Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war - Wolfgang Behrens über Digitalität im Theater
Feier der Abwesenheit
von Wolfgang Behrens
24. August 2021. Am vergangenen Wochenende ist es mir gelungen, mich gleich zweimal selbst zu überraschen. Einmal damit, dass ich – in aufgeräumter Stimmung auf dem Sofa einer Ferienwohnung irgendwo im niedersächsischen Nirgendwo sitzend – nach der Tagesschau nicht etwa den Fernseher ausschaltete, sondern zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Sendung "Verstehen Sie Spaß?" anschaute. Zum anderen damit, dass ich fast drei Stunden später bei ebendieser Sendung einen veritablen, solchermaßen kaum zu gewärtigenden Lachanfall erlitt. Und der kam so:
Ein mit versteckter Kamera gefilmter Clip zeigte Menschen, die mit einer Seilbahn das in den Allgäuer Alpen gelegene Walmendinger Horn befahren wollten. Eine lange Warteschlange (die man sich durch einen Aufstieg zu Fuß auf jeden Fall ersparen könnte) vergällte jedoch den Einstieg in dieses Vorhaben. Das "Verstehen Sie Spaß?"-Team wusste indes fingierte Abhilfe zu schaffen: Es versprach den in den hinteren Gefilden der Schlange Verharrenden, sie mittels einer Fast Lane ungleich hurtiger auf den Berg zu befördern. Der Slogan: "Fast Lane: Der digitale Zugang – Der schnellste Weg zum Gipfel."
Es schloss sich das erwartbar öde Gefoppe und Genecke an der vermeintlich digitalen Abfertigungsstation an, frei nach dem Motto: "Meinten Sie Banane?" Dann aber folgte die unerwartete Attacke auf mein Zwerchfell. Die Fake-Maschine bat die ihrer Auffahrt entgegenfiebernden Alpinisten um ihre Face-ID: "Bitte bewegen Sie Ihr Gesicht in kreisförmigen Bewegungen!" Worauf sich eine schlingernde Choreografie der Köpfe und Mienen entspann, ein Drehen und Kreisen und Eiern, das komischer kein professioneller Tänzer aufzuführen wüsste. Der Kasus machte mich an sich schon lachen, doch erst durch die köstliche Metapher, die das Ballett der Gesichter darbot, wurde meine Belustigung ihrem konvulsivischen Höhepunkt zugetrieben: Wenn die Digitalität (oder wengistens die digitale Schnittstelle) es verlangt, sind die Meisten nur allzu bereit, über jedes Stöckchen zu springen, das man ihnen hinhält.
Was durchaus auch fürs Theater gilt. Wenn irgendwo im theatralen Kontext das Label "Digitalität" auftaucht, besteht sofort Fortschrittsverdacht. Im Zweifelsfall können dann besondere Fördertöpfe angezapft werden, auch darf man hoffen, verstärkte mediale Aufmerksamkeit auf das eigene Projekt zu lenken. Nicht zuletzt deswegen – so mein Verdacht – gibt es an den Theatern einen gewissen Hype des Digitalen (oder dessen, was man dafür hält) zu verzeichnen. Ein Theater, das von sich sagen kann, dass es sich der Welt des Digitalen öffne, beweist damit nicht nur seine Zeitgenossenschaft, nein, es zeigt sein Innovationspotential und seine Zukunftsfähigkeit. Was dabei allerdings leicht ins Hintertreffen geraten kann, ist die Frage, was das Theater tatsächlich durch die Digitalität gewinnt.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Theater sind Betriebe, und als solche sollten sie im Zuge der Digitalisierung der Arbeitswelt hochwertig ausgerüstet sein. Hier besteht sicherlich bei vielen Theatern Nachholbedarf – was bei der Grundausstattung in Verwaltungen und Gewerken anfangen dürfte und in den sichtbaren Bereichen der Kunst nicht haltmacht: Dass beispielsweise in manchen Bühnenräumen kein Highspeed-Internet verfügbar ist, hat wohl schon einige künstlerische Ideen zunichte gemacht.
Theater braucht Raum
Es geht mir auch nicht darum, Denk-, Forschungs- oder gar Gestaltungsverbote aufzustellen – wo sich das Digitale als künstlerisch produktiv erweist: Her damit! Formate wie werther.live, um nur eines unter vielen zu nennen, haben selbstverständlich gezeigt, dass da was geht. Mir geht es um etwas anderes, um eine Art Digitalisierungsdruck, dem sich die Theater nicht zuletzt in der Pandemie ausgesetzt sahen (oder sich selbst ausgesetzt haben). Nicht selten kamen in den letzten Monaten Fragen auf wie: Warum machen die Theater so wenig? Warum zeigen sie sich nicht im Digitalen? Warum nutzen sie nicht die Möglichkeiten des Internets? Warum wird so wenig gestreamt? Und umgekehrt verfielen manche Theater vielleicht auch in Aktionismus, bedienten die Forderungen der digitalen Gemeinde und bewegten auf diese Weise gewissermaßen kreisförmig ihr Gesicht.
