80 Tage, 80 Nächte - Zum Festivalauftakt fährt der Theaterzug in den Neckarhafen ein
Irrfahrt der Kuscheltiere
von Otto Paul Burkhardt
Stuttgart, 9. Juli 2009. Was für ein Auftritt! Vor großer Kulisse – mit Blick auf den Neckarhafen und die Abendsonne, auf Riesenkräne, Industrieanlagen und ferne Weinberge – rollt irgendwo von links der "Orient-Express" vor der Zuschauertribüne ein. Aber wie! Sehr langsam, im Schritt-Tempo. Mit Würde sozusagen. Mit Grandezza. Der Zugführer der Lok lässt's nochmal kräftig pfeifen. Bis der Bühnenwaggon direkt vor dem Publikum zu stehen kommt. Dann öffnet sich die Seitenwand des Wagens wie eine Klappe – und das Theater aus dem Zug heraus kann beginnen.
So oder ähnlich hat sich diese Szene in den vergangenen Wochen immer wieder abgespielt, wenn der Orient-Express in die Bahnhöfe einfuhr und das Theater zu den Leuten brachte. Begonnen hatte die Reise Mitte Mai in Ankara, und seither hat das rollende Theaterlabor sechs Länder durchquert. Auf seiner Fahrt durch die Türkei, durch Rumänien, Serbien, Kroatien und Slowenien nach Deutschland hat der Sonderzug 37 Vorstellungen in elf Bahnhöfen gegeben (bei Regen auch in örtlichen Theatern) – vor rund 12000 Zuschauern.
Klappe runter
Im Zuge des Gemeinschaftsprojekts – und das im wörtlichen Sinn – sind sechs projektbezogene Stücke in sechs Sprachen entstanden und gespielt worden; allesamt handeln sie von Ost-West-Begegnungen, von Vertreibung und Flucht, von Migration und Ankunft, von moderner Mobilität, von damit verknüpften Ängsten und Hoffnungen. Jetzt hat der Orient-Express nach mehr als 2000 Kilometern seinen Zielort, den Stuttgarter Neckarhafen, erreicht. Hier, Am Mittelkai 16, sollen nun bei einem zehntägigen Festival alle Stücke gezeigt werden – als große Gesamtschau.
Statt Vorhang auf heißt es beim Festival Orient-Express also Klappe runter – schließlich hat das Theater sowieso irgendwann mal auf Rädern angefangen, auf Thespiskarren und allerlei Wagenbühnen. Das Auftaktstück des Festivals, "80 Tage, 80 Nächte" von Soeren Voima, inszeniert von Christian Tschirner (der sich auch hinter dem Ex-Gruppennamen Voima verbirgt), erzählt von einer Odyssee durch Südosteuropa, die zwei Plüschtiere erleben: ein Teddybär und ein Tiger, zusammengenäht irgendwo in Rumänien von Lohnarbeiterinnen aus Bangladesh.
Und schon sind wir mitten drin in der globalisierungskritischen Puppenkiste. Denn Teddy, der sich irrtümlich als hochwertiger Markenbär empfindet, will nach Deutschland, wird aber dort am Zoll mit Einbürgerungsfragen getestet ("Was will die Bundeswehr am Hindukusch?") und zusammen mit Leo, dem Tiger, als billiges Plagiat abgewiesen.
Glücksritter und Verlierer
Eine gute Fee gibt ihnen – frei nach Jules Verne – 80 Tage und 80 Nächte Zeit, um jemanden zu finden, der sie liebt. Eine abenteuerliche Irrfahrt führt die beiden Kuscheltiere von einem anatolischen Basar bis in eine Zürcher Galerie. Zwischendrin werden sie als Drogenkuriere missbraucht, aufgeschlitzt, beinahe zerschreddert, in die Mülltonne geschmissen, wieder zusammengeflickt, als Kompott eingeweckt und als Kunstskulptur ausgestellt.
Das bestens spielgelaunte Ensemble erzählt die durchgedrehte, bisweilen auch wirre und geschwätzige Story als modernes Märchen – rasant, turbulent, mit universell verständlichen Slapstick- und Puppenspiel-Einlagen. Als Requisiten dienen ausschließlich Umzugskartons. Die Geschichte streift exemplarisch die Probleme in Kriegs- oder Krisenregionen und erzählt von Schicksalen im Südosten Europas, von chancenlosen Näherinnen und toughen Kleinfabrikanten, von bösen Vätern und schwachen Söhnen, von vergewaltigten Frauen und cleveren Dealern, von Minenopfern und Kfor-Soldaten, von Glücksrittern und Verlierern.
