Die Kunst muss aus der Zeit fallen

8. Mai 2023. Christopher Rüpings Operndebüt an der Bayerischen Staatsoper: Die Kombination aus Claudio Monteverdis frühbarocker Oper "Il Ritorno d'Ulisse" und Joan Didions Trauer-Memoiren "Das Jahr des magischen Denkens" ergibt berührende Momente – und eine starke These.

Von Martin Jost

Kristina Hammarström, Wiebke Mollenhauer, Damian Rebgetz, Sybille Canonica © Wilfried Hösl

8. Mai 2023. Ist Oper Avantgarde oder Denkmalpflege? Für Christopher Rüping muss sie mit der Zeit gehen. In seiner ersten Musiktheater-Arbeit hat Rüping Joan Didions 2005 erschienene Memoiren über das Jahr nach dem Tod ihres Mannes John Gregory Dunne "Das Jahr des magischen Denkens" und Claudio Monteverdis Oper "Il ritorno d'Ulisse in patria" ("Die Rückkehr des Odysseus") von 1640 vermischt. Staatsoper-Intendant Serge Dorny hatte sich für "Ja, Mai", sein "Festival für frühes und zeitgenössisches Musiktheater" einen Dialog zwischen Frühbarock und Gegenwart gewünscht. Aber welchen Mehrwert schafft der Mix aus diesen Stücken?

Ein toter Mann, ein verschollener Mann

"In schwierigen Zeiten, hatte man mir seit der Kindheit beigebracht, soll man lesen, lernen, es durcharbeiten, Literatur befragen", schreibt Didion. Das Werk der Journalistin und Schriftstellerin ist von Textbezügen durchzogen. Ihr essayistischer Stil mischt genaue, sachliche Beobachtung mit Exkursen in die Literatur. In "Das Jahr des magischen Denkens" sucht sie zum Beispiel Rat bei Thomas Manns "Der Zauberberg", aber sie liest auch den Roman "Dutch Shea, Jr." ihres verstorbenen Mannes neu als Buch über das Trauern. Schließlich haben sie gemeinsam am Drehbuch von "A Star is Born" (1976) geschrieben. In dem Film verliert eine junge, aufstrebende Rocksängerin (Barbra Streisand) die Liebe ihres Lebens (Kris Kristofferson) an dessen Drogensucht. Es würde total passen, hätte sich Joan Didion auch mit der Geschichte von Penelope beschäftigt, die 20 Jahre auf die Rückkehr ihres verschollenen oder vielleicht auch toten Odysseus wartet. Hat sie aber nicht. 

Die geraffte Oper "Il Ritorno ..." hat einen Platz in "Das Jahr des magischen Denkens", Didions Text gibt den Rahmen ab. Während wir unsere Plätze im Cuvilliés-Theater einnehmen, sitzen Joan und John schon am Tisch und essen zu Abend. Wir sehen die ganze kahle, in Neonlicht getauchte Bühne bis zur echten, ranzigen hinteren Gebäudewand, ein krasser Kontrast zum funkelnden Rokoko des Zuschauerraumes. Den Text der Didion-Figur teilen sich Sibylle Canonica, Wiebke Mollenhauer und Damian Rebgetz. Sie wechseln sich ab bei der Beschreibung jenes Abends, als das Ehepaar nach Hause kommt und John (hier noch stumm: Charles Daniels) einen plötzlichen Herztod erleidet. Die eine Joan beschreibt seinen harten Sturz, während die beiden anderen John behutsam auf den Boden legen. 

Es ist der Tag vor Silvester. Für Joan beginnt ein Jahr der Trauer, das sie als "Jahr des magischen Denkens" bezeichnet. Sie weiß ja, dass er tot ist, aber ihr Gehirn rechnet trotzdem weiter mit ihm. Mit ihrem analytischen Geist beobachtet sie ihre eigenen unlogischen Gedanken: Wenn sie die Nachrufe liest, könnte John sie dabei ertappen. Wenn sie einer Autopsie zustimmt, finden die Ärzte vielleicht heraus, wie sie ihn retten können. 

Joan und Penelope schreien sich an

Nach ungefähr zehn Minuten macht sich das Orchester mit ersten Klängen bemerkbar. Kristina Hammarström tritt auf, Penelopes erste Arie beschreibt ihre Sehnsucht nach Odysseus. Die hallige tiefe Bühne offenbart eine Schwäche: Wenn die Sänger*innen mehr als drei Schritte von der Rampe entfernt stehen, klingt es, als würden sie draußen auf dem Gang singen. Dann übertönen sogar die zurückhaltenden, transparenten Barock-Instrumente fast ihre Stimmen. Die drei Joans werden zu Zuschauer*innen und setzen sich zu uns ins Auditorium, wo erst jetzt das Licht ausgeht. Auf der Bühne erscheinen von den Seiten und aus dem Schnürboden Pappkulissen in fünf Ebenen (Bühne: Jonathan Mertz). Schwarz-weiß oder knallbunt, stellen sie einen Palast aus dem falschen Millennium vor und zeigen übergroße Druckraster, die an die Pop-Art von Roy Liechtenstein erinnern.

Ritorno1 Wilfried Hösl uGroß auf dem Bildschirm: Kristina Hammarström als Penelope © Wilfried Hösl

Die nächste Szene: Der tote John ist der schlafende Odysseus, endlich in der Heimat angekommen. Die Übertitel zum italienischen Gesangstext nennen auch die Namen der Figuren, so dass trotz Kürzungen und Mehrfachbesetzungen keine Verwirrung entsteht. Nach einer knappen Stunde reiner Oper singt gerade Penelope zu den aufdringlichen Freiern über ihre Treue zu Odysseus. Da springt Damian Rebgetz als Joan auf und unterbricht sie rüde: "Er ist tot! Jesus Christ!" Und weil Penelope unbeirrt weitersingt, versucht er es noch auf Englisch und auf Italienisch, er brüllt sie an, und Penelope singt trotzig zurück.

Ab hier passieren "Il Ritorno" und "Jahr des magischen Denkens" gleichzeitig. Die Erinnerungen Joans an ihre Partnerschaft mit John werden ergänzt durch passende gesungene Passagen. Kristina Hammarström und Charles Daniels sind sehr erfahren im Barock-Repertoire und kennen ihre Figuren Penelope beziehungsweise Odysseus aus verschiedenen Inszenierungen. An der Abbruchkante zum Didion-Stück spielen sie mit sichtlichem Ernst und spürbarer Freude. 

Happy End mit Tränen

Zu den gekürzten Szenen – Monteverdis Oper allein bringt es sonst auf gut drei Stunden – gehören das Mordkomplott und die Werbegeschenke der Freier (Aleksey Kursanov, Roman Chabaranok und Cameron Shahbazi) sowie alle Szenen im Götterhimmel, in denen die Olympier die menschlichen Schicksale verhandeln. Penelope und Odysseus bewohnen eine magische Welt, deren Gesetze sie selbst nicht kennen: Als der Greis – Odysseus' Tarnung – sich zurück verwandelt, glaubt sie ihm erst nicht, dass er der lang Ersehnte ist.

Für Penelope und Odysseus gibt es ein Happy End. Die drei Joans sehen zu – wie im Theater, eng nebeneinander sitzend. Weil ihre Gesichter in Großaufnahme auf eine Leinwand projiziert werden, sehen wir sie völlig eingenommen. Es laufen sogar Tränen. Penelope und Odysseus sind in einer finalen Umarmung eingefroren. 

Rüping hat aus der Kombination der beiden Stücke eine These geschlagen: Ein Text, ein Stück, ein Kunstwerk – hier eine der ersten Opern überhaupt – darf nicht in einer Form gerinnen. Wir müssen mit ihm streiten können, es muss in unser Leben greifen, es muss sich anschreien lassen und zurückbrüllen. Die Kunst muss aus der Zeit fallen, sie soll ins Leben sickern, auf unsere Fragen antworten, aber um Himmels Willen nicht eindeutig! Joan Didion hat das letzte Wort: "Die Verrücktheit lässt nach, aber keine Klarheit ersetzt sie."

Il Ritorno/Das Jahr des magischen Denkens
Oper von Claudio Monteverdi (Libretto von Giacomo Badoaro) + Schauspiel von Joan Didion, basierend auf ihren Memoiren
Musikalische Leitung: Christopher Moulds; Inszenierung: Christopher Rüping, Bühne: Jonathan Mertz, Kostüme: Lene Schwind, Video: Susanne Steinmassl, Sounddesign: Thomas Wegner, Licht: Lukas Kaschube, Dramaturgie: Malte Ubenauf, Christopher Warmuth.
Mit: Penelope: Kristina Hammarström, Ulisse: Charles Daniels, Melanto / Minerva: Xenia Puskarz Thomas, Eurimaco / Pisandro: Liam Bonthrone, Telemaco: Granit Musliu, Eumete: Aleksey Kursanov, Antinoo: Roman Chabaranok, Anfinomo: Cameron Shahbazi, Das Jahr des magischen Denkens: Sibylle Canonica, Wiebke Mollenhauer, Damian Rebgetz, Orchester: Bayerisches Staatsorchester, Monteverdi Continuo Ensemble
Premiere am 7. Mai 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

staatsoper.de

 

Kritikenrundschau

Christopher Rüping gelinge es formidabel, die Stücke zu verschränken, so Jörn Florian Fuchs von BR Klassik (8.5.2023). "Mollenhauer ist ebenso eine Wucht wie Canonica, während der Australier Rebgetz leider mit nuschelndem Akzent sowie überakzentuiertem Spiel zum - einzigen - Schwachpunkt des Abends wird." Und weiter: "Christopher Moulds dirigiert das Monteverdi Continuo Ensemble (des Bayerischen Staatsorchesters) und lässt dem Graben einen klar strukturierten, in jedem Takt stimmigen Barocksound entströmen, herrlich perlt und glitzert alles." Auch die kleineren Partien seien gut besetzt.

Zwei unvereinbare Welten stünden sich hier fremd gegenüber, schreibt hingegen Reinhard Brembeck von der Süddeutschen Zeitung (9.5.2023). Rüping biete dazu "braves Rumstehtheater". Immerhin: "Kristina Hammarström und Charles Daniels singen wundervoll ein altes Liebespaar, das nie an seiner Liebe zweifelt, und Christopher Moulds entlockt seinen vierzehn Musikern fantastische Klangspielereien."

Eine eher harte Fügung, erkennt Robert Braunmüller von der Abendzeitung (9.5.2023) in der Verzahnung der beiden Stoffe, handelten diese doch jeweils sehr unterschiedlich von Ehe. "Aber gerade diese Konfrontation der freundlich-flamboyanten Opernform mit Didions frostiger Nüchternheit hat ihren eigenen Reiz." Und weiter: "Auch wenn das Festival 'Ja Mai' der Staatsoper durch Kürzungen leichte Dellen aufweist: Diese Produktion setzt die Grundidee, Monteverdi als Anfang des Musiktheaters mit der Gegenwart zu konfrontieren, sehr glücklich fort."

"Rüping schlägt Brücken, wo es nur geht: räumlich, zeitlich und zwischen den Genres. Und setzt trotzdem auf Kontraste: Statt der Magie der Oper betont das im Erzählen verhaftete Schauspiel das Gemachte. Die knarzend herab- und hereinfahrenden, teils barockisierenden, teils gepixelten Prospekte von Jonathan Mertz ähneln halbfertigen Laubsägearbeiten. Auch richtiggehend albern wird es zwischendurch", schreibt Sabine Leucht in der taz (9.5.2023). Der Schluss habe die Kritikerin gleichwohl tief berührt.

"Oper und Essay docken immer wieder aneinander an, berühren sich. Doch eine echte Verzahnung, ein Ineinander gelingt Rüping selten, bemerkt Markus Thiel vom Münchner Merkur (8.5.2023). Der Abend spreize sich zwischen Tragödienwucht und ironischen Einsprengseln. "Dass alles nicht mit dem kaum steigerbaren Liebesduett aus dem 'Ulissse' endet, sondern geschwätzig nachklappt, ist ein Schönheitsfehler. So intensiv und lohnend die Kombination beider Werke ist, so sehr wird doch deutlich: Das Konzept ist stärker als die szenische Einlösung."

"Sibylle Canonica, Damian Rebgetz und besonders Wiebke Mollenhauer liefern den ständigen Mix aus Referat und Rolle als virtuose Performance. Kristina Hammarström verleiht Monteverdis trauernder Penelope bei genauester gesanglicher Artikulation heroisches Format", schreibt Stephan Mösch von der FAZ (10.5.2023). "Die Mitglieder des Opernstudios, aus denen Xenia Puskarz Thomas als Melanto herausragt, haben gelernt, dass Identitätskonstruktion auf dem Theater eine variable Sache ist und auch dann berühren kann, wenn sie wenig mit geschlossenen Figurenbildern zu tun hat. Plötzlich gehen uns die einfachen, grundstürzenden Fragen des Festivals an, berühren, wandern durch Auge und Ohr unter die Haut."

Kommentare  
Il Ritorno, München: Rüping-Fan
Als großer Fan seiner Arbeit, freut es mich sehr, wieder einen Abend von Christopher Rüping in München zu sehen. Er kombiniert Oper und Schauspiel, herrlich! Auch Damian Rebgetz und Wiebke Mollenhauer sind großartige Spieler, Performer, was auch immer. Grenzen aufgehoben. Top! Was für ein Verlust, dass die Kammerspiele unter Barbara Mundel so eine kluge, qualifizierte, emotionale und spielerisch tolle Regiehandschrift nicht mehr haben wollen.
Il Ritorno, München: Kleiner Wurf
Eine im Detail sehr feine Verschränkung von Oper und Theater. Leider im etwas zu kleinen barocken Münchner Cuvillestheater, passend natürlich zur frühbarocken Musik von Monteverdi. Dennoch merkt man, dass Christopher Rüping hier noch etwas gebremst war. So wurde es ein „kleiner Wurf“, nicht ein „großer Wurf“. Klein aber fein in vielen Details und in der schrittweisen immer tieferen Verzahnung von Oper und Theater.

Meine vollständige Besprechung unter www.qooz.de
Il Ritorno, München: Wunderbar
Ein ganz wunderbarer Abend!
Heiter und traurig. Alle Mitwirkenden sind großartig!!
Und wie das Bühnenbild spielerisch die Barockkulissen zitiert passt ganz hervorragend in das barocke Cuvilléstheater.
So wird klein und fein ganz groß.
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