahrhundert auch etliche parat hat, von Gräfin Geschwitz in Alban Bergs "Lulu" bis zu Aschenbach in Benjamin Brittens "Death in Venice". Im Repertoire allerdings sind sie Randfiguren. Das wird von Werken des 19. Jahrhunderts dominiert. In ihnen sind Männer meist echte Tenor-Kerle oder Bariton-Schurken und Frauen leidende, oft zur Passivität verdammte Sopran-Heldinnen. Geht's noch heteronormativer? Allerdings haben auch die Opern von Meyerbeer und Wagner, Donizetti und Verdi erstaunlich queere Momente. Wayne Koestenbaum hat das 1993 höchst subjektiv und eigenartig in "The Queen's Throat" analysiert (1996 auf Deutsch als "Die Königin der Nacht. Oper, Homosexualität und Begehren" erschienen). Wesentlich wissenschaftlicher und fundierter lassen sich all die Subtexte heute im schwulen Opernführer "Casta Diva" nachlesen – Steilvorlagen fürs Regietheater.
Alphamänner-Kämpfe enden im Kuss
Das kitzelt die queeren Perspektiven zuverlässig hervor. Manchmal wirkt das etwas aufgesetzt, wie 2007, als Krzysztof Warlikowski an der Bayerischen Staatsoper "Eugen Onegin" als "Brokeback Mountain"-Kopie inszenierte. Warum? Weil Tschaikowski mutmaßlich schwul war? Oder weil er für die Freunde Onegin und Lenski geradezu erotische Musik geschrieben hat? Kann man so sehen, beißt sich dann nur mit der Handlung und allem, was Tschaikowski auch Onegin und Tatjana an (zeitlich versetzter) Leidenschaft füreinander komponiert hat.
Aber oft geht es eben doch auf, wenn zum Beispiel Eva-Maria Höckmayr in ihrer "Poppea"-Inszenierung an der Berliner Staatsoper 2017 Nero auch mit Lucano anbandeln lässt, sie gemeinsam mit Poppea einen Dreier haben – und die Männer am Ende zu zweit abziehen. Oder wenn Barrie Kosky in "The Bassarids" an der Komischen Oper 2019 den Kampf der Alphamänner Pentheus und Dionysos im Kuss enden lässt. Manchmal sind es nur Nebenfiguren wie der Tanzmeister, der in Katie Mitchells "Ariadne auf Naxos"-Inszenierung in Aix 2018 in Tanktop und Highheels durchs Vorspiel wirbelt. Und manchmal ist es ein ganzes Lebensgefühl wie die revolutionäre Außenseiter-Künstlergemeinschaft um Tannhäuser, die Tobias Kratzer 2019 in Bayreuth inszenierte – mit queerem Happening am Festspielpark-Teich und Regenbogenfahne auf der Bühne.
Für queere Sicht- und Hörbarkeit im Musiktheater sorgen aber auch viele Sänger:innen selbst. Countertenöre und tiefe Altstimmen bringen die Geschlechterordnung ebenso durcheinander wie Baritona Lucia Lucas. Die trans Frau singt Rollen wie Macbeth, Don Giovanni und die "Contes d'Hoffmann"-Bösewichter. Dafür verkleidet und schminkt sie sich ebenso, wie es jeder Sopran für eine Hosenrolle tun würde.
Noch Luft nach oben
Also alles rosarot? So gar kein Protest, Coming Out, Statement nötig? Wie gesagt: Es ist kompliziert. Denn zum einen bedeutet ein – sagen wir – schwuler Intendant, Orchesterchef oder Betriebsbüro-Leiter längst nicht, dass es dadurch automatisch auch den lesbischen, trans und non-binären Mitarbeitenden gut geht oder ihre Perspektiven auf der Bühne vorkommen. Oder dass das Haus damit generell gut aufgestellt ist. Auch hier gibt’s Missbräuche, Macht- und Grenzverletzungen.
Zum anderen hat das #actout-Manifest den Blick auch auf die Ränder des queeren Felds gerichtet. Seine Forderung, die Vielfältigkeit der Gesellschaft abzubilden, bezieht sich eben auch auf "die Stereotypisierung und Marginalisierung durch Ableismus und Altersdiskriminierung, Antisemitismus, Klassismus, Rassismus und anderen Formen von Diskriminierung". Wer an Elendsporno, Kolonialkitsch, Blackfacing und andere Regie-Fehlgriffe denkt, an ein bürgerliches Publikum, das oft unter sich ist und sich am Leiden der Anderen erwärmt, an Weibchen-Klischees auf der Bühne, während es zu wenig Frauen an den Regiepulten und in Hausleitungen gibt, ahnt, wie viel Luft noch nach oben ist. Queer ist ja nicht nur ein Sammelbegriff für Geschlechtsidentitäten. Sondern auch eine Solidaritätsadresse: Diejenigen, die nicht ausreichend im Mainstream vorkommen, halten zusammen, stehen füreinander ein.
Kurz: Es braucht auch hier Netzwerke, Bündnisse, Forderungen. Zum Beispiel für den Fall, dass es in der zwar relativ diversen, aber doch auch stark hierarchisch organisierten Opernwelt zu Homo- oder Transphobie, zu Rassismus und Mobbing kommt. Nur braucht es dafür kein Gruppen-Coming-out von Menschen, die außerhalb der Klassikwelt niemand kennt und von denen die Hardcore-Fans ohnehin wissen, was los ist. Sondern Offenheit, Aufmerksamkeit und Solidarität untereinander. Und zwar für alle Formen von Grenzüberschreitungen und Missbräuchen. Denn nur, wer lebt, was er predigt, wird glaubwürdig. Selbst in einer Traummaschinerie wie der Oper.
Georg Kasch, Jahrgang 1979, ist Redakteur von nachtkritik.de. Er studierte Neuere deutsche Literatur, Theaterwissenschaft und Kulturjournalismus in Berlin und München. In seiner Kolumne "Queer Royal" blickt er jenseits heteronormativer Grenzen auf Theater und Welt.
Zuletzt suchte Georg Kasch im Theater nach dem Bollwerk gegen Rechts.
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