Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war - Über Hundekot und Kritikkritik
Das ist alles von der Meinungsfreiheit gedeckt
14. Februar 2023. Nach dem Angriff des Hannoveranischen Ballettchefs auf eine Kritikerin ist einerseits klar: So was geht gar nicht. Andererseits macht diese Tat zuweilen ja durchaus berechtigte Kritik an Kritiker:innen noch schwieriger. Wohin mit all dem angestauten Frust?
Von Wolfgang Behrens
14. Feburar 2023. Jetzt ist schon wieder was passiert. Vor zwei Monaten habe ich an eben dieser Stelle die Theaterleute ermuntert, Kritiker:innen durchaus auch mal hart anzugehen, denn das belebe das Geschäft. Wenn manche Kritik, wie Karin Beier es formulierte (und damit vielfach falsch zitiert wurde), einer oder einem "wie Scheiße am Ärmel" haften bleibe, dann müsse auch die Kritik mal harsche Gegenkritik aushalten.
Ein Bärendienst an den Künstler:innen
Nun freilich ist die Scheiße nicht mehr am Ärmel eines Künstlers verblieben, sondern im Gesicht einer Kritikerin gelandet – und dabei hat sich ein ungeheuerlicher Ebenenwechsel vollzogen: Denn wenn sich Hannovers mittlerweile suspendierter Ballettchef Marco Goecke "durch eine Journalistin beschmutzt sieht", dann bewegen wir uns im Bereich des Metaphorischen. Der Beutel Hundekot jedoch, den Goecke am Samstagabend bei der Ballettpremiere "Glaube – Liebe – Hoffnung" bei sich führte und dessen Entsorgung ihm so gründlich misslang, ist real. Die Ebenen des Metaphorischen und des Realen in dieser Weise zu vermischen beziehungsweise die reale Beschmutzung mit der vorher erfolgten metaphorischen zu begründen, ist in keiner Weise statthaft. (Man stelle sich vor, ein Dramaturg, dem in einer Besprechung mit seiner Intendantin "der Kopf abgerissen wurde", würde sich bei seiner Revanche einer ähnlichen Ebenenverwechslung schuldig machen.)
Und, nein, Goeckes Wahl der Mittel im Umgang mit seiner Kritikerin war nicht nur "sicherlich nicht super" (wie es im NDR-Interview zwei Tage später heißt), sie war einfach scheiße und vor allem justitiabel. In diesem Punkt dürfte in der Bewertung des Vorfalls weitgehende Einigkeit herrschen. Ein fataler Aspekt der Sache ist jedoch – über die konkrete Ehrverletzung der Kritikerin hinaus –, dass sie der durchaus existenten Diskussion innerhalb der Theater (oder anderer künstlerischer Institutionen), wie man sich gegen Verrisse wehren könne, einen Bärendienst erweist. Selbstherrliche Kritik in die Schranken zu weisen wird von vielen im Kunstbetrieb als ein Desiderat empfunden. Wenn jemand wie Goecke allerdings derart übers Ziel hinausschießt, wird eine Auseinandersetzung über dieses Anliegen enorm erschwert: Jeder Verweis auf problematische, möglicherweise persönlich motivierte oder ehrabschneidende Formulierungen in den Rezensionen der "gebeutelten" Kritikerin kann plötzlich als Rechtfertigung eines Angriffs gewertet werden, der so nie hätte stattfinden dürfen.
Geht's um Rache?
Trotzdem: Wer mit Künstler:innen und Theaterleuten redet, wird häufig mit deren Eindruck konfrontiert werden, dass viele Kritiken nicht frei von persönlichen Unterstellungen und Ressentiments seien oder gar einer Logik der Intrige und Kampagne gehorchten. Auch wenn da ein Gutteil Hypochondrie zu konstatieren ist: Kaum jemand wird bestreiten, dass es solche Auswüchse in der Kritik gibt (nach meiner sehr subjektiven Einschätzung übrigens im Bereich der Oper häufiger als etwa im Bereich des Schauspiels, aber ich mag mich irren). Es gab beispielsweise in der Vergangenheit (und gibt vermutlich auch in der Gegenwart) immer wieder Kritiker:innen, die sich auf Leitungspositionen an Theatern beworben haben: Wenn diese nach ihrer Nichtberücksichtigung Schlechtes über die entsprechenden Theater schrieben, wird schon mancher und manchem der Verdacht gekommen sein, hier gehe es um so etwas wie Rache. Wer kann schon die tatsächliche Motivation beurteilen, aus der heraus ein Verriss geschrieben wird? Ob es sich um eine begründete Ablehnung oder um eine mit mühsam herbeigesuchten Argumenten kaschierte Revanche handelt, lässt sich oft gar nicht unterscheiden. Vielleicht ist der Unterschied nicht einmal der oder dem jeweils Rezensierenden bewusst.
