get deutsch or die tryin' - Necati Öziris in der Gorki-Schreibwerkstatt entstandenes Stück von Sebastian Nübling adäquat auf der Großen Bühne inszeniert
Auf der B-Seite gerockt
von Wolfgang Behrens
Berlin, 20. Mai 2017. Schreckensszenario der Neuen Dramatik: Irgendwo in irgendeiner mit irgendwelchen Mitteln geförderten Schreibwerkstatt entsteht ein kleines handliches Stück, das irgendwann ein aufstrebender Regieassistent an einer Studiobühne mit ein paar Schauspielanfänger*innen in die ewige Irrelevanz entlässt. So übertrieben, wie es klingen mag, ist dieses Szenario freilich nicht, weswegen in den letzten Jahren häufiger von einer Überförderung der Autor*innen die Rede ging. Kann das der Boden für starke neue Theatertexte sein?
Déja-vu jugendlicher Loser
Es geht auch anders. Wobei, nun ja, zugegeben: Auch "get deutsch or die tryin'" von Necati Öziri ist im Rahmen einer Schreibwerkstatt entstanden. Aber in den von Maxi Obexer und Marianna Salzmann angeleiteten Workshops in Zusammenarbeit mit dem Berliner Gorki Theater gab es immerhin ein Thema, das von vornherein Welthaltigkeit versprach: "Flucht, die mich bedingt". Offenbar mit Erfolg, auch Maryam Zarees beim letzten Heidelberger Stückemarkt ausgezeichnetes Stück "Kluge Gefühle" ist aus dieser Werkstatt hervorgegangen. Öziris Text wiederum wird nun nicht in irgendeiner Nebenspielstätte versenkt, sondern – ein mutiger und viel zu selten anzutreffender Schritt – auf die große Bühne des Gorki Theaters geholt. Und der Regisseur kommt nicht aus der U23, sondern aus der Bundesliga: Sebastian Nübling.
Necati Öziri jedenfalls hat etwas zu erzählen. Wie reich sein Stoff ist, offenbart er allerdings erst nach und nach – denn zuerst einmal ist "get deutsch or die tryin'" eine Art Generationenporträt, wie man es schon x-mal gesehen oder gelesen hat. Da hängen ein paar Typen ab, Türken, Jugos und so. Sie sitzen auf einer Bank vorm Bahnhof neben den Russen und den Nazis, sie haben ein paar gute Sprüche drauf, und weil sie ein bisschen dealen und sich auch ab und an mal prügeln, sind sie irgendwie per se unterhaltsam: Jugendliche Loser sieht man immer gerne.
Flucht in Endlosschleifen erzählt
Öziris Text, der im Titel auf das 50-Cent-Album "get rich or die tryin'" anspielt, gibt hier eine rhythmische Diktion und mitunter loopartige Wiederholungen vor – eine Vorlage, die Sebastian Nübling sofort aufnimmt. Während die Schlagzeugerin Almut Lustig auf der Bühne polymetrischen Druck erzeugt, scheint sich das Leben des jungen Türken Arda in szenischen Loops abzuspielen: Immer wieder wankt seine Mutter zum Kühlschrank, um sich ihren Jelzin-Wodka reinzukippen, und immer wieder kommt ein anderer junger Mann vorbei, um Arda eine mitzugeben.
Einen Verlauf gibt's aber auch: Ardas Kumpels gehen irgendwann weg oder werden abgeschoben, und am Ende steht das perfekte Klischee einer verlorenen Jugend: Vater weg, Mutter Alki, und die Freunde in alle Winde verstreut. Das Raffinierte an Öziris Stück ist jedoch, dass es nun, da es zu Ende sein könnte, überhaupt erst beginnt. Denn Arda, der Junge, der allen Grund hat, seine Eltern zu hassen, erzählt nun deren Geschichte. Und wie sie Nüblings Hauptdarsteller Dimitrij Schaad an diesem Abend erzählt – als brennende Anklage und voller Mitgefühl, mit Sarkasmus und Liebe, mit Witz und Bitterkeit –, das ist schon toll.
