Verhängnisvoller Jungbrunnen des Digitalen

17. April 2022. Was geht mit der Nachbildung der Welt im Digitalen verloren? Bei Krzysztof Garbaczewski kommt der Pakt zwischen Faust und Mephisto aus Sehnsucht nach der körperlichen Realität jenseits des Virtuellen zustande. Was nicht nur für neue Perspektiven, sondern auch viel Komik und große Bildmacht sorgt.

Von Jürgen Reuß

Krzysztof Garbaczewski inszeniert Goethes "Faust" am Theater Freiburg © Britt Schilling

17. April 2022. Für Krzysztof Garbaczewskis Interpretation im Großen Haus des Theater Freiburg muss man sich den hochgelahrten Faust als Nerd vorstellen, der sich den schwarzen Künsten der Virtual Reality zugewendet hat. Das Urbild ist nicht der rauschebärtige Studiosus im wallenden Astrologenmantel, sondern ein speckiger Nerd in Unterhemd, Jeans und Turnschuhen, mit Basecap, überdimensionierten Micky-Maus-Handschuhen und vor allem einer VR-Brille auf den Augen.

Den professoralen Magier-Faust gibt es auch, als Avatar auf der bühnengroßen Leinwand, gesteuert von Wiimote-Controllern in Nerd-Fausts Händen. Der Urfrust von Faust besteht in jenem "längst entwöhnten Sehnen" nach dem, was in der digitalen Schöpfung verschwand, nach dem, was dem immer strebend bemühten Transhumanisten zum magischen Kürzel RW, reale Welt, entglitten ist. Müsste man diese programmierte Welt dann aber nicht ein bisschen gefühlsechter hinbekommen?

Metamorphose des Menschlichen

Die von den VR-Designern Mateusz Korsak und Anastasiia Vorobiova eher pionierhaft grobschlächtig programmierte Avatarwelt lässt wenig Illusionen zu, dass die Metamorphose des Menschlichen ins Digitale ohne Verlust vonstattengehen kann. Aber für das Theater ist es dankbar und lustig, den Nerd-Faust dabei zu begleiten, wie es ihm gelingt, mit teuflischer Hilfe in seine eigene Schöpfung einzusteigen, aus der flächigen Projektion in die "echte" 3-D-Animation Bühne überzuwechseln.

Praktisch nimmt er dazu einfach die VR-Brille ab und sieht dann auch, was das Publikum schon von Beginn an vor Augen hat, dass die reale Bühne von Aleksandra Wasilkowska mit den gleichen Fantasy-Objekten und -Kostümen ausgestattet ist wie die digitale. Die Projektionen wechseln demgemäß vom Programmierten zur gefilmten Verdoppelung des Bühnengeschehens.

Faust 804 BrittSchilling uSchwarze Künste der Virtual Reality: Thieß Brammer und Victor Calero © Britt Schilling

Die Leibwerdung des Virtuellen bietet Platz für Komik. Etwa das große pelzig-unförmige Etwas, das den ewigen Assistenten Wagner (Antonis Antoniadis) verschluckt und des Pudels mephistophelischen Kern freigibt (Thieß Brammer). Auch der Gang zu den Hexen nebst Verjüngungskur ist köstlich. Nerd-Faust Victor Calero mit seiner Apo-Opa-Frisur wird von Mephistopheles zu Technogewummer in ein pseudopodienhaftes Taufbecken getunkt, worauf beide ihre Klamotten von sich werfend und wie Iggy Pop auf Ecstasy abhottend Kostüme und Rolle mit einem Kuss tauschen. Aus dem Jungbrunnen entsteigt nun Thieß Brammer als Faust, wofür Victor Calero als Mephisto dann sein verjüngtes Ex-Ich mit dem versorgt, was eine Nerd-Existenz am meisten vermisst – Sex.