Das alles ist natürlich von der Meinungsfreiheit gedeckt – zum Glück! Zum Problem wird es nur, weil sich in vielen Künstler:innen so ein enormer Frustrationsdruck aufstaut. Wenn eine Tänzerin oder ein Musiker einfach nur den Wunsch verspüren, ein Publikum an ihrem Talent teilhaben zu lassen, dann ist aus Sicht der Künstler:innen der Kritiker (oder die Kritikerin) der störende Teil im System. Wenn das Publikum am Ende jubelt, ein Kritiker aber schreibt, dass die Tänzerin oder der Musiker keine Ausstrahlung mitbringe, dann findet hier eine symbolische Verletzung statt – an dieser einfachen Wahrheit führt kein Weg vorbei. Der Verweis darauf, dass sich, wer die Öffentlichkeit sucht, auch der Kritik aussetzt, ist völlig richtig. Nicht immer jedoch ist künstlerisches Talent auch mit der nötigen Härte gepaart, Kritik jeder Art auszuhalten. Wenn sich Kritiker:innen in ihrem Schreiben zumindest immer bewusst machten, dass ihr Urteil Einfluss auf Karrieren haben kann, wäre schon einiges gewonnen.
Über das Recht, eine Mimose sein zu dürfen
Das größte Problem aber besteht darin, dass der beschriebene Frustrationsdruck der Künstler:innen oft kein Ventil findet. Im nachtkritik-Thread unter der Meldung von Goeckes Hundekot-Attacke hat der ehemalige Kasseler Intendant Thomas Bockelmann "goldene Regeln für den Umgang mit Kritik" gepostet. Die erste lautet: "Beklage Dich nie über eine schlechte Kritik." Gut möglich, dass er insofern recht hat, als dass das der souveränste Weg ist – aber: Wenn jemand eine Verletzung durch eine Kritik verspürt, warum sollte er sie nicht artikulieren dürfen? Im selben Thread bemerkt der geschätzte Kommentator "Luchino Visconti", dass "nicht wenige kräftig austeilende Journalisten […] hoch empfindliche Mimosen [seien], sobald umgekehrt Kritik an ihnen geübt wird". Vielleicht sollte man mal das Recht einfordern, eine Mimose sein zu dürfen. Das muss dann allerdings für Künstler:innen wie für Kritiker:innen gleichermaßen gelten.
Jedenfalls scheint es mir – abweichend zur Goldenen Regel Bockelmanns – enorm wichtig, dass Gegenrede zur Kritik Normalität wird und ein Forum bekommt (nachtkritik.de zum Beispiel). Man muss nicht nur den Künstler:innen, sondern auch den Kritiker:innen auf die Finger schauen können, was sie da tun. Und wenn eine Kritik zu weit oder unter die Gürtellinie geht, dann muss auch das deutlich benannt werden dürfen. Dass einem Kritik nicht wie "Scheiße am Ärmel" kleben bleibt, ist ein legitimes Interesse. Dass diese Scheiße danach allerdings nicht einfach irgendwoanders landen darf, das sollte bitte auch jedem klar sein.
Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war
Wolfgang Behrens
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, war von 2017 bis 2024 am Staatstheater Wiesbaden tätig – zunächst als Dramaturg, dann als Schauspieldirektor. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.
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nachtkritikvorschau
Ansonsten ist es doch ganz einfach: Die Frustration eines Künstlers/einer Künstlerin über eine Kritik gehört als Zeit-Zeichen realisiert - überaus schmerzvoll oder auch weniger - und als Kritik an der kritik in ebenfalls und ausschließlich KÜNSTLERISCHE Antwort verpackt.
Oder gar nicht beantwortet.
Das ist die Stärke JEDWEDER Kritik: Sie fordert und fördert die zeitkritische Kritik durch Kunst als kunstINHÄRENTE. Und wenn diese Zeitkritik von KünstlerInnen nicht KUNSTinhärent angewandt werden kann, sind sie am Ende ihrer selbst. - Zumindest als KünstlerInnen...
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Werter Claus,
sind Sie tatsächlich der Meinung, subjektive Kritiker*innenurteile und böse Verrisse rechtfertigen einen gewalttätigen und verächtlichen körperlichen Angriff wie den von Marco Goecke?
Mit freundlichen Grüßen aus der Redaktion, Esther Slevogt
Leider ist es so, dass scharfe, polemische, eindeutige Kritiken (im Positiven wie Negativen) mehr "fetzen" als mühsam abwägende, differenzierende Betrachtungen und entsprechend Kritikerkarrieren machen. Das liegt gewissermaßen in der Natur des Textgenres "Rezension".
In der Folge hat sich die von WB beschriebene "dicke Haut" tatsächlich zur Primärqualifikation für eine Laufbahn in Theater oder Oper herauskristallisiert.
(...)