Es ist die Geschichte einer Liebe zweier Menschen, die in Almanya nicht glücklich wurden. Der Vater Murat, ein kleiner verhinderter Revoluzzer, wurde in der Türkei zu 17 Jahren Gefängnis verurteilt und ist vor der Vollstreckung nach Deutschland geflohen. Taner Şahintürk spielt ihn als in sich verschlossenen Klotz, der wie hospitalisiert Dartpfeile an die Wand wirft und seinen Kummer in sich rein frisst. Irgendwann erträgt er die Demütigungen im fremden Land nicht mehr und verlässt seine Familie ohne Abschied, um in der Türkei seine Strafe abzusitzen.
Hoffnung auf ein kleines gutes Leben
Auf der anderen Seite steht Ümran, die Pinar Erincin mit hinreißender Verliebtheit und mit allen kleinen Hoffnungen auf ein kleines gutes Leben ausstattet. Ihre Desillusionierung ist der vielleicht größte Schmerzpunkt des Abends. Sie gehört zu jenen "einsamen Müttern, die ohne die Versager, die vom Zigarettenholen und Bombenlegen nicht wiederkamen, alleine die Welt retten müssen, die an Checkpoints den Kopf unten halten, die im Entzug ständig neue Arschlöcher kennenlernen, die auf den Fluren der Amtsgerichte auf ihre Söhne warten." An dieser Rolle zerbricht sie.
Sebastian Nübling inszeniert Murats und Ümars Geschichte, die die Geschichte einer chancenlosen Liebe ist, als traurige Show, in der die Varieté-Elemente, die zur Hochzeit des jungen Paars etabliert werden, allmählich zu sinnentleerten Routinen erstarren. Öziri selbst bezeichnet diesen zweiten Teil seines Stücks als "Side B" – und wie so oft, ist es die B-Seite, die das Album erst wertvoll macht: Sie verleiht dem harten Beat der A-Seite eine elegische, mollgesättigte Tiefendimension. Die A-Seite allein hätte ein nettes kleines Studiostück abgegeben. Mit beiden Seiten aber ist "get deutsch or try dyin'" ein Stück, das auf die große Bühne gehört. Unbedingt.
get deutsch or die tryin'
von Necati Öziri
Uraufführung
Regie: Sebastian Nübling, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Pascale Martin, Musik: Lars Wittershagen, Licht: Hans Fründt, Dramaturgie: Ludwig Haugk.
Mit: Dimitrij Schaad, Aleksandar Radenković, Aram Tafreshian, Linda Vaher, Pinar Erincin, Taner Şahintürk, Almut Lustig.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.gorki.de
"Ein militant antreibendes, herzrhythmusstörendes Uff-da-uff-da", hat Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (22.5.2017) im Gorki Theater vernommen. Regisseur Sebastian Nübling suche einen "starken formalen Zugriff" auf den Text von Necati Öziri. Dimitrij Schaad als Hauptfigur Arda "beherrscht alle Brusttöne der Anklage und des Selbstmitleids". Die Wertung zum Abend überlässt der Kritiker dem Publikum: "Möge diese Wut der Anfang der Heilung sein. Am Publikum soll es nicht liegen: großer Applaus."
"Dieser stimmige Abend verschafft ihnen in einer gelungenen Kombination aus guter Textvorlage, sensibler Regie und einem herausragenden Hauptdarsteller Gehör", urteilt Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (22.5.2017).
"Was beginnt wie eine zynische Migrationshintergrundsklamotte, wird bei der letzten Premiere dieser Spielzeit am Berliner Gorki-Theater genau das nicht", schreibt Kirsten Riesselmann in der taz (23.5.2017). Das Gorki unter Langhoff/Hillje sei "weit aus der Gefahrenzone, den eigenen Markenkern – das 'Postmigrantische', also die kulturelle Produktivität jenseits des weißen, männlichen, kanonischen Privilegiertenstadels – als rein amüsantes Revuetheater des großen Anderen zu exploiten". Der "kraftvolle, erheblich substanzielle Text" von Necati Öziri werde in der Umsetzung von Sebastian Nübling zu einem "Experiment mit dem Brennglas", so Riesselmann: "Das Stück zeigt, wie schnell Ohnmacht ins Unglück führt. Wie normal und menschlich die Reaktionen auf Ohnmacht sind. Und wie unentschuldbar sowohl diese Reaktionen sind als auch die Staaten, die solche Ohnmacht produzieren." Es sei "ein Aufbegehren gegen die Formel, dass brüchig gewordene Lebenswege brüchige Lebenswege reproduzieren".
