Karamasow – Thorsten Lensing sucht an den Berliner Sophiensaelen mit Dostojewski nach der kindlichen Unschuld
Alte Seelen in Kinderkörpern
von Eva Biringer
Berlin, 4. Dezember 2014. Ein ungeschriebenes Gesetz auf deutschen Theaterbühnen lautet: keine Kinder, keine Tiere. In seiner Inszenierung von Dostojewskis "Karamasow" bricht Thorsten Lensing beide Regeln auf einmal. Aus dem tausendseitigen Familienepos mit dem Prädikat unaufführbar wird in den Sophiensaelen eine Suche nach der kreatürlichen Unschuld, der Vermutung nach in jenen Wesen zu finden, die nichts wissen vom Bösen: in Kindern und Tieren eben.
"Die Brüder Karamasow" sind Dostojewskis letztes Werk. Dafür wurden noch einmal die ganz großen Themen aufgerollt, Schuld, Sühne, Glaube, Liebe. Hoffnung ist eher fehl am Platz. Für ihre Textfassung dampfen Thorsten Lensing und Dirk Pilz den Stoff auf etwas über hundert Seiten ein. Vom Mordkomplott an Vater Karamasow bleibt wenig mehr als indirekte Rede, von seinen drei Söhnen als Bühnencharakter nur der schöngeistige Aljoscha. Zum Glück, denn so ist aus Dostojewskis gesellschaftlichem Rundumschlag mit seinem von befremdlichen Impulsen heimgesuchten Personal etwas sehr viel Greifbareres geworden.
Verletzliche Komik
So entschlackt wie die Handlung ist auch Johannes Schütz' Bühnenbild. Zehn nackte Glühbirnen baumeln von der Decke, ein elftes Licht markiert Momente besonderer Pathetik. Aus der Klassenzimmerbestuhlung entsteht mit Hilfe von Gaffa Tape bei laufendem Betrieb erst eine Krankenstatt, dann eine Leichenbahre. Wenige Zentimeter über dem Boden schwebt eine Glocke wie ein Damoklesschwert über den Sündern, die sie zum Klingen bringen. Lange Jahre arbeitete Johannes Schütz mit dem Regisseur Jürgen Gosch zusammen, aus der Möwe etwa am Deutschen Theater erinnert man die pausierenden, vom Bühnenrand das Geschehen beobachtenden Darsteller.
Diese Darsteller entlassen einen auch nach knapp vier Stunden Spielzeit mit dem Gefühl, nur ein kleines bisschen zu lang im Theater gewesen zu sein. Devid Striesow als Aljoscha tauscht die besonnene Erhabenheit der Romanfigur (die einem Neunzehnjährigen sowieso zwei Nummern zu groß ist) gegen verletzliche Komik. Sebastian Blomberg spielt den dreizehnjährigen Kolja wie die Karikatur eines Disney-Bösewichts. Von den Existenzialisten leiht sich dieser Däumling nicht nur den schwarzen Rollkragenpullover, sondern auch die Misanthropie. Statt Däumchen dreht er die Rute, bereit auf alle einzudreschen, die unempfänglich sind für sein zweifellos vorhandenes Charisma.
Auf den Hund gekommen
Ursina Lardi als Lisa ist der personifizierte sich lösende Dutt, im einen Moment um Aljoschas Liebe flehend, im nächsten durch geistige Abwesenheit glänzend. In Sekundenschnelle durchmisst Lardi die großen Frauenfiguren, von Lolita, zu Lulu, zu Lilith, allerdings ohne auf deren sexueller Dominanz zu beharren. Ist Lisa eine Freud'sche Hysterikerin oder eine frühreife Liebende (von den Gefühlsaufwallungen einer Vierzehnjährigen wusste ja schon Shakespeare zu berichten)? Ihre Mutter Mme. Chochlakowa wird bei Ernst Stötzner zur wechselweise dem magischen Realismus verpflichteten Küchenpsychologin. Von der schönen Witwe zur Pantoffelheldenautorität, die zumindest verbale Backpfeifen verteilt. Horst Mendroch als Iljuscha braucht nicht mal seinen Minitornister, um für neun Jahre gehalten zu werden, es reicht, wenn er schattenboxt. Rik van Uffelen als Iljuschas Vater ist die Resignation in Person, eine Resignation mit russischem Akzent und gebrochener Würde.
