(In-)Glorious Avengers!

von Şeyda Kurt

12. Januar 2020. "You are beautiful, but you will always remind me of violence." – Otobong Nkanga 

Im Juni schrieb ich eine Kolumne über einen kurdischen Schauspieler, seinen toten Hund und meine Mutter, die jeden Abend vor dem Fernseher von der Karibik träumt. Ein Leser kommentierte: "Tja! Wieso geht ihre Mutter nicht in das Theater?!" Prompt kochten meine Komplexe hoch, die viele Kinder von migrantischen Eltern aus der Arbeiter*innenklasse kennen dürften. Das Gefühl, dass solche beiläufigen, vermutlich gar nicht böse gemeinten Fragen als demütigender Tadel meine, unsere Unzulänglichkeit adressieren.

Nun könnte ich antworten: Meine Mutter besitzt einen brandneuen Smart-TV, auf dem sie über 1000 Kanäle empfängt, warum sollte sie ins Theater? Ich könnte auch aus Bourdieus Schriften zitieren, soziales Kapital, kulturelles Kapital, soziale Räume, die durch ihre Architektur, ihr Branding oder ihre Ansprache Zugehörigkeiten signalisieren und absprechen. Blabla. Ich könnte auch erwähnen, dass Theatervorstellungen für Erwachsene meist abends beginnen, und ehrlich, wer hat denn das Privileg, nach 19 Uhr noch Energie für irgendetwas zu haben?

Platzen vor Unbehagen

Aber für soziologische Analysen stehen Bibliotheken oder Google zur Verfügung, selbst auf YouTube finden sich Vorträge von Bourdieu, also entscheide ich mich für eine empirische Herangehensweise an die Fragestellung und wende mich eines Januarmorgens beim Frühstück an meine Mutter. "Mama, warum gehst du nicht ins Theater?"

NAC Kolumne Seyda Kurt V1Meine Mutter ist ein praktisch denkender Mensch, und während ich fancy Vokabeln aneinanderreihe, um das Patriarchat für all das Übel auf der Welt verantwortlich zu machen, bricht sie in Schimpftiraden über ihren Vater und meinen Vater aus, unterdessen beiße ich in ein mit Pastırma belegtes Brötchen. Die Männer in ihrem Leben seien zu geizig gewesen, als dass sie mal Geld für Theatertickets hätten springen lassen. Und ohne seine Begleitung hätte mein Vater sie sowieso nicht ausgehen lassen! Daher habe sie nie ein alman tiyatrosu besuchen können.

Da horche ich auf: "Hä, das stimmt doch gar nicht!" Ich muss sie daran erinnern, wie ich sie vor einigen Jahren ins Schauspiel Köln schleppte, zu einer Inszenierung von "Dogville", nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier. Und während ich versuche, meine Mutter daran zu erinnern, die sich nicht erinnern kann oder will, erinnere ich mich daran, dass ich vielleicht gar nicht will, dass meine Mutter sich erinnert. Weil ich an die minutenlange, explizite Vergewaltigungsszene der Protagonistin auf der Bühne denke. Und ich erinnere mich, wie ich damals auf meinem Sitz herumzuckte, eine gefühlte Ewigkeit, und vor Unbehagen platzen wollte, während ich an meine Mutter neben mir dachte, ein traumatisierter Mensch, der in seinem Leben viel Gewalt erfahren hat, auch sexualisierte Gewalt.

In den Zwischenräumen

Ich hätte es ahnen müssen. Weiße, bürgerliche, cis-männliche Theatermacher lassen selten eine Gelegenheit aus, irgendwen, am liebsten weibliche Figuren, nackt und vermeintlich hilflos vorzuführen. Und der Film "Dogville" ist eine Steilvorlage! Doch damals hegte ich Hoffnung. Das Theater ist doch ein intellektueller Ort, dachte ich, da wird doch niemand einen Film konsequent adaptieren, ohne die Erzählung und die Repräsentation kritisch zu reflektieren, sie zu brechen, zur Diskussion zu stellen. Denn warum sollte ich überhaupt ins Theater, wenn ich mir den Film auf meinem Flatscreen anschauen kann? 

Warum nehmen Theatermachende immer noch in Kauf, ihr Publikum mit darstellerischen Plattitüden von sexualisierter Gewalt zu belästigen, einen Teil von ihnen zu retraumatisieren und das Theater zu einem noch unzugänglicheren Raum zu machen? Vielleicht, weil es einfacher ist, die Vergewaltigung als ein absolutes, punktuelles Verbrechen mit Schock-Charakter darzustellen, anstatt ein dramaturgisches Gespür für die Zwischenräume und Dynamiken zu entwickeln, in denen sich (sexualisierte) Gewalt und Herrschaft schleichend und fast unbemerkt manifestieren (Bourdieu lässt grüßen). Dabei sind es gerade diese Zwischenräume, die zählen. Auch, weil sich in ihnen der Widerstand der Betroffenen einnisten und wachsen kann.

