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Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
4. Oktober 2024. Wie der Berliner Tagesspiegel berichtet, übernimmt das Duo Vegard Vinge und Ida Müller die Intendanz der Volksbühne Berlin.
Dem Artikel (€) zufolge werden die beiden mit Dreijahresverträgen ausgestattet, die ab sofort Gültigkeit hätten. Berlins Kultursenator Joe Chialo hatte im Mai angekündigt, dass einer neuen langfristigen Intendanz ein Interim vorhergehen solle. Mit Vinge und Müller sind dafür nun offenbar die geeigneten Kandidat*innen gefunden. Die Pressestelle der Volksbühne hat die Informationen des Tagesspiegels zwar nicht bestätigen wollen, nachtkritik.de schätzt sie aber aufgrund eigener Erkenntnisse für sehr wahrscheinlich richtig ein.
Vegard Vinge und Ida Müller lernten sich in den Nullerjahren während ihres Studiums an der Universität der Künste Berlin kennen. Der Norweger Vinge studierte dort Regie, Ida Müller Bühnenbild. Seit 2008 arbeiten sie gemeinsam, unter anderem an der Volksbühne Berlin und bei den Berliner Festspielen. Bekannt wurden sie durch aufwendig gestaltete, immersive Theaterarbeiten, die sich vor allem mit dem Werk Henrik Ibsens auseinandersetzen.
Vinge zog mitunter auch durch offensive Provokationen die Aufmerksamkeit auf sich. So bewarf er das Publikum im Rahmen von Aufführungen der Produktion "Das 12-Spartenhaus" mit Fäkalien und besprühte den Bühnenmeister mit einem Feuerlöscher. Die gemeinsame Inszenierung des Dramas "John Gabriel Borkman" von Ibsen an der Volksbühne dauerte bis zu 12 Stunden. Die Inszenierung wurde 2012 zum Theatertreffen eingeladen, genau wie "Nationaltheater Reinickendorf" im Jahr 2018, ihrer letzten Arbeit im deutschsprachigen Raum. Seither hatten sie in Norwegen, Vinges Heimatland, gearbeitet.
Die Neubesetzung der Intendanz wurde erforderlich, da René Pollesch, der die Leitung der Volksbühne 2021 übernommen hatte, im Februar überraschend starb. Bereits Pollesch hatte Vinge und Müller fest an die Volksbühne holen wollen, zu einer Verpflichtung der beiden kam es aber nicht. Eine Entscheidung, wer das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz langfristig übernimmt, ist laut Kultursenator Joe Chialo frühestens im Sommer 2025 zu erwarten.
(Tagesspiegel / miwo)
Nachtkritiken zu Inszenierungen von Vegard Vinge und Ida Müller:
- John Gabriel Borkman an der Berliner Volksbühne (10/2011, hier der Shorty zum Gastpiel beim Theatertreffen)
- 12-Spartenhaus an der Berliner Volksbühne (5/2013)
- Nationaltheater Reinickendorf beim "Immersion"-Festival der Berliner Festspiele (7/2017)
Andere Beiträge zu Vegard Vinge: - Buchkritik: Dramaturgie des Daseins – Essays von Carl Hegemann mit Illustrationen von Vegard Vinge (7/2021)
Medienschau
"Es ist davon auszugehen, dass die Volksbühne bis an den Rand des Zusammenbruchs gestresst wird. Wenn es aber ein Theater auf diesem Planeten gibt, das eine solche Herausforderung annehmen kann, dann ist es dieses gestählte und mutige Haus, das auch schon von Frank Castorf oder Christoph Schlingensief in Krisen gestürzt wurde und dabei nicht selten zugleich seine besten Phasen erlebte", kommentiert Ulrich Seidler für die Berliner Zeitung (online 4.10.2024). Vinge/Müller "sind für Kunstsessions bekannt, die die Spieler, das Publikum und den Betrieb bis aufs Äußerste strapazieren und die Überforderung suchen." Nach einer einlässlichen Beschreibung der provozierenden Inszenierungsweise der beiden heißt es: "Mit diesen Mitteln, die zugegebenermaßen abstoßend und kindisch klingen, vermochten die beiden dennoch bürgerliche Nöte und Ängste zu triggern und kathartische Wirkungen zu erzielen."
"Dieses Theater wollte anknüpfen an die zerdehnte Zeit, die durch Binge Watching bei Streamingdiensten zur prägenden kulturellen Form geworden war", kommentiert Tobi Müller im Deutschlandfunk Kultur (5.10.2024) mit Blick auf die letzte Berliner Arbeit des Duos im Jahr 2017 die Causa. "Seitdem war von Vegard Vinge und Ida Müller nichts mehr zu sehen in Deutschland. Sie haben auch noch nie ein Haus geleitet. Und jetzt sollen sie eins in ernsthafter Schieflage übernehmen, in einer Stadt, die gerade den Kulturhaushalt schlachten muss?" Aber erst müsse Tinte in den Vertrag fließen. "Denn schon René Pollesch verkündete, die beiden an die Volksbühne zu holen – was dann aber nie passierte."