Allen gelingt es – und das macht nach Meinung der Rezensentin den wahrlich großen Schauspieler aus – durch minimale Körpersprache, noch vor der eigentlichen Sprache, maximal komplexe Figuren zu erschaffen. Am deutlichsten wird das dort, wo Sprache fehlt. Man muss gesehen haben, wie André Jung auf den Hund kommt (ein Bluthund oder eine Bulldogge wird es sein). Man muss gesehen haben, wie er leicht vornübergebeugt auf Sebastian Blombergs Schulter sabbert und sich das Ohr kraulen lässt, wie er winselt, trieft, die Augen in Zeitlupe zukneift, Reisig apportiert, den Kopf in die Schneemaschine hält wie in den Fahrtwind, kurz: die ganze Palette des devoten bis dämlichen Treucharakters eines Haustiers abspielt.
Kleine Sadisten
Was bleibt? So gerne man Thorsten Lensings insgesamt doch sehr heiterem, auf jeden Fall glücklichem Zugriff auf die unheitere Vorlage Glauben schenken mag, straft sein Ensemble seine Interpretation Lügen. Kinder und Tiere sollen der Schlüssel sein zum Paradies? Vielleicht sind es die Vögel, die unsichtbar, nur durch menschliche Gurrlaute präsent, am Ende des Stücks das Kindergrab umkreisen. Die Kinder hingegen sind allesamt kleine Sadisten. Sie füttern Hunde mit nagelgespickten Stullen, sie träumen davon, wie sie, Ananaskompott löffelnd, Gekreuzigten beim Sterben zusehen. Alte Seelen in Kinderkörpern. Keine Kinder auf der Bühne, nirgends.
Karamasow
nach Fjodor Dostojewski
Textfassung: Thorsten Lensing unter Mitarbeit von Dirk Pilz
Regie: Thorsten Lensing, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Anette Guther, Produktionsleitung: Eva-Karen Tittmann, Technische Leitung:Eugen Böhmer.
Mit: Sebastian Blomberg, André Jung, Ursina Lardi, Horst Mendroch, Ernst Stötzner, Rik van Uffelen, Devid Striesow.
Dauer: 4 Stunden, eine Pause
www.sophiensaele.com
Offenlegung: Dirk Pilz, einer der Redakteure von nachtkritik.de, hat bei der "Karamasow"-Produktion an der Textfassung mitgearbeitet.
Der Regisseur Thorsten Lensing ist einer, der nur alle Jubeljahre mal inszeniert. Dann aber mit seinen eingeschworenen Mitstreitern wie etwa Devid Striesow und Ursina Lardi aufs Ganze geht. Beide waren z.B. auch schon in den Tschechow-Abenden Onkel Wanja (März 2008) und Der Kirschgarten (Dezember 2011) dabei.
Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (6.12.2014) preist die "Intensität" und "Echtheit" des Schauspiels an diesem Abend. "Es ist ein pures Spiel mit offenen Karten. Ein Machen ohne Vormachen. Ein bewusster, kontrollierter Gang durch gegebene Situationen, wobei keiner schon vorher genau zu wissen scheint, wo er mit dem nächsten Schritt landet." Die Akteure "tun, was sie tun, und sie sind, was sie sind. Wie unverlässlich ist die Wirklichkeit, wenn man dieses Theater verlässt."
"Ein Familiendrama ohne Familie“ und ohne die in den Brüdern widerstreitenden philosophischen Positionen biete dieser Lensing-Abend, mithin einen "Dostojewski light, könnte man meinen", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (6.12.2014). Schauspielerisch erinnere manches an den "Onkel Wanja" von Jürgen Gosch. Das Problem der Inszenierung: Mit Aljoscha stehe ein Mensch im Zentrum, "der nur glaubt und nichts will. Der den anderen als stummer Beichtvater dient." Größe gewinne der Abend mit der Figur des Kolja, die Sebastian Blomberg "als eitles, unberechenbares Rumpelstilzchen" spiele.
"Die Entschlackung" des Romans in der Spielfassung "tut dem Material gut. Die Triebkräfte Generationenkonflikt, Gottsuche und Schuld und Sühne schälen sich im exzellenten Spiel des Ensembles heraus", sagt Ute Büsing im Inforadio des rbb (5.12.2014). "Es ist Lensings Kunst, Raum zur Entfaltung zu geben, für lange Monologe und komische Kabinettstückchen."
Lensing habe sich "für eine epische Erzählweise entschieden, gefühlt besteht der Abend aus vielen langen Monologen. Und einigen kurzweiligen Nummern", berichtet Stefan Kirschner in der Berliner Morgenpost (6.12.2014) von einer "mäßig inspirierenden Inszenierung" mit "raren, großartigen Szenen".