Füße hoch und Attacke

Ich lehne nicht jede Gewaltdarstellung ab. Es stellt sich mehr die Frage, wem die Gewalt nützt und welche Muster von Repräsentation sie aufweist. Der Dramaturg und Autor Max Czollek schreibt in seinem Buch Desintregiert euch! über das subversive und empowernde Potenzial von Rachekunst für marginalisierte Menschen: Sie ermögliche es, aus der zugeschriebenen Opferrolle auszutreten und eine (kollektive) Antwort auf die eigene Betroffenheit zu formulieren. Wenn ich mich etwa über die AfD und andere Faschos ärgere, schaue ich mir nach Empfehlung von Czollek gerne den Film "Inglourious Basterds" an, am liebsten die Szene, in der Lieutenant Aldo Raine ankündigt: "We’re gonna be dropped into France, dressed as civilians. And once we’re in enemy territory, as a bushwhackin' guerrilla army, we're gonna be doing one thing and one thing only…killin' nazis."

Bei "Dogville" folgt die Rache der Protagonistin jedoch nicht aus politischem Empowerment oder kollektiver Verbündung. Sie hat stattdessen ganz zufällig einen Mafia-Daddy, der die Angelegenheit kurzerhand klärt. Dabei hätte das Theater auch hier mit Umdeutungen experimentieren können, die Repräsentationen von Selbstverteidigung als einer Form solidarischer Praxis gegen Ungerechtigkeit erkunden.

Wenn die Theater wieder eröffnen sollten, begleite ich meine Mutter wieder ins Theater. Am liebsten in ein feministisches Rache-Stück, bestenfalls in türkischer Sprache. Die Darstellenden sollten um die 60 Jahre alt sein. Und wir brauchen einen Hocker, auf dem wir die Beine hochlegen können, denn meine Mutter hat Rückenschmerzen. Und dazu wollen wir Brötchen mit Pastırma serviert bekommen. Tja!

 

Şeyda Kurt ist Autorin und Moderatorin. Sie studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. In ihrer Kolumne ❤️topia begibt sie sich auf die Suche nach Utopien der Liebe auf der Bühne: Was erzählt uns das Theater über Zärtlichkeit? Und wo bleiben neue Visionen von Romantik, Freund*innenschaft und Solidarität?

 

Zuletzt gab Şeyda Kurt Tipps für andere Themen auf den Spielplänen.

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Kommentare  
Kolumne Kurt: Hocker garantiert
SUPER Text von Kurt! Ich bin jerne bereit mit ihr so ein Theater zu gründen. Der Witz ist: Das Theater braucht Filme gar nicht umdeuten, wenn DramamturgInnen, IntendantInnen und RegisseurInnen - vor allem aber SchauspielerInnen von vorneherein Darstellungsnotwendigkeit von "Repräsentationen von Selbstverteidigung als einer Form solidarischer Praxis gegen Ungerechtigkeit" dächten! Tun sie aber -seit mindestens 2 Jahrzehnten - nicht. Entweder, weil sie ohne ihre Hausfilosofen nicht denken können, ohne Theater als Institution im Rücken nicht solidarisch sein können oder in ihrer Wohlfühlblase Ungerechtigkeit erst gar nicht als Realität sehen brauchen - Unegerechtigkeit reicht ihnen sozusagen als reiner Wille und Vorstellung - logisch, dass sie dann ebenso wenich Klar-Sicht auf Liebe haben, die schließlich auch existiert...

@ Kolumnistin: Bitte grüßen Sie Ihre Mama, die in meinem Theater unaufgefordert einen Hocker zum Füßehochlegen bekäme - Sie natürlich nich - Sie müssen sich die Akzeptanz Ihrer Rückenschmerzen wegen Ihrer Jugend erst noch verdienen... Ich sehe aber gute Chancen dafür in Ihrem Falle!
Kolumne Kurt: super Artikel
Super Artikel. Ich versuche zu unterscheiden, wann das Theater so schockiert, dass eine Art Katharsis oder Verarbeitung stattfinden kann und wann es Machtstrukturen weiter bestärkt und/oder verfestigt. Ich habe das Stück nicht gesehen, doch die Rache des Vaters lässt auf ein patriarchales Erhalten von Machtstukturen rückschliessen. Am Ende kam mir der Gedanke einer Triggerwarnung auf, doch wie sollte diese aussehen und sollte sie überhaupt sein?
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