Nicht mehr allein im Haus

4. April 2023. Ist das schon wieder so ein Phänomen dessen, was Mächte der Gegenaufklärung als Wokeness-Wahn bezeichnen und vor allem bekämpfen? Über ein nicht mehr ganz neues, aber heftig diskutiertes Theaterthema.

Von Georg Kasch

4. April 2023. Bevormundung! Geschichtsreinigung! Schneeflocken-Mentalität! Triggerwarnungen, wie sie viele Theater und Festivals mittlerweile auf ihre Homepages stellen, haben offenbar ein hohes Erregungspotential. Warum? Schließlich wenden sie sich an eine relativ kleine Gruppe von Menschen, jene nämlich, die in ihrem Leben krassere Erfahrungen gemacht haben als der Durchschnitt – um ihnen zu ersparen, mit diesen Erfahrungen ungewollt und unvorbereitet erneut konfrontiert zu werden. Gemeint aber fühlen sich andere.

Erleben und Erleiden

Doch von vorn. Schon der Begriff sorgt für Missverständnisse. "Trigger" bezeichnet in der Traumatherapie Reize, die unwillkürlich die Erinnerung an ein zurückliegendes Trauma auslösen, dadurch wie eine reale Situation erneut durchlebt und durchlitten werden können. Heute wird das Wort häufig für alles benutzt, was Menschen verstören kann, insbesondere vor dem Hintergrund bereits erlebter Gewalt.

Gewarnt wird, je nach Institution, zum einen vor sensorischen Reizen: der besondere Einsatz von Licht wie Stroboskop oder extreme Helligkeit, Lautstärke, der Einsatz von Nebel, Blut oder vergleichbaren Effekten. Zum anderen vor Themen wie körperlicher, seelischer oder sexualisierter Gewalt, Selbstverletzung und Suizid, Kindesmissbrauch, schwere Krankheit, Krieg und Tod, Sucht und Drogenmissbrauch, Diskriminierung wie Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Ableismus und Antisemitismus, Mobbing, Bodyshaming, Tierquälerei oder Nacktheit.

Bevormundung?

Über die Warnung vor Stroboskoplicht und anderen sensorischen Reizen regt sich kaum jemand auf. Vermutlich, weil hier Ursache und Wirkung – epileptische Anfälle zum Beispiel – medizinisch erwiesen sind. Und weil auch viele weitere Besucher:innen dankbar sind, wenn sie sich bei Knalleffekten rechtzeitig was in die Ohren stopfen können.
Bei Inhaltswarnungen allerdings kochen die Emotionen hoch.

"Hier wird die Bewusstmachung historischer Kontexte inklusive ihrer Vergegenwärtigung von sprachlicher Gewalt vorab als Risiko definiert und damit ihres Konfliktpotenzials beraubt", schrieb ein (an sich geschätzter) Kollege vergangenen September in der Süddeutschen Zeitung. "Und das ist dann eher ein klassischer Fall von laienhafter Bevormundung des Publikums, was es zu denken hat." Bevormundung ist auch der häufigste Kritikpunkt, den die Theater erreichen – in teils drastischer Wortwahl.

Aber warum? Die Warnungen richten sich an einen relativ kleinen Teil des Publikums, das gezielt danach sucht. Deshalb findet man sie auf den Homepages meist räumlich getrennt, auf einer eigenen Seite oder unter einem Slider versteckt. Wer das für Bevormundung hält, sollte sich vielleicht auch fragen, ob seine oder ihre Empathie vor der eigenen Haustür endet.

Psychische Narben

Es gibt nämlich Menschen, die sensibler auf sensorische Reize, aber auch auf Themen und Darstellungen reagieren als die Mehrheit. Menschen mit Behinderung haben oft andere Schmerzgrenzen als Menschen ohne Behinderung, queere Menschen und BIPoC erleben häufiger Gewalt, Frauen sexuelle Übergriffe. Wer jeden Tag mit Hass, Rassismus oder Entwürdigung kämpft, wer selbst Krieg erlebt hat oder Verwandte in totalitären Systemen besitzt, hat unter Umständen keine Lust oder Kraft, sich abends damit noch einmal neu auseinanderzusetzen.

Natürlich kann man argumentieren, dass es einen Unterschied zwischen symbolischer und realer Gewalt gibt. Aber wenn psychische Narben frisch sind, hilft diese Nuancierung den Betroffen wenig. Zumal die – ja oft herbeigesehnte – Intensität von Theater, sein Rauschpotential Teil der Herausforderung ist. Solange die symbolischen Handlungen symbolisch bleiben, angedeutet, hinskizziert, nichts blitzt und knallt und Gewalt in erster Linie ein Sprechakt ist, muss kaum gewarnt werden. Allerdings geht es eben nicht darum, dieses rauschhafte, grenzüberschreitende Theater abzuschaffen. Sondern darum, allen, die sich darauf (oder auf Teile davon) nicht einlassen können oder wollen, die Möglichkeit zu geben, vorher ihre Schlüsse zu ziehen.

