Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war - Über ermöglichte und verunmöglichte Lernprozesse
Streichen Sie das bitte!
9. Mai 2023. Ein Theater kündigt einer Kritikerin wegen einer rassistischen Formulierung an, keine Pressekarten mehr an sie auszugeben. Gerechtfertigt oder nicht? Ein Plädoyer fürs Miteinander-Reden.
Von Wolfgang Behrens
9. Mai 2023. Als ich noch ein Kritiker war – es ist mittlerweile schon einige Jahre her –, unterlief mir einmal in einer nachtkritik.de-Rezension die Formulierung, ein Schauspieler habe seine Rolle als "eine gespreizt schwuchtelnde Charge" angelegt. Was ich damit zum Ausdruck bringen wollte, war wohl dies: Der Schauspieler hatte in meiner Sicht ein Repertoire von effeminierten Gesten aufgeboten, wie man es z.B. aus Bully-Herbig-Filmen wie "Der Schuh des Manitu" kennt, um seine Figur als Klischee eines Homosexuellen erscheinen zu lassen. Mir war diese stereotype Darstellung negativ aufgestoßen.
Keine diffamierende Absicht
Die Kritik war nur wenige Stunden veröffentlicht, als folgender Kommentar unter ihr erschien: "ich bitte darum die wortwahl des artikels zu überdenken. streichen sie das 'schwuchtelig' bitte und ersetzen es durch ein annehmbares adjektiv, herr behrens." Wenn meine Erinnerung nicht täuscht, habe ich daraufhin Rücksprache mit einigen Redaktionsmitgliedern gehalten, und wir entschieden, die Formulierung stehenzulassen, da sie eine Spielweise charakterisieren sollte und keine diffamierende Absicht verfolgte.
Einige Tage später besuchte ich erneut das Theater, über dessen Aufführung ich Obiges geschrieben hatte – und zu meiner Überraschung wurde mir beim Abholen meiner Karte mitgeteilt, ein Dramaturg des Hauses wolle mich sprechen. Der Ausdruck "schwuchtelnd" habe Irritationen am Theater ausgelöst – ob ich denn den Schauspieler, der (wie ich erst hier erfuhr) tatsächlich homosexuell sei, habe angreifen wollen? Nun ja, nein, ich wollte ihn nicht angreifen, jedenfalls nicht ihn persönlich, angreifen wollte ich nur seine (doch wohl von der Regie vorgegebene) Rolleninterpretation. Das Gespräch mit dem Dramaturgen verlief sehr freundlich: Mir wurde bewusst, dass meine Beschreibung etwas potentiell Beleidigendes enthielt – und ich versicherte im Gegenzug, dass es in keiner Weise meine Intention gewesen sei, den Schauspieler zu diffamieren, und ließ ihm mein Bedauern übermitteln, falls dies so angekommen sei.
Komplimente eingeschlossen
Ich schließe nicht aus, dass ich seinerzeit etwas befremdet war, derartig "zum Rapport" gebeten zu werden – doch grundsätzlich verhielt sich das Theater damals optimal, denn es schaffte ein schwelendes Missverständnis durch Kommunikation aus der Welt. Es blieb kein böses Blut zurück. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob die Angelegenheit heute erneut so verlaufen wäre. Ein gar nicht so unähnlicher Fall hat sich allerdings kürzlich ganz anders entwickelt. In einer Rezension für den "Online Merker" über eine Inszenierung des Wiener Burgtheaters schrieb eine Kritikerin, ein Schauspieler sei "als Hirten-Liebhaber farbiger [gewesen] als die Rolle sonst gesehen wird". Da es sich bei dem gemeinten Schauspieler um einen Schwarzen handelt, muss man das hier unternommene Wortspiel sicherlich als unangebracht und als rassistisch lesbar einstufen – auch wenn es allem Anschein nach von der Kritikerin nicht verunglimpfend gemeint war.
Die Kritikerin hatte jedoch nicht das Glück wie ich, die Sache in einem Gespräch beilegen zu dürfen. Stattdessen erhielt sie eine Zuschrift von der Ensemblevertretung des Burgtheaters, in der es hieß: "Als Theaterwissenschaftlerin und Kulturjournalistin wählen Sie Ihre Worte keinesfalls zufällig, daher sind Ihnen der Ursprung und die rassistische Bedeutung des aus der Kolonialzeit stammenden Wortes 'farbig' zweifelsfrei bekannt. Das Ensemble des Burgtheater stellt sich gegen jede Form des Rassismus, der Diskriminierung und der Mikroaggression in unserer Gesellschaft. Wir möchten Sie daher auffordern, künftig bedachter in Ihrer Wortwahl zu sein. Komplimente eingeschlossen." Zugleich wurde der Kritikerin mitgeteilt, dass "wir Ihnen ab sofort keine Pressekarten mehr zur Verfügung stellen".
Es gibt kein Grundrecht auf Pressekarten
Es liegt mir fern, hieraus einen Angriff auf die Pressefreiheit ablesen zu wollen. Es gibt meines Wissens kein Grundrecht auf Pressekarten – und die Diskussion, welches Medium warum wie viele Pressekarten erhält, könnte man auch einmal führen. (Offensichtlich sieht man die Pressekarten bereits als Teil eines Deals zwischen den Theatern und den Medien an: "Wenn ihr über uns berichtet, kommt ihr umsonst bei uns rein." Das ist keineswegs selbstverständlich. Wenn der Beruf der Kritiker:innen besser bezahlt wäre, könnten Kaufkarten für die Presse sogar das Bewusstsein für die "Wertigkeit" der Aufführungen schärfen, denn Zuschauer:innen müssen ihr ästhetisches Erlebnis ja durchaus zu ihrem finanziellen Einsatz ins Verhältnis setzen – Kritiker:innen im Normalfall nicht.)