"Es scheint, als würde Chialo überhaupt kein Interesse an der Frage zu haben, welche Bedeutung die Volksbühne für die gerade ja hochaktuelle 'Ost'-Diskussion bekommen könnte", schreibt Simon Strauß in der FAZ (5.10.2024). "Stellen wir uns nur einmal vor, die Volksbühne würde zu einem spielerisch-intellektuellen, eben kulturellen Zentrum der Debatte über die auch ästhetische Signifikanz der 'Ost'-Kategorie werden. Zu einem Ort der Untersuchung von ostdeutscher Textwirkung damals und heute. Oder auch weiter gefasst der aktuellen theatralischen Bedeutung Osteuropas generell. Gerade in Zeiten, in denen Wagenknechts Neoleninismus in breiten Teilen der Bevölkerung offenbar große Anziehungskraft entwickelt, wäre doch ein Theaterhaus, das dieser Sehnsucht künstlerisch begegnet, ihr auch Paroli bietet ein aufregendes Unterfangen."
Das Duo stehe für entgrenztes Extremtheater. "Und das braucht es jetzt", so Jakob Hayner in der Welt (5.10.2024). Drei Jahre seien zu kurz, um eine Ära zu prägen. "Und zu lang, um nur das Repertoire zu verwalten. Also genau die richtige Zeitspanne für einen kleinen Tanz auf dem Vulkan." Man könne diese Interimsintendanz wie eine Carte blanche begreifen, die an die Zeit in den frühen 1990ern erinnere. "Wenn man jemanden zutraut, den alten Volksbühnen-Geist wieder zum Leben zu erwecken und eine drei Jahre dauernde Totaltheaterparty zu feiern, dann Vinge und Müller."
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Entscheidung!
Herzlichen Glückwunsch!
Aber ab der UdK konnte man doch nie Regie studieren, oder? Naja.
"Berühmt oder tot", fand einst Frank Castorf, nachdem er die Volksbühne übernommen hatte, sei "einfach die Fragestellung der Zeit. Man muss kämpfen um sein Daseinsrecht. Wenn ich sage, dann lieber ein Schwimmbad aus der Volksbühne machen, das meine ich auch. Wenn man nicht gebraucht wird, wenn man nicht gemocht wird, warum soll man sich aufdrängen." Das Zitat ist 34 Jahre alt.
Was waren das für Zeiten als der Prater in der Nacht noch lebte/bebte.
Jetzt ist es nur noch eine traurige dauerrenovierte Fassade.
Wie soviel in der Berliner Kulturszene.
Berlin braucht wieder Mut und Risiko.
Von dem her hoffe ich, dass es kein Scherz ist.
Diese Zeit ist vorbei. Die Volksbühne muss dennoch weiterleben.
Ich bezweifle aber, dass jemand, der immer wieder in einer Art Kokon - wie im Prater -arbeitete, ahnt, welche grosse Verantwortung nicht nur in künstlerischer Hinsicht, sondern auch für viele Arbeitsplätze mit einer Intendanz übernommen werden müssen.
Ich befürchte, die Idee vom Schwimmbad wird real.
Oberender hat es so gemacht, Dercon, Pollesch und jetzt halt Joe. Unbestritten haben sie einige radikale Theaterarbeiten gemacht, zuletzt 2017 in Berlin. Und auch ich würde gerne mal wieder was von ihnen sehen. Dass das zuletzt nicht passiert ist kann viele Gründe haben, eine gewisse Rolle könnte allerdings spielen, dass Verbindlichkeit im Bereich wo Kunst auf Umsetzung trifft (Budget, Arbeitszeitregelungen, Arbeitssicherheit, Steuererklärung, sowas halt) nicht immer einfach herzustellen war/ist.
Dass die beiden keine nennenswerte Theatererfahrung, ganz bestimmt aber keinerlei Theatermanagement-Erfahrung haben, ist eigentlich klar. Wenn ich mir aber vorstelle, wie Joe mit Ida und Vegard über eine Antisemitismus-Klausel oder das Einsparen von 10% des Budgets spricht, entwickelt sich allerdings schon szenische Phantasie. Der Vergleich aber mit Castorfs Antritt im Jahre 1992 (!) hinkt so gewaltig, dass man gar nicht weiß, wo anfangen. Vielleicht reicht, dass er damals mit 41 Jahren verhältnismäßig jung, aber als Regisseur und Theaterpraktiker schon lange im Geschäft und sehr erfahren war. Vingard ist 53.
Wenn es Joe um ein radikales Intermezzo geht (Flirt mit der Gefahr, volles Risiko, Ruhm oder Tod), bevor die verhältnismäßig langweilige Management-Position Volksbühnenintendanz (man lese noch mal die Stellenausschreibung und lege das Profil von V/M drüber, fun exercise) besetzt wird, warum nicht eine andere spannende bildende Künstler:in, aber vielleicht Mitte Dreißig und aus dem globalen Süden, berufen? Die Stadt ist voll davon, und möglicherweise entsteht dann wirklich was radikal Anderes, Zeitgenössisches und Neues, wird nicht eine diffuse Sehnsucht nach dem Vergangenen (aka die Zeit, als Mieten noch bezahlbar waren) bedient.
Nein, dass diese Nachricht bislang offiziell unwidersprochen ist, zeigt vor allem die völlige Planlosigkeit des Senators, der die Sparverhandlungen mit den anderen Leitungen von Kulturinstitutionen soeben mit dem Signal eröffnet hat, dass er radikale Positionen und Rebellentum auf Leitungsebene eigentlich ganz sexy findet. Viel Spaß, "gebt den Kindern das Kommando" (1985).