Im Wesen des Digitalen steckt meines Erachtens eine Reduktion auf den Informationswert. Darin gründet etwa die ästhetische Unterlegenheit des eBooks gegenüber dem Buch: Das eBook bildet einfach nur den Text ab, überliefert seinen Informationsgehalt – das Buch hingegen bildet im Idealfall eine Komposition aus dem Text, den gewählten Materialien, dem Satz, der Gestaltung. Im Theater finden sich diese Verhältnisse vergrößert: Auf dem Bildschirm (VR-Brillen lasse ich hier aus, wohlwissend, dass hier andere Gesetze herrschen) wird die Inszenierung zu einer reinen Informationsübermittlungsveranstaltung. Theater aber braucht Raum, Geruch, Menschen, Feedbackschleifen zwischen dem Publikum und den Darstellern und vieles mehr. Erst so konstituiert sich das ästhetische Erlebnis Theater. Anders als die längst ins Asoziale schielenden Social Media ist Theater ein wirklich soziales Medium, eine Feier der Präsenz der Anderen. Das Digitale hingegen ist eine Feier der Abwesenheit.
Wenn sich in der Pandemie die Theater entschieden hätten, nichts in die digitale Welt hinauszusenden – ich hätte das verstanden, ich hätte es sogar begrüßt. Warum sollte man das Publikum, also diejenigen, für und mit denen man das Theater erschafft, an rein informative Surrogate gewöhnen? Als die Theater geschlossen waren, hat das Theater gefehlt. Dieses Fehlen war für alle, die das Theater lieben, sehr schmerzhaft. Um des Markenkerns willen sollten die Theatermenschen diesen Schmerz aber vielleicht doch auszuhalten lernen – anstatt mit einer Fast Lane einen ästhetisch unergiebigen digitalen Zugang zu suchen.
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.
Zuletzt schrieb Wolfgang Behrens über das inflationäre Attribut "radikal" in Kunstkontexten.
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danke, daß ihr einen Artikel zum Stand der Debatte von Mai 2020 bringt.Leider hat der Beitrag keinen neuen "Informationswert".Schaut sich der Autor ab und zu eure website an? Euere Zoom-In Zusammenfassungen?
Natürlich kann man solche Entwicklungen ablehnen/ignorieren --> aber zu schreiben, die Theater hätten mal besser gar nichts gemacht ist doch haarscharf an der Realität vorbei.
Aus dieser Erfahrung aber abzuleiten, "im Wesen des Digitalen" stecke generell eine "Reduktion auf den Informationswert" erscheint mir dann doch wirklich absurd kurz gegriffen.
Die Tatsache, dass eine Form / ein Medium von den meisten bei weitem (noch) nicht in all seinen Potentialen bespielt wird, ist doch kein Beweis dafür, dass diese nicht existieren.
Ganz im Gegenteil werden - wenn wir weiter in diese Richtung gehen wollen - noch eine Vielzahl schlechter, seltsamer, halbgarer, gescheiterter Projekte nötig sein.
(Und es gab ja auch wirklich eine ganze Menge toller Produktionen - v.a. der freien Szene - in denen Form, Inhalt, Feedbackschleifen, Ästhetiken wunderbar zusammenkamen - kurz: alles, was Herr Behrens vermisst hat. Samara Herschs "Body of Knowledge", Ming Poons "Intervention of loneliness“, Laura Tontschs "Kult der toten Kuh" - just to name a few.)
So ist es. Ästhetische Erfahrung ist in der Sinnlichkeit der Wahrnehmung verankert, d.h. sie nimmt dort ihren Ausgang und bleibt stets auf die Sinne bezogen. Ein besonderes Merkmal ästhetischer Wahrnehmung ist ihr grundsätzlich synästhetischer Charakter. Synästhetische Aufmerksamkeit hat mit der Leiblichkeit der ästhetischen Wahrnehmung zu tun. All' das findet bei abgefilmten Theater so gut wie nicht statt. Denn abgefilmte Theatervorstellungen sind keine Filmkunstwerke. Letztere können durch eigene Gesetzmäßigkeiten (Schnitt, Narration, Auflösung) synästhetische Erfahrungen ermöglichen.
