Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war - Über das Verhältnis von Werk und Biografie
Kontaminierte Kunst
9. November 2022. Es ist eine heikle und schwer zu beantwortende Frage: Sollten die biografischen Umstände der Schaffenden bei der Beurteilung von Kunst eine Rolle spielen? Unser Kolumnist hat seine Position dazu schon einmal verändert. Es bleibt kompliziert: Wo ist beim Canceln der Anfang, wo das Ende?
Von Wolfgang Behrens
8. November 2022. Noch lange, bevor ich ein Kritiker wurde, verfocht ich ziemlich einseitig die These, dass Werk und Biografie einer Künstlerin bzw. eines Künstlers strikt zu trennen seien. Will sagen: Ich war der Überzeugung, dass es für die Rezeption einer künstlerischen Hervorbringung keinerlei biografischen Hintergrundwissens bedürfe: Das Werk steht für sich. So machte ich mich, um ein Beispiel zu geben, lustig über den Versuch, in Alban Bergs Streichquartett "Lyrische Suite" eine unerfüllte Liebesaffäre des Komponisten hineinzulesen: Selbst wenn es diese Affäre gegeben und Alban Berg sie in die "Lyrische Suite" eingearbeitet hätte, so gehe es den Hörer nichts an. Was nicht in den Noten steht, das interessiert nicht. Punkt.
Irgendwann später wurde mir klar, dass meine Position so nicht zu halten war. Das für mich letztlich schlagende Argument war, dass etwa Werke, die unter äußerem Druck entstehen (Krieg, Diktatur, Gefangenschaft und anderes), natürlich von ihren Schöpfer:innen einen anderen Kommunikationsmodus fordern und somit auch auf besondere Weise zu lesen sind. Der Grad der Freiheit einer Gesellschaft wirkt auf die ästhetischen Entscheidungen der Künstler:innen ein – insofern macht es schon einen Unterschied (und auch für die Rezipient:innen), ob jemand sein Theaterstück im Jahre 1970 auf einer österreichischen Alm oder in einem Stasi-Gefängnis der DDR geschrieben hat.
Moralisch zweifelhaft
Trotzdem bleibt die Frage, wie sehr die biografischen Umstände der Schaffenden bei der Beurteilung von Kunst eine Rolle spielen sollten, eine äußerst heikle. In den allermeisten Fällen wissen wir ohnehin gar nichts: Es wäre ja auch ein bisschen viel verlangt, wenn man etwa vor einem Theaterbesuch erst einmal Erkundigungen über die Lebensumstände von Autor, Regisseurin und Schauspieler:innen einzuholen hätte. Was aber passiert, wenn wir doch etwas wissen? Und zwar etwas, das uns ganz und gar nicht gefallen will? Kann oder soll man das besser ausblenden? Oder ist das Kunstwerk dann gewissermaßen kontaminiert?
Werden die Stücke von Caryl Churchill zu schlechten Stücken, wenn sich bestätigen sollte, dass sie antisemitische Ansichten vertritt? Auch Richard Wagner hat antisemitische Ansichten vertreten, und zwar massiv – seine Opern werden aber weiterhin bewundert. Weil der Antisemitismus in sie nicht Eingang gefunden hat? Und wenn doch? Sind die in den 1980er Jahren in der alternativen Künstlerszene des Prenzlauer Bergs entstandenen Gedichte von Sascha Anderson wertlose Machwerke, weil er gleichzeitig seine Dichterkolleg:innen bespitzelte? Zumindest wird man sie wohl anders lesen. Goethe wiederum hat im "Faust" ein eindrückliches Plädoyer für eine Kindsmörderin abgegeben. Zugleich hat er als Geheimer Rat 1783 dem Todesurteil für die Kindsmörderin Johanna Catharina Höhn ausdrücklich zugestimmt – möglicherweise sogar gegen den Willen seines Dienstherrn und somit durchaus ausschlaggebend. Mindert das den Rang des "Faust"? Oder beginnt das Malheur erst dort, wo sich ein moralisch zweifelhafter Gestus auch ins Werk einschleicht?
Im Zweifelsfall canceln?
Hochinteressant in diesem Zusammenhang sind die Fälle, in denen biografische Details erst spät auftauchen – oder sich gar ändern. Einer der Urväter der englischen Literatur, Geoffrey Chaucer, musste sich im 14. Jahrhundert gegen die Anklage eines "Raptus" verteidigen. Er wurde zwar freigesprochen, doch der Verdacht, dass Chaucer ein Vergewaltiger sein könnte, hat die Rezeption seiner "Canterbury Tales" lange Zeit überschattet: Den Spuren seiner Täterschaft wurde bis in die Texte hinein nachgegangen. Im vergangenen Monat sind nun jedoch die beiden Mediävisten Sebastian Sobecki und Euan Roger an die Öffentlichkeit getreten, um Chaucer zu entlasten: Sie konnten nachweisen, dass es sich beim in Frage stehenden "Raptus" nur um das regelwidrige Abwerben einer Bediensteten von einem anderen Arbeitgeber handelte. Ändert das nun etwas am Status der "Canterbury Tales"?
Auf alle hier gestellten Fragen scheint es keine einfachen Antworten zu geben. Wobei eine einfache Antwort immerhin wäre: im Zweifelsfall canceln! Was ja mitunter auch schon geschieht, wenn etwa Straßennamen, die Künstler um ihrer Werke willen ehren, wegen aufgefundener Gesinnungsmakel umbenannt werden (Hans-Pfitzner-Straßen zum Beispiel sind gerade in rapidem Rückgang begriffen). Oder wenn bestimmte Filme oder Serien von oder mit moralisch belasteten Regisseuren und Schauspielern nicht mehr gezeigt werden. Die große Gefahr dieser einfachen Antwort ist freilich, dass das Canceln dann vielleicht nie zu einem Ende kommt. Denn welche Künstler:innen sind schon ohne Sünde? Ohne Sünde sind ja nur die, die die Steine werfen…
Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war
Wolfgang Behrens
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, war von 2017 bis 2024 am Staatstheater Wiesbaden tätig – zunächst als Dramaturg, dann als Schauspieldirektor. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.
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Bei allem besteht dann die Heldenhaftigkeit des Neo-Bildungsbürgers vermutlich darin, den jeweilig diagnostizierten undoder herbeigeredeten Sündenfall nicht stets an der zwischenzeitlich gewandelten Moral zu messen, sondern am Moralkonsens in der jeweiligen Lebenszeit und - situation des betreffenden Künstlers (oder selbstverständlich auch der betreffenden Künstlerin) zu betrachten sowie die frühere öffentliche Beurteilung (oder ostentativ öffentliche Nicht-Beurteilung) in die momentane Beurteilung mit einfließen zu lassen. -
Ein gewiss mühsameres Rezeptions-Unterfangen als es vor Einzug der gewohnheitsmäßigen Cancel Culture gewesen sein mag. Somit auch ein neues Kritiker-Feld, das m.E. nicht unterschätzt werden sollte.
Es kommt halt immer darauf an, wer wen cancelt.
Ich will mal, was die Oberflächlichkeit des Textes betrifft, nicht widersprechen, denn er stellt ja nur Fragen, ohne Antworten zu präsentieren. Das mag vielleicht unbefriedigend sein. Aber den Text einfach mit acht abgemessenen Wörtern der Hohlheit zu bezichtigen, finde ich auch nicht gerade befriedigend. Formulieren Sie doch einen Antwortversuch (oder zeigen Sie, dass die Fragen keine Relevanz haben), das fände ich konstruktiver. In dieser Form ist Ihr Kommentar nur ein hohler Diss.