Orbit - Staatstheater Nürnberg
Wo Freddie Mercury alles geklaut hat
21. Mai 2023. In den 1970er und 80er Jahren galt die Band Orbit als größter Geheimtipp der fränkischen Rockszene. So enorm geheim, dass heute niemand mehr von ihr weiß. In Nürnberg haben Philipp Löhle, Christian Brey und Thomas Esser nun tief in Schallplattenkisten gekramt und dabei eine im Wortsinn fantastische Story zu Tage gefördert.
Von Wolfgang Reitzammer

21. Mai 2023. Es gab mal ein deutsches Dokumentartheater, Rolf Hochhuth und Peter Weiss waren seine Propheten. Doch im postmodernen und postfaktischen 21. Jahrhundert erfreut man sich eher am Genre des Mockumentary, jenem Hybrid aus Dichtung und Wahrheit, das den Gutgläubigen in die Irre schickt und bei dem Skeptiker ein wissendes Lächeln hervorlockt.
In diesem Sinne hat Philipp Löhle, Hausautor des Staatstheaters Nürnberg, zusammen mit Regisseur Christian Brey und dem Musiker Thomas Esser ein "Recherche"-Projekt angestoßen, das über die Jahre 1972 bis 1985 die obskure Karriere einer vergessenen Rockband namens ORBIT aufdeckt und mit ein paar Stationen Kulturgeschichte in der Region Nürnberg vermengt. Doch auch ohne Spoiler-Verdacht darf man schon vorher sagen: es ist fast alles erstunken und erlogen, jedoch getreu dem Motto "Wenn wir es so erzählen, dann war es so!".
Fränkische Billie Jean
1972 treffen sich also fünf ambitionierte Kulturschaffende, denen ein gewisser Herr Gustl eine Garage als Proberaum und seine Kneipe als Live-Bühne anbietet. In schönster Punk-Tradition streiten sie erst einmal, wer eigentlich welches Instrument spielen soll, dann wird über mehrere Tage diskutiert, wie die Band heißen soll. Weil die Vornamen der Musikanten Ottmar, Rolf, Bucki, Isi und Thomas lauten, kommt man auf die geniale Idee "Orbit", verliert aber den entnervten Sponsor Gustl. Gut, dass es zu dieser Zeit den überregional bekannten Kulturreferenten Hermann Glaser in Nürnberg gab, der sein Projekt der Sozio-Kultur verfolgte und der Band einen Probenraum im ebenfalls überregional bekannten Kommunikationszentrum (genannt "Komm") vermittelte.
Dort nisten sich Orbit häuslich ein und wollen ihr weiteres Leben nur noch der eigenen Musik widmen – bestärkt durch ein allseitiges Gelübde gegen dreckige Ohren. Es wird in der selbst gewählter Klausur viel geredet, die fünf Akteure wirken in stimmigen Klamotten und Perücken der 1970er und 80er Jahre wie wandelnde Flokati-Teppiche (Kostüme: Anette Hachmann). Das musikalische Equipment wird langsam aufgerüstet, ein vollständiges Schlagzeug fährt aus dem Bühnenboden, Keyboarder Ottmar bekommt noch eine zweite Orgel mit Blechrahmen und Isi, die Frau im Quintett, stellt sich hinter ein modernes DJ-Mischpult. Dass man auch im Gefängnis (Massenverhaftungen 1981!) gute Musik machen kann, demonstriert Drummer Rolf, der die Sticks zu Fenstergittern formt und dann "I've Been Looking For Freedom" intoniert.
So entstehen zahlreiche Eigenkompositionen, die textlich und harmonisch einen regional-fränkischen Charakter aufweisen, aber verdammt nach Hits dieser Zeit klingen ("Daddy Cool", "Money, Money, Money", "In The Air Tonight", "Billie Jean"...).
Beim Griechen mit Bob Dylan
Schuld daran ist der schleimige Manager Hasso Krüger, der die Orbit-Songs mit dem Tonband aufnimmt und dann weltweit an bekannte Rockbands weiterverkauft. Immerhin schafft er es, die Songwriter-Ikone Bob Dylan vor dessen Auftritt auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände (1978) zu den eingeschlossenen Musikern zu lotsen und ihnen ein Angebot als Vorband zu übermitteln. Doch die deutsche Kultur des Diskurses und des Selbstzweifels führt zu spontaner Auftrittsphobie vor 80 000 Menschen, lieber geht man gemeinsam zum Griechen!
Mit Freddie-Mercury-Schnauzbart: Justus Pfankuch © Konrad Festerer
Das Ende der Orbit-Geschichte wird durch einen Zufall eingeläutet: Die fesche Biggi schaut sich via Fernsehen das Live-Aid-Konzert im Wembley Stadium (1985) an und muss feststellen, dass Freddie Mercury von Queen den Song "Bohemian Rhapsody" vorträgt, den einige Jahre zuvor Sänger Bucki mit der Band erarbeitet hatte. Manager Krüger flüchtet, er setzt sein Auto und alle darin lagernden Tonbänder in Flammen – Orbit ist damit aus der Musik-Geschichte getilgt.
Comeback als Avatar-Show
Zum Glück bietet der Theaterabend noch einen fulminanten Epilog: Krüger, der mittlerweile unter dem Namen Pius Maria Cüppers als Kammerschauspieler am Nürnberger Staatstheater arbeitet, organisiert eine Hologram-Avatar-Show der Band Orbit, bei der fünf KI-Klone noch einmal ein deftiges Rock-Programm abziehen, bevor sie mit "Major Tom" und einer Raumkapsel ins Weltall abdüsen.
Die höchst unterhaltsame Rock-Show lebt vom inszenatorischen Tempo des Regisseurs Christian Brey, von Löhles skurrilem Wortwitz und von den perfekt musizierenden Schauspielern: Nicolas Frederic Djuren (voc, g), Justus Pfankuch (keyb, g, voc), Sascha Tuxhorn (b, voc), Amadeus Köhli (dr, g, voc) und Pola Jane O’Mara (voc). Ein grandioses und komödiantisch ausgefeiltes Nebenrollen-Potpourri arbeitet Thorsten Danner ab.
Die Bühne ist ein Proberaum mit ein paar Flight-Cases, viel Trockeneis-Nebel und präzisen Licht-Effekten. Bei mehreren Video-Interviews haben Bürgermeisterin Julia Lehner, "Ihre Kinder"-Veteran Ernst Schultz, Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger und mehrere Schauspiel-Kollegen das doppelbödige Spiel mitgemacht. Das Premieren-Publikum war begeistert, feierte das Ensemble mit Standing Ovations und bekam als Zugabe noch ein originelles "Take On Me" mit Casio-Orchester im Sitzkreis: einer von vielen Aha-Effekten. "Orbit" hat auf jeden Fall das Potenzial für einen Kassenknüller!
Orbit - Geschichte einer Band
Rechercheprojekt mit Livemusik von Philipp Löhle, Christian Brey und Thomas Esser (UA)
Regie: Christian Brey, Musikalische Leitung: Thomas Esser, Tontechnische Konzeption und musikalische Mitarbeit: Justus Pfankuch, Bühne, Kostüme: Anette Hachmann, Video: Karolina Serafin, Licht: Paul Grilj, Dramaturgie: Sabrina Bohl. Mit: Justus Pfankuch, Amadeus Köhli, Nicolas Frederick Djuren, Pola Jane O’Mara, Sascha Tuxhorn, Pius Maria Cüppers, Thorsten Danner.
Premiere am 20. Mai 2023
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
Kritikenrundschau
Philipp Löhles Spiel mit dem Format des Recherche-Dramas "quietscht dramaturgisch in allen Angeln", schreibt Herbert Heinzelmann in den Nürnberger Nachrichten (21.5.2023). "Die Geschichte hoppelt. Charaktere stehen nicht auf der Bühne. Nur Typen", und viele der Nebenfiguren seien "Karikatur-Skizzen". Der Hommage auf die Nürnberger Kultur und das Lebensgefühl derer, die 1972 jung waren, fehlt das Lokalkolorit und als Zeitzeuge findet der Kritiker den Nürnberger Kulturreferenten Glaser "schlecht getroffen". Aber als Idee findet Heinzelmann die Musik-Show zum 50. Geburtstag des einst heftig umkämpften Kulturzentrums "Komm" gut.
Aus dem, was Philipp Löhle fand, "machte er ein Stück um eine äußerst produktive Musikgruppe namens Orbit, der Text ist hoch im Tempo, die Dialoge greifen wie Zahnrädchen ineinander", findet Yvonne Poppek in der Süddeutschen Zeitung (23.5.2023). "Herausgekommen ist etwas, dass (sic!) das Zeug zum Publikumserfolg hat, sozusagen ein Multi-Hits-Wonder", so die Kritikerin. Das liege zum einen an Löhles schrägen, wendungsreichen Ideen mit null Scheu, dick aufzutragen. "Es liegt aber vor allem an den Darstellenden, die da auf der Bühne stehen, die als konfus-geniale Band samt mafiösem Manager und Nürnberger Originalen den Zeitgeist und die Musik zu interpretieren lieben". Dabei sei es aber nicht so, dass Löhle den Abend nur um die Musik gebaut habe, das wäre zu wohlfeil, meint Poppek. Der Autor habe ein Konstrukt entwickelt, in der Wahrheit, Fiktion, Lüge und Übertreibung miteinander verschmelzen. "Nürnberg hat seine eigene, herrlich verquere Komödie mit Musik", resümiert die hocherfreute Kritikerin.
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