Eine "weihevolle Kunsterstarrung" hat Christine Wahl vom Tagesspiegel (8.12.2014) erlebt. "Statt elementaren Spiels" sehe man über weite Strecken "eher selbstbewusstes Virtuosentum. Die intendierte Suche auf offener Bühne mündet ins Kabinettstück." Das heißt: "Die Akteure treten ähnlich monologinselartig auf, wie der Text strukturiert ist: Jeder spielt mit großem Engagement seinen eigenen Hochkaräter-Stiefel, was man schon sehr mögen muss, um über vier Stunden bei der Stange zu bleiben."
Man merke von Anfang an, "da herrscht eine große innere Spannung" bei allen Beteiligten, sagt André Mumot im Gespräch auf Deutschlandradio Kultur (5.12.2014, hier im Podcast). Der Fokus auf die Kinder "ist ein ganz spannender und interessanter Blick auf diesen Roman, wie man ihn so normalerweise nicht bekommt". Gar nicht satt sehen kann sich der Kritiker an den Leistungen der Schauspieler*innen; "die dürfen sich da richtig entfalten, da wird richtig intensiv mit den Schauspielern gearbeitet und die nehmen das ganz dankbar ab und da sieht man die Leute dann in Hochform".
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Und dann noch die Ebene, die durch die erwachsenen Schauspieler entsteht: Im Sterben des jungen Iljuscha sieht man trotz oder wegen aller Kunst des Schauspielers Horst Mendroch auch das Sterben eines alten Mannes und spiegelt damit das Sterben des alten Starez, der auf dem Totenbett in die eigene Kindheit blickt.
Zur Kritik von Eva Biringer, die ich größtenteils gut und treffend finde, würde ich gerne noch anmerken, daß ich nicht glaube, daß die Schauspieler die Intention von Text und Regie unterlaufen, ich halte die Inszenierung für sehr genau gearbeitet. Was die Länge angeht: ich habe viele Stücke von 2 Stunden Spieldauer gesehen, die doppelt so lang waren...
Ich habe viel von Dostojewski gelesen und meine, das in dieser Interpretation sein scharfer , Ironischer Geist zu spüren ist, seine Liebe zur und seine Verzweiflung an der "Russischen Seele". An der hat sich auch in den letzten 100 Jahren nicht viel geändert.
Und gleichzeitig schwingt in der ganzen Inszenierung viel von unserer jetzigen Zeit mit, Befindlichkeiten, Gekränktesten, Irritationen.
Für mich eine der interessantesten Inszenierungen dieses Jahres.
Und man kann guten Schauspielern ja nicht vorwerfen das sie toll spielen.
die szene mit den geistlichen zwei. der hund der zu einem geistlichen mutiert ist das genialste was ich je sehen durfte. was eine klarheit und zartheit in der einfachsten, menschlichsten form. frei von dramatik und kitsch. ich habe alles verstanden. diese szene beschreibt für mich das zentrum des stückes, die wahrhaftigkeit des stückes.
darüber spricht keine presse. wo waren sie nur als sie mit dem schrift den A5 block vollkritzelten?
sebastian blomberg zum in die knie gehen, so fein, so liebevoll schöpfte dieser sein ganzes können in den abend hinein. ursina lardi, unbeschreiblich in alle richtungen. andre jung, ein hund den man riechen kann und einen geistlichen den man verstehen kann.
4 stunden ist eine lange zeit. gerade im theater. aber hier gehörte alles zu einem, man durfte empfinden. dafür ist die zeit viel zu kurz gewesen.
ersichtlich ein grosser fan. eine fänin.
auch ich habe mit Bewunderung diesen Reigen gesehen und ein solcher solle es wohl auch sein. Man muss auch Gosch kennen und das Zusammenspiel toller Schauspieler, die auf der Bühne bleiben und zum Zuschauer werden.
Mit Verlaub Herr Jürgen, ich sehe gute Schauspieler gern und manchmal fällt es mir schwer, in jedem hungrigen Schauspieler auch einen Künstler zu sehen. Das gehört dann auf die Off-Bühne.
Nun obliegt es dem Geschmack, solch eine Inszenierung zu mögen oder auch nicht.
Auch für mich war es eine der ganz wichtigen Inszenierungen des Jahres, weil im ersten Teil in den Monologen immer wieder bedeutende Wahrheiten über die Liebe, die Hoffnung und das Leben ausgesprochen wurden, Zitate, die ich gern notiert hätte. Nun muss ich wohl Karamasow erneut lesen und unterstreichen, um nachvollziehbar die wesentlichen Ideen zu vertiefen.