Gretchens Rettung 

Als passendes Objekt dafür erscheint Gretchen (Laura Friedmann), der auf dem Rücken mit der verdorben multifunktional deutbaren Öffnung auf nackte Haut schon ihre Verderbnis ins Kostüm genäht ist. Mephisto versetzt die Doppelfigur Mutter/Marthe (Janna Horstmann) in BDSM-artige Verzückungstodeszuckungen und ermordet Gretchens kamerabewaffneten Bruder Valentin mit derselben Friedenshymne von John Lennon, mit der am Nachmittag die Freiburger Stadionbesucher die Vorstellung einer besseren Welt ohne Ukrainekrieg besungen haben. Freie Bahn für den verjüngten Faust-Nerd, sich an Gretchen gütlich zu tun.

Faust2 804 BrittSchilling uLieben bis sich die Säulen biegen: Gretchen und Faust (Laura Friedmann und Thiess Brammer) © Britt Schilling

Die Seele Gretchens rettet Regisseur Garbaczewski, in dem er Faust jeden direkten Zugriff verweigert. Margarete sagt allein eine Trashpornoszene auf, in der sie aus dem billig aufgegeilten Gretchenkörper in eine danebenliegende kogeile Nackte dissoziert und am Ende selbstbewusst allen ihren Bestimmern die kalte Schulter zeigt.

Und schließlich: Der Was-ist-die-Matrix-Neo-Moment

Wie es sich für klassischen magischen Realismus, als den Set-Philosoph Andrzej Serafin Goethes Schöpfung sieht, gehört, wenn er ins Nerd-Universum übersetzt wird, gibt es auch eine Portion philosophisches Geraune, sozusagen der Was-ist-die-Matrix-Neo-Moment, den im Stück der leibhaftig gewordene Retrofuture-Multifunktionsavtar von Hexe, Theaterdirektor, Dichter, vielleicht auch Gott und Teufel (Stefanie Mrachacz), die mal prologiert, mal heideggert.

Des Heinrichs Kern ist irgendwie nämlich ein Martin, der auch immer wieder eingeblendet wird, mit einem rätselhaften jungen Dalai Lama als Gegenüber. Vielleicht eine Anspielung auf den West-östlichen Diwan? Man muss an diesem Abend nicht alle Fragen beantworten, denn, wie eingeblendet: To be continued – und zwar mit Faust 2, demnächst in diesem Theater, auch wenn der Tragödie zweiter Teil seinen Corona-Premiere schon im Virtuellen hatte.

Faust I
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Krzysztof Garbaczewski, Ausstattung: Aleksandra Wasilkowska, Musik: Jan Duszynski, VR-Design: Mateusz Korsak, Anastasiia Vorobiova, Live-Kamera: Valentin Lautz, Dramaturgie: Andrzej Serafin, Laura Ellersdorfer.
Mit: Laura Friedmann, Janna Horstmann, Stefanie Mrachacz, Thieß Brammer, Victor Calero, Antonis Antoniadis
Premiere am 16. April 2022
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theater-freiburg.de

 

Kritikenrundschau

Von einem "besonderen" Abend spricht Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (19.4.2022), den sie als "höchst anregendes, vielschichtiges Experiment" empfand - und zwar sowohl über die Figur des Faust wie über die Grenzes des Einsatzes von digitaler Technik. Auch sei der Aufsatz des Dramaturgen Andrzej Serafin im Programmheft "Das Klägste, das man seit Jahren in den Programmheften deutschsprachiger Theater lesen kann". "Es ist viel los in dieser Inszenierung", so die Kritikerin. Auch die VR-Technik findet sie sehr plausibel eingesetzt. 

Kommentare  
Faust I., Freiburg: Heidegger
Martin Heidegger als imaginierter FAUST (er war 1933 Rektor
der Universität Freiburg) ging einen unseligen (geistigen )Pakt ein mit dem "Führer".
Heidegger war ja einer der prägenden Philosophen des 2O. Jahrhunderts. Er war
offensichtlich ein Nationalsozialist. Seine bis dato geheimen Schwarzen Hefte wurden veröffentlicht. Sie offenbarten einen (deutschen) Abgrund.
"Sein und Zeit" wurde zum Quell auch des französischen Existenzialismus.
Ein Heidegger Foto zeigt ihn mit Seitenscheitel und schmalem Bärtchen in
unverkennbarer Typ-Ähnlichkeit zu HITLER.
In seiner Autobiographie schilderte Karl Jaspers seine Reaktion, als Heidegger
in die NSDAP eintrat: "Wie soll ein so ungebildeter Mensch wie Hitler
Deutschland regieren? - Bildung ist ganz gleichgültig, antwortete Heidegger,
sehen Sie nur seine wunderbaren Hände an! (. . .) Ratlos war ich. Nichts hatte
Heidegger nur berichtet von seinen nationalsozialistischen Neigungen vor 1933."

"Der Deutsche allein kann das Sein ursprünglich neu dichten und sagen.
Das volklich-staatliche Geschehen in seiner Wirklichkeit entfalten, um desto
härter und schärfer und weitsichtiger gegen das wurzel- und ranglose Gezappel
der neuen Geistigkeit sturmzulaufen . . .
Die große Erfahrung und Beglückung, daß der Führer eine neue Wirklichkeit
erweckt hat, die unserem Denken die rechte Bahn und Stoßkraft gibt."

Eine n e u e W i r k l i c h k e i t wäre auch in unserer Zeit zu wünschen.
Wer oder was könnte sie erwecken? Die Pandemie? Der Krieg in der Ukraine?
Und wie steht es mit dem "wurzel- und ranglosem Gezappel" u n s e r e r Geistigkeit der Postmoderne der Beliebigkeit, und dem postdramatischen Theater?
Faust I., Freiburg: Heideggers Dimension
Man denkt an die zum Bersten vollen Züge, die aus ganz Europa in die
Vernichtungslager rollten, das Verschwinden von Millionen Menschen in Fabriken
zur Produktion von Leichen, die sorgfältige Verwendung von allem, was noch
brauchbar oder verwertbar war, schließlich die Verbrennung, das hartnäckige Verwischen jeder Spur einer menschlichen Anwesenheit . . .
Die Übelkeit die in einem aufsteigt, denkt man daran.

Die Veröffentlichung seines Denktagebuchs der sogenannten "Schwarzen Hefte"
hat noch einmal die Debatte um Martin Heidegger angeheizt und der Kritik
Vorschub geleistet, zunächst vor allem wegen der scharfen antisemitischen
Äußerungen in nationalsozialistischer Terminologie gegen das "Weltjudentum",
dann gesteigert bis hin zu einer Verurteilung seiner gesamten Philosophie -
während Emanuel Faye das gesamte Werk von Heidegger für nationalsozialistisch
hält, sieht Holger Zaborowski nur eine kurze Begeisterung für den National-
sozialismus, die schnell einer Desillusionierung und einer scharfen Kritik
gewichen sei. Und während Florian Grosser die politische Dimension von
Heideggers Werk insgesamt für problematisch hält, argumentiert Julian Young,
dass Heideggers Denken im Grundsätzlichen mit einer liberal-demokratischen
Einstellung vereinbar sei.
(Thomas Rohkrämer MARTIN HEIDEGGER - eine politische Biographie, 2O2O)

Was sagt Jürgen Habermas? - "Martin Heidegger? Nazi, sicher ein Nazi!"
Heidegger als ein nationalsozialistischer Faust, verheiratet - und Hannah Arendt
sein jüdisches Gretchen, kann man sich nicht so recht vorstellen. So gar nicht
passend zu dem im Großen Haus des Theaters Freiburg, den hochgelahrten
Faust als Ned, als Computerfreaksonderling vorstellen, der sich den schwarzen
Künsten der Virtual Reality zugewendet hat.
Hat sich denn Heidegger etwa den "schwarzen Künsten" des Nationalsozialismus nicht zu-gewendet, und sich dann wieder weg-gewendet?
















































Die Veröffentlichung seines Denktagebuchs, der sogenannten "Schwarzen Hefte"
hat noch einmal
Faust I, Freiburg: Folter
Es war eine Folter sich dieses Stück zu geben.
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