Die Theater hätten als Live-Kunst in der Pandemie digital schweigen sollen. Hat Shakespeare in den Trauerjahren auch nicht geschadet.
Natürlich kann man streamen und neue Formate entwickeln, die auch sehr spannend sein können und wird in der Spieleentwicklung längst in weit vorangeschrittenen Varianten gemacht. Aber das ist eben was Anderes, als gemeinsam mit anderen Menschen in Zeit und Raum zu sein und anderen (meist Menschen) bei ihrem Tuen beizuwohnen UND sich irgendwie eine Meinung, eine Haltung zu dem Gezeigten zu bilden. Und das eben wieder Gemeinsam! Respektive jeder irgendwie für sich, ABER eben vermischt mit all den Gedanken zu den ANDEREN Anwesenden und ihren möglichen Gedanken zu dem Gezeigten. Im Theater bin ich eben immer mit meinen Mitmenschen und ihrem 'Geschmack', fehlenden Humor an der richtigen Stelle, ja überhaupt mit ihrer PRÄSENZ konfrontiert.
Die Entscheidung für Theater, als Macher oder Zuschauer, ist immer auch eine Entscheidung für die Begegnung mit meinen Mitmenschen. Selbst wenn die ärgerlich, oder anstrengend ist. Das erachte ich als das eigentlich Grossartige an dieser Kunstform.
Warum man nun ausgerechnet dieses anachronistische Setting eliminieren will, den Begriff Theater aber beibehalten möchte leuchtet mir nicht ein. Wieso? Warum?
Wenn ich Fussball spielen will, dann spiele ich ja vielleicht bewusst Fussball und nicht weil Fussball irgendwie das uninteressante(oder altbackene..) Eishockey ist.
und @sowieso: der Kolumnist schreibt zwar an einer Stelle von "künstlerisch produktiven Digitalformaten", setzt aber ansonsten ziemlich durchgängig "digital" mit Videoübertragung / Fernsehen gleich, und das ist schade. Hier geht einiges durcheinander, auch in einigen Kommentaren. Das wäre vielleicht an anderer Stelle mal zu diskutieren, wird in der Tat auch inzwischen weltweit sehr engagiert, informiert und produktiv diskutiert. Hier aber eher nicht, hier wird digital gesendet, und die EmpfängerInnen sind erstmal egal, und das passt dann soweit auch gut zum "digitalen", wie es viele Theater und möglicherweise auch der Kolumnist verstehen. Tja.
Was mich in der Krise trotzdem genervt hat, war ein selbstauferlegter Zwang vieler Theater, sich im Netz zu präsentieren. Und diesem Zwang wurde dann auf oft inferiore Weise nachgekommen, vom schlecht abgefilmten Theater (das sich ja durch seine Verfügbarkeit im Netz aus dem lokalen und sozialen Kontext des jeweiligen Theaters löst und im Grunde plötzlich mit allen anderen Theaterangeboten bis hin zu Netflix etc. konkurriert) bis hin zu wirklich schauerlichen Making-Of-Filmchen hinter den Kulissen, die als aufregende "Serien" präsentiert wurden. Das alles jedoch schlicht als "das Digitale" zu benennen, war in der Tat kurzschlüssig von mir.
Und noch ein Trotzdem: Wenn das Theater als Kunstform von Belang bleiben möchte, kann es zwar jede Quelle nutzen und jedes künstlerische Mittel einsetzen - den Markenkern aber sollte es nicht aufgeben. Und der besteht nun einmal in Schauspieler:innen die vor einem Publikum agieren und mit diesen für eine bestimmte Zeit einen künstlerisch-sozialen Raum bilden, in dem Interaktion stattfindet. Wenn man so tut, als könnte etwas Anderes für das Theater einspringen und es ersetzen, wird man Letzteres auf Dauer empfindlich schwächen. Wenn man hingegen etwas Anderes macht als Theater, ist das völlig in Ordnung - man muss es dann ja nicht unbedingt Theater nennen.
Natürlich gab es spannende Experimente jenseits des abgefilmten Theaters (wer erinnert sich noch an den Theaterkanal des ZDF? eingestellt wegen nicht mehr meßbarer Zuschauerzahlen), aber letzten Endes lebt doch Theater vom lebendigen Austausch zwischen Bühne und Publikum. Da ist jeder Abend anders, auch wenn es sich um die gleiche Inszenierung handelt...
Wer mal die Spielzeithefte für die neues Saison 21/22 durchblättert, stellt fest: da ist vom Digitalen nicht mehr viel übriggeblieben ...