Kaputte Wirklichkeit und unkaputtbare Hoffnung
Regisseur Christian Tschirner inszeniert das Ganze als mutwillig überdrehte Farce über das real existierende Chaos im neuen Europa: haarsträubend, schwarzhumorig, anrührend, verrückt. Den zynischen Tonfall, mit dem hier in einem Atemzug ökonomische Verelendung und albernes Tiergejaule Revue passieren, muss man nicht mögen. Doch genau in diesen widersprüchlichen Bereich zielt die Story: Sie will kaputte Wirklichkeit und unkaputtbare Hoffnung zeigen, will partout nicht schönreden, aber dennoch ein Märchen erzählen. Und so ähneln Stück und Regie ein bisschen der Musik, die heute als Balkan-Brass oder Speed-Folk verhandelt wird. Was bleibt? Eine ziemlich schräge Polit-Puppenkiste. Europakritisches Kasperltheater für Erwachsene.
Wie auch immer: Der Orient-Express hat es geschafft, Kulturen und Sprachen übers Theater miteinander zu verbinden. Zudem passierte seine Route EU-Staaten, Nicht-Mitgliedsländer und Länder im Status von Beitrittskandidaten. Damit ist der Orient-Express ein Beispiel dafür, wie dem Theater etwas gelingt, was die Politik nicht hinbekommt.
80 Tage, 80 Nächte
von Soeren Voima
Regie: Christian Tschirner, Bühne: Aljoscha Begrich, Kostüme: Hanne Schmitt, Musik: Shaban.
Mit: Hannes Benecke, Oscar Olivo, Dorothea Arnold, Jan Krauter, Markus Lerch, Claudia Renner, Michael Stiller.
www.staatstheater.stuttgart.de/orientexpress
orientexpressfestival-de.blogspot.com
Kritikenrundschau
Christian Tschirners Inszenierung "80 Tage, 80 Nächte", mit der der Theaterzug Orient-Express in Stuttgart einrollte, sei "eine völlig überdrehte, völlig durchgeknallte Globalisierungsfarce, deren enorme Spielgeschwindigkeit vermutlich schon das Publikum in der Türkei überfordert hat", schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (13.7.). Tschirner lasse wirklich nichts aus: "Sein Tagesthemen-Theater geht eigentlich nicht, auch nicht als Parodie – und wenn, dann höchstens so furchtlos auf grelle Übertreibung und schrille Satire setzend, wie es Tschirner als Regisseur eben tut. Mit einigem Erfolg, denn wer die überstopfte Handlung halbwegs nachvollziehen kann, mag auch Gefallen finden an dieser turbulenten Inszenierung, die voll auf Speed zu sein scheint."
Auf Deutschlandfunk (11.7.) glaubt Christian Gampert noch sehr genau bemerkt zu haben, dass Tschirners "80 Tage, 80 Nächte" "Stück bislang im Lärm osteuropäischer Bahnhöfe aufgeführt wurde – so körperlich, lautstark, nach außen gerichtet ist die Spielweise". Das Ganze sei "zirkusartig und unterhaltsam aufgezogen, mit viel Musik, Bauchtanz und Typenkarikatur; Jahrmarkttheater zwischen Sozialmärchen, Kabarett und didaktischer Brecht-Attitüde". Und "die fünf Stuttgarter Schauspieler schmeißen sich mit Begeisterung in alle möglichen Sozialklischees".
Die Reise der als Drogenkuriere wie als Kunstwerke missbrauchten Plüschtiere Tiger und Teddy aus Tschirners "80 Tage, 80 Nächste" karikiere "den Missbrauch des Ostens durch den Westen und des Ostens durch den noch östlicheren Osten", schreibt Ulrike Kahle-Steinweh im Tagesspiegel (13.7.). "Aufgeschnitten, halbiert, repariert, mit kläglich unpassendem Unterteil werden sie zu verfälschten Fälschungen. Ein freches, derbes Spektakel. Bei den Rumänen kam es hervorragend an. Verwandter Humor?"
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