Heimatsuche einer Extremistin

29. September 2024. Antigones Kampf um eine angemessene Beerdigung ihres Bruders ist auch einer um Emanzipation. Ein Weg zwischen Zweifel und der Überzeugung, das Richtige zu tun. Regisseurin Elsa-Sophie Jach geht hier mit und verleiht den Figuren in ihrer Inszenierung vitale Präsenz.

Von Jens Fischer

"Antigone" von Elsa-Sophie Jach inszeniert am Theater Bremen © Jörg Landsberg

29. September 2024. Heldinnen braucht die Welt. Im Theater wird da gern Antigone genommen. Für Jugendliche verkörpert sie den Kampf Pubertierender gegen Erwachsene und lässt ihre ungezügelte Leidenschaft gegen deren wundgescheuerte Vernunft randalieren. Im Erwachsenentheater ist sie Vorbild für zivilen Ungehorsam, wird für alle Befreiungsbewegungen der Welt einkassiert und rebelliert ganz grundsätzlich gegen Willkürherrschaft. Da die meist von Männern ausgeübt wird, ist sie dann gleich auch eine feministische Emanzipatorin. So wie jetzt wieder am Theater Bremen.

Erst lugt nur eine Hand aus einem sich öffnenden Bühnenbildauge, der hoffnungsblauen Welt Antigones. Dann steht sie da, ganz in Anarchoschwarz. Von stechender Klarheit ist ihr Blick. Unbeugsame Stärke suggeriert die Haltung, stilvoll wütender Trotz kennzeichnet die Sprache. Im Zentrum des Auges ist sie sozusagen die Pupille, die Beobachterin des frech, forsch, fröhlich vor ihr platzierten Chores der Volkskommentare und König Kreon, der hinter Antigone entschlossen gutgelaunt vor leuchtend roten Lamellen auftritt. Er trägt ein weißes Hemd zu schwarzer Hose und denkt in Schwarz-Weiß-Kategorien.

Von Emanzipation zum Fanatismus

Die Söhne und Brüder des Ödipus, Eteokles und Polyneikes, haben sich gerade gegenseitig getötet, der eine wollte Kreons Theben verteidigen und wird mit einem pompösen Begräbnis geehrt, der andere wollte die Stadt erobern und daher befiehlt Kreon als Staatsräson: "Lasst ihn liegen, dass die Vögel ihn zerpicken und die Hunde ihn zernagen“. Das zu ignorieren, werde mit dem Tode bestraft.

Antigone4 1200 Joerg Landsberg uSchwebend auf der Schaukel, schwebend auch die Standpunkte in "Antigone" © Jörg Landsberg

Antigone und Schwester Ismene stehen dann wie Teenagerinnen da. Die eine will aus Schwesternliebe, religiösem Pflichtgefühl, humanistischer Überzeugung und moralischem Anstand das Begräbnisritual vollziehen, sie nennt es "perfekte Frömmigkeit", die andere sagt: "Mädchen können sich nicht durchsetzen gegen Männer". Dankenswerterweise gibt Lieke Hoppe sie nicht feige unemanzipiert, sondern nur etwas bodenständiger und mutloser als die Schwester. Was deren Agenda einen weiteren Schub in Richtung Fanatismus gibt.

Nahbarer Mythos

Schön anzusehen, wie sich beider Haltungen schließlich in einem kontaktlosen Kampftanz verstricken. Hier und immerfort rhythmisieren Lena Geue und Philip Theurer das Geschehen mit gedämpftem Schlagwerk und heizen der Atmosphäre mit bedrohlich aufgeblasenen Tönen ein. Trotz des farbstark sterilen Settings gewinnen die antiken Figuren vitale Präsenz, der Mythos wird nahbar in seiner Fremdheit. Was an der Regie von Elsa-Sophie Jach sowie der geschickt verknappten englischen Übersetzung Anne Carsons liegt, die auch in der deutschen Übersetzung von Maria Milisavljević mit Alltagsjargon – "höre auf rumzueiern" – und literarischen Verweisen sowie humorvoll selbstreferentiellen Passagen eine zeitgemäß antikisierende Poesie entwickelt.

Antigone4 1200 Joerg Landsberg uKampftanz: Shirin Eissa und Karin Enzler in "Antigone" © Jörg Landsberg

Spannend wird "Antigone", wenn sämtliche Standpunkte ernst genommen, inszenatorisch untersucