Kolumne: Heimatgeschichten - Lara-Sophie Milagro findet im Filmbusiness die Emanzipation im Glitzerkleid und schaut auf die nackten Zahlen darunter
No more feministische Mogelpackung!
von Lara-Sophie Milagro
8. Dezember 2020. Gegen "Arielle, die Meerjungfrau", "Vaiana – Das Paradies hat einen Haken" und "Küss den Frosch"-Prinzessin Tiana hatte ich mich erfolgreich zur Wehr gesetzt und mich geweigert, meiner 4-Jährigen Tochter Haarspangen, T-Shirts oder Bettdecken zu kaufen, die, egal ob in der (B)PoC oder in der weißen Variante, das immer gleiche, mandeläugige Kindchenschema als weiblich an den Mann bzw. das Mädchen bringen. Schließlich möchte ich meinem Kind ein progressives Frauenbild mitgeben: Stark und selbstbewusst soll sie ins Leben schreiten, ihr Potential entfalten und ihren Körper weder einer Hungerhaken- noch einer Knackpo-Doktrin unterwerfen.
Scheitern an Elsa
Diesem Kurs bin ich eisern treu geblieben – bis Elsa in unser Leben trat. Der Übermacht der Eiskönigin aus Disneys "Frozen II", das vor einem Jahr in die deutschen Kinos kam, ihrer Schwester Anna, nebst Schneemann Olaf und Rentier Sven habe ich nichts entgegenzusetzen. Denn egal ob in der Spielzeugabteilung, bei H&M oder Rossmann – meine Tochter bearbeitet mich so lange, bis ich irgendwelchen Tinnef aus dem Königreich Arendelle zu absolut wahnwitzigen Preisen zur Kasse trage.
Von der Elsa-Merchandising-Maschinerie wird mir indes versichert, dass ich meinem Kind mit dem Snow Nagellack, Frozen Müsli oder Rentier Schal sogar ein Stück emanzipatorischer Geisteshaltung der beiden "rebellischen Prinzessinnen" mit auf den Weg gebe, und selbst die EMMA spricht von den beiden Eisschwestern als "Feministinnen, wenn auch im Glitzerkleid". Angesichts der Tatsache, dass Elsa und Anna, genau wie unzählige Disney-Prinzessinnen vor ihnen, das Wespen-Taillen Ideal verkörpern, kein eigenes Geld verdienen und wie selbstverständlich einer illusionär konsumistisch geprägten Wohlstandswelt beiwohnen, werde ich jedoch das Gefühl nicht los, dass es sich hier weniger um feministischen Glitzer, als vielmehr um eine feministische Mogelpackung handelt.
Arte sucht eine Regisseurin
Genau dieser Eindruck drängte sich auch vielen Filmemacher*innen auf, als der Sender Arte Ende Oktober unter dem Titel "Regisseurin gesucht" einen Kurzdokumentarfilmwettbewerb ausschrieb, bei dem Nachwuchs Regisseur*innen dazu aufgefordert wurden, bis zum März nächsten Jahres einen bis zu zwölf Minuten langen Dokumentarfilm zum Thema "unbeschreiblich weiblich" einzureichen. Der aus den 10 besten Einsendungen gekürten Gewinnerin wurde ein Entwicklungsvertrag für ein Dok-Filmprojekt mit Arte in Aussicht gestellt. Doch die Ausschreibung geriet zum Paradebeispiel dafür, wie eine Aktion, die eigentlich dazu gedacht war, einem Missstand entgegenzuwirken – der nach wie vor eklatanten Unterrepräsentation weiblicher Filmschaffender in allen Gewerken – eben diesen Missstand unfreiwillig offenbart.
Auf Initiative der Filmemacherinnen Pary El-Qalqili und Biene Pilavci formierte sich ein breiter Protest, getragen von zahlreichen Verbänden und Kollektiven wie dem Bundesverband Regie (BVR), dem Bundesverband der Editoren und dem First Step Award sowie über 600 Kunst- und Kulturschaffende, darunter Sophie Maintigneux, Karin Jurschik, Frederick Lau und Jakob Lass. In einem Mitte November veröffentlichten offenen Brief kritisieren die Unterzeichner*innen, die Arte-Ausschreibung nicht als Teil der Lösung, sondern Ausdruck eines strukturellen Problems.
"Regie ist nicht unser Hobby, sondern unser Beruf", heißt es darin, "ARTE schreibt einen Wettbewerb aus, für den Filmemacherinnen einen Kurzdokumentarfilm produzieren und einreichen sollen. Das bedeutet, die Regisseurinnen* sind aufgerufen, unentgeltlich einen Film herzustellen." Die Ausschreibung trüge so zu künstlerischer (Selbst-) Ausbeutung bei, wobei von vorneherein "erneut diejenigen ausgeschlossen sein werden, die sich ein selbstfinanziertes Filmprojekt nicht leisten können." Zudem fördere der Wettbewerb keinesfalls eine strukturelle Gleichberechtigung von Frauen, denn selbst der Gewinnerin würde weder eine Produktion noch ein Prime Time Sendeplatz garantiert.
Nach der Hochschule endet der Weg für viele
In der Tat stolpert man bereits über den Titel der Ausschreibung, der die Frage aufwirft, warum man eigentlich nach qualifizierten Regisseurinnen auf die Suche gehen muss, wenn man bedenkt, dass 57 Prozent der Regie-Absolvent*innen an deutschen Hochschulen weiblich sind. Im Ausschreibungstext selbst gibt der Sender immerhin ehrlich zu, dass "Fakt ist, dass viel zu wenig Dokumentarfilme von Frauen auf Arte gezeigt werden. Und das, obwohl viele extrem talentierte und sehr engagiert arbeitende Filmemacherinnen sich an Journalismus- und Dokumentarfilmschulen ausbilden lassen. Warum nur zeichnet sich diese Realität bisher nicht auf dem Bildschirm ab?"
Ja, warum? Denn obwohl Initiativen wie der Verband der Filmarbeiterinnen oder Pro Quote Regie/Film seit nunmehr fast vier Jahrzehnten beharrlich darauf hinweisen, dass Frauen im deutschen Film und Fernsehen vor und hinter der Kamera strukturell benachteiligt werden, hat das bisher offenbar nicht dazu geführt, dass die Branche in Puncto Gendergleichheit einen grundlegenden Kurswechsel eingeleitet hätte. So kommt eine Untersuchung der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm zu dem Schluss, dass 2017 nur 30 Prozent der Kino-Dok-Filme von Frauen gedreht wurden, nur ein Viertel der Fördergelder im Dokumentarfilmbereich an Frauen ging und diese im Falle einer Förderung durchschnittlich 136.000 Euro weniger pro Film bekamen als Männer. Der Diversitätsbericht des Bundesverbands Regie bescheinigt dem fiktionalen Bereich noch weniger weibliche Regie-Präsenz: Nur 20 Prozent der Produktionen bei ARD und ZDF stammten 2018 von Regisseurinnen, für den Kinobereich gelten ähnliche Zahlen.
Studien zur Unterrepräsentation von Frauen
Dass sich in Deutschland hinsichtlich der Geschlechtergleichheit in Film und Fernsehen so lange so wenig bewegt hat, liegt sicherlich auch daran, dass es genau diese Zahlen bis vor wenigen Jahren nur sporadisch oder gar nicht gab. Gender Pay Gap und ungleiche Verteilung von Fördergeldern waren zwar allgemein bekannt, aber es fehlte an kontinuierlich geführten, groß angelegten Studien und Erhebungen, die die offensichtliche Schieflage konkret belegen können.
Im Herbst dieses Jahres wurde mit der Initiative "Vielfalt im Film" die erste umfassende Befragung dieser Art im deutschsprachigen Raum abgeschlossen, in der Filmschaffende in Deutschland zu ihren Erfahrungen mit Chancengleichheit, Vielfalt und Diskriminierung befragt wurden. Die Ergebnisse der Umfrage, die von einem breiten Spektrum an zivilgesellschaftlichen und künstlerischen Organisationen und Institutionen wie Citizens for Europe, crew united, Pro Quote Film, der Filmuniversität Babelsberg, Leidmedien.de und Schwarze Filmschaffende ermöglicht bzw. unterstützt wurde, werden für Frühjahr 2021 erwartet und dürften wegweisend für die künftige Diskussion über weibliche Unterrepräsentation in künstlerischen Schlüsselpositionen sein.
Quoten-Forderung
Denn natürlich ist der Arte-Wettbewerb nur eines von vielen Beispielen für ein grundsätzliches Gender-Ungleichheitsprinzip im deutschen Kunst- und Kulturbetrieb. Trotzdem oder gerade deshalb nahmen die Unterzeichner*innen des Offenen Briefes ihn zum Anlass, nicht nur eine Überarbeitung dieser Ausschreibung, sondern auch konkrete, längst überfällige strukturelle Schritte einzufordern: die Einführung der 50/50 Gender-Quote für alle eingekauften Produktionen zum Beispiel, transparente Maßnahmen zur Gendergleichberechtigung, ein jährliches Gender-Monitoring, verpflichtende Anti-Diskriminierungsfortbildungen zur Sensibilisierung von Entscheidungsträger*innen sowie gleichberechtigte Teilhabe von Regisseurinnen* of Colour, trans*Personen, non-binären Filmemacher*innen, Filmemacher*innen mit körperlicher Beeinträchtigung und Filmemacher*innen aus nicht privilegierten Familien.
Wen dieser Maßnahmenkatalog überfordert, möge sich daran erinnern, dass es nur einen Weg gibt, mehr Schlüsselpositionen in Film und Fernsehen mit Frauen zu besetzen: Man(n) muss es machen. No more feministische Mogelpackung.
Lara-Sophie Milagro ist Schauspielerin, in der Leitung des Künstler*innen Kollektivs Label Noir, Berlinerin in der fünften Generation und fühlt sich immer da heimisch, wo Heimat offen ist: wo sie singt und lacht, wo sie träumt und spielt.
In ihrer letzten Kolumne schrieb Lara-Sophie Milagro über zweierlei Maß bei der Besetzungspolitik in Film und Theater.
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