Patrick Wildermann ist eingenommen davon, "wie komplett larmoyanzfrei, klischeeresistent und präzise Öziri schreibt" und en passant auch mal wieder beweise, "dass Menschen ohne Migrationsdefizit oft bessere Geschichten zu erzählen haben als die beflissenen biodeutschen Schreibschulabsolventen mit ihren Kunstbemühungen". Dmitrij Schaad als Erzähler-Hauptperson Arda treffe dazu genau den richtigen Ton: "leicht verhärtet, mit einer Spur desillusionierter Bitterkeit durchsetzt, aber doch voller Herz", schreibt Wildermann im Tagesspiegel (24.5.2017). Sebastian Nübling, der seine Inszenierungen "sonst gern in die maximale Energie und Bewegung treibt", inszeniere hier "entsprechend behutsam und hellhörig".
"Dass ein junger Theaterautor mit seinem ersten größeren Stück nicht seinen Vorbildern hinterherschreibt, sondern sein eigenes Thema und die dazu stimmige Sprache findet, ist eher die Ausnahme als die Regel. Necati Öziri ist so eine Ausnahme", lobt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (27.5.2017). "Necati Öziri findet dafür eine lakonische Sprache. Seine Beobachtungen sind genau, sein Stück hat weder Larmoyanz noch Klischeefiguren nötig."
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Peter Rudl bezeichnete die Kunst als natürlichen Feind der Normalität…und leider war nur letztere auf der Bühne zu entdecken.
Das offene Bühnenbild präsentiert sich in ansehnlicher Größe und Tiefe als solides Handwerk, jedoch ohne Pfiff und büßt beinahe gänzlich seinen Charme durch das fade Licht ein. Dessen ordinäre Wirkung sollen chaotische Verfolgerspots aus den Tiefen ermüdender Einfallslosigkeit empor verhelfen, bleiben indes bis zum bitteren Ende drittklassiges Surrogat.
Dem Text selbst fehlt prosaische Tiefe wie dem Hahn die Fähigkeit zum Eierlegen und die regieliche Führung ist selbst in der „2. Liga“ nur Mittelmaß. Daran ändert auch Dimitrij Schaad als Monolog-Geheimwaffe des Gorki-Theaters nichts. Zur Genüge schon betrachtet, ackert er auch diesmal fern jedes ekstatischen Anflugs den flauen Text die Rampe entlang im sonoren Bariton ab und das Schauspiel aller windet sich mit einer Zähigkeit durch den Abend, dass eine Wurzelbehandlung beim bevorzugten Dentisten als erquickliches Intermezzo erscheinen lässt.
So ist wohl, wie Schopenhauer bemerkte, die Mutter dieser rein nützlichen Kunst die Not, die allenthalben zu erkennen ist. Die schöne, die aus dem Überfluss schöpft, muss in Zeiten intellektueller Dürre wohl noch lange warten.
Möchte mich aber in diesem Punkt Herrn Behrens anschliessen: sich trauen, die Früchte der eigenen Schreibwerkstatt, von und mit Profis auf die große Bühne zu bringen, das gehört gelobt und nachgemacht. Und das versöhnt dann auch, ein bisschen.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/05/23/erzahlen-ist-leben/
http://www.tagesspiegel.de/kultur/get-deutsch-or-die-tryin-am-maxim-gorki-theater-mutter-blau-vater-weg/19838820.html
Im zweiten Teil blendet der Abend zurück auf die Hochzeit von Adars Eltern (gespielt von Pinar Erincin und Taner Sahintürk). Regisseur Sebastian Nübling, der für kraftvolle, körperbetonte Choreographien bekannt, lässt den Abend in eine revuehafte Parodie des Kennenlernens und der Hochzeit zerfasern. Arda alias Dimitri Schaad darf einige spitze Bemerkungen einwerfen, bevor er zu einem larmoyanten Schlussmonolog ansetzt. Die Bühne versinkt im Schwarz, nur noch die Drums sind zu hören. So endete ein Abend, dem der von Nübling erwartete Drive und die erhoffte Würze fehlten.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/05/28/get-deutsch-or-die-tryin-sebastian-nuebliings-inszenierung-von-necati-oeziris-text-fehlen-drive-und-wuerze/