Ein Angriff auf die Pressefreiheit läge wohl nur dann vor, wenn einem Kritiker Hausverbot erteilt würde. (Noch eine Klammer: Ich meine mich zu erinnern, dass Hans Neuenfels als Intendant der Freien Volksbühne in Berlin einmal einem Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Hausverbot erteilt hat, finde aber seltsamerweise im Netz keine Spuren von diesem Ereignis. Wenn jemand noch Näheres dazu weiß, freue ich mich über Hinweise.)
Der Sache ist nicht gedient
Also noch einmal: Der Kritikerin die Pressekarten zu entziehen, ist kein Eingriff in die Pressefreiheit. Die Absicht, sie abzustrafen, ist dennoch klar zu erkennen. Und hier beginnt für mich das Problem: Warum versucht das Burgtheater, die Angelegenheit auf konfrontative Weise zu bereinigen? Gerade in Fragen der Wortwahl, der political correctness, des Empfindens für das Diskriminierungspotential von Sprache kann doch nur dialogische Überzeugungsarbeit zum Ziel führen. Strafaktionen scheinen mir dazu nicht geeignet – wie viele Leute werden angesichts des geschilderten Falls trotzig bei sich denken: "Na gut, jetzt erst recht"? Der Sache ist damit nicht gedient.
Jahre später bin ich jedenfalls dem Dramaturgen von damals regelrecht dankbar, dass er sich über den sprachlichen Anstoß, den er genommen, mit mir einfach so direkt wie diskret ausgetauscht hat.
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
1. Schilderung aus: www.zeit.de/1990/14/ichundich
"Nach dieser denunziatorischen Berichterstattung erscheint es mir sinnlos, Herrn Stadelmayer in unserer Premiere zu sehen. Damit meine ich: Es ist doch eine Platzvergeudung, eine bereits vorgefertigte Kritik abzudrucken, zudem wir mit 240 Plätzen restlos ausgebucht sind. Es wäre doch vernünftiger, Sie würden, statt der Kritik von Herrn Stadelmayer, einem jungen Lyriker die Gelegenheit geben, zwei oder drei Gedichte in Ihrer Zeitung zu publizieren ... Es gibt also keine Karte für Herrn Stadelmayer am 25. März 1990, denn diese Premiere, auf die wir uns freuen, sollte nicht durch eine vorbestimmte Haltung einer Person behelligt werden."
2. Schilderung aus: bz-ticket.de/der-unermuedliche-trommler--129466739.html
"Dass der Weg des Künstlers im Theater immer eine Gratwanderung mit Absturzgefahr ist, auch im Hinblick auf die Selbsteinschätzung – diese Erkenntnis erspart uns auch ein Hans Neuenfels nicht. 1990 beendete er seine umstrittene Intendanz an der Freien Volksbühne Berlin vorzeitig. Und verweigerte zu seiner Abschiedsinszenierung dem Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Gerhard Stadelmaier, kurzerhand die Pressekarte: Die Premiere, "auf die wir uns freuen, sollte nicht durch eine vorbestimmte Haltung einer Person behelligt werden". Stadelmaier kam natürlich rein. Und wir lernen: Dünnhäutigkeit ist offenbar nicht nur ein Privileg des Bourgeois..."
Da hatt ich einen Kerl zu Gast,
Er war mir eben nicht zur Last,
Ich hatt so mein gewöhnlich Essen.
Hat sich der Mensch pumpsatt gefressen
Zum Nachtisch was ich gespeichert hatt!
Und kaum ist mir der Kerl so satt,
Tut ihn der Teufel zum Nachbar führen,
Über mein Essen zu raisonnieren.
Die Supp hätt können gewürzter sein,
Der Braten brauner, firner der Wein.
Der tausend Sackerment!
Schlagt ihn tot den Hund! Es ist ein Rezensent.
Vielen Dank für die Recherche!
da die Nachwelt bekanntlich dem Mimen keine Kränze flicht, tut sie´s dem Regisseur wohl auch nicht.
Daher wird´s Hans Neuenfels, Gott hab ihn selig, sicherlich nicht verdrießen, sondern im Gegenteil vielleicht sogar amüsieren, wenn Stadelmeiers Kritik, die er sich auf Friedrich Lufts zweiter Pressekarte erschrieb, sollte sie auch stachelig sein, nochmal zu lesen wäre.
Sollten Sie diese bei Ihrer Recherchearbeit aufgefunden haben, wäre es mir eine Freude, sie brächten sie noch einmal ans Licht.
Freundliche Grüße sendet,
Bialik
Sie schreiben mir vom Herzen. Das miteinander Reden, Dinge klären ist die Kunst. Ob "farbig" in diesem Zusammenhang generell Ausdruck von "rassistischem" Denken ist oder nicht, und ob die betroffene Kritikerin es so gemeint hat, wäre zu klären und nicht zu postulieren. Die schroffe Abgrenzung die das Burgtheater bemüht, ist für mich genau die Form von "Mikroaggressivität", die es ja anprangert.
Mein Rat: Mehr Fragen stellen als beantworten und Gelegenheiten ergreifen Menschen zuzuhören, die mehr Wissen als man selber.