Nicht zuletzt ist das Publikum heterogener geworden und begreift Teile des Kanons heute als problematischer als früher. Zentrale Stücke des Spielplans sind strukturell rassistisch, misogyn und ablelistisch wie die Gesellschaft, in der die Stücke entstanden. Waren sie immer schon, nur fällt das heute stärker auf. Natürlich kann man das mit Inszenierungsstrategien und klugen Programmhefttexten auffangen und kontrastieren. Man kann aber auch einfach seinem Publikum zubilligen, sich das nicht antun zu wollen.

Wem gehört das Theater?

Der Streit darüber, ob Inhaltswarnungen nun Bevormundung sind oder eine Notwendigkeit, ist aber vor allem ein Stellvertreterkonflikt mitten in den Kulturkämpfen um Identität, "Wokeness" und den vermeintlichen Graben, den die Diskussion in unsere Gesellschaft treibt. Er dreht sich um die Frage, was Kunst eigentlich ist, kann und soll. Und wem die Theater gehören. Dem Stammpublikum der Mehrheitsgesellschaft, das die Regeln kennt, den Schauspielführer im Regal stehen hat, sich von Inszenierungsstrategien nicht aus der Fassung bringen lässt?

Oder auch jenen, die vielleicht zum ersten Mal kommen, von der Krassheit einer Geschichte überwältigt werden und zugleich in ihren Leben mit Herausforderungen konfrontiert sind, die das Stammpublikum vielleicht nicht auf dem Schirm hat? Ist das Theater noch der Tempel, dessen Stufen man durch Bildung erklimmt? Oder hat die Institution offene Türen, die man barrierefrei erreichen kann?

Frage des Überlebens

Warnungen lassen sich nämlich, so paradox das klingen mag, auch als eine Einladungsgeste der Häuser lesen, als Vorbereitungsoption insbesondere für Menschen, die mit dem Repertoire und den Gepflogenheiten des Regietheaters nicht unbedingt vertraut sind. Ein zusätzlicher Service, der die Teilhabe für Menschen ermöglicht, die sonst aus Angst oder Unwohlsein generell zu Hause bleiben würden. Und für all diejenigen, die im Zeitalter des Freizeitüberangebots gerne wissen, was sie erwartet, bevor sie 30, 50, 100 Euro für eine Karte investieren.

Gemeint und – pardon – getriggert fühlt sich aber offenbar ein Teil des Stammpublikums, das die Geschichten, Regeln, Riten kennt, mit den Warnungen aber gar nicht adressiert wird. Vermutlich, weil er bislang immer gemeint war und Gesten wie diese ihn daran erinnert, dass er nicht allein Herr im Haus ist. Sein Unwohlsein und Protest lenkt davon ab, dass der niedrigschwellige Zugang für ein diverseres Publikum nicht nur eine Gerechtigkeits-, sondern eine Überlebensfrage ist in Zeiten, da die so genannte Hochkultur keine Selbstverständlichkeit mehr ist: Wer soll eigentlich in 20, 30 Jahren, wenn das heutige Stammpublikum nicht mehr da ist, ins Theater gehen?

Kolumne: Queer Royal

Georg Kasch

Georg Kasch, Jahrgang 1979, ist Redakteur von nachtkritik.de. Er studierte Neuere deutsche Literatur, Theaterwissenschaft und Kulturjournalismus in Berlin und München. In seiner Kolumne "Queer Royal" blickt er jenseits heteronormativer Grenzen auf Theater und Welt.

mehr Kolumnen

images/stories/kolumne/visuals_2023/23_NAC_kolumnen_einzel_hussein_2x2.png
images/stories/kolumne/visuals_2023/23_NAC_kolumnen_einzel_hussein_2x2.png
images/stories/kolumne/visuals_2023/23_NAC_kolumnen_einzel_hussein_2x2.png
images/stories/kolumne/NAC_Illu_Kolumne_Kasch_2x2.png
Kommentare  
Kolumne Kasch: Im Kleingedruckten
Naja, das Theater gehört allen. Denen, die hingehen genauso wie denen, die nicht hingehen.
Verwandte "besitzt" man nicht, jeder Mensch gehört sich selber. Es sei, man hält seine Verwandten für Sklaven...

Frage: WENN die Warnungen vor eventueller seelischer oder körperlicher Beschädigung durch Text undoder Inszenierung so klein und versteckt daherkommen, um das sich an "Wokeness" störende Publikum nicht zu verstören, wie kann man dann davon ausgehen, dass Menschen, die sich (bisher) eher vom Theater ausgeschlossen fühlen aber gern vor Ort partizipieren wollen, ausgerechnet im versteckt Kleingedruckten suchen, um gewarnt werden zu können?
Kolumne Kasch: Dumme Frage
Die Gruppen um die es geht sind es gewohnt auf kleinste Hinweise achten zu müssen, um sich nicht zu gefährden. Da werden sie sicherlich auch einen Text im Kleingedruckten finden.
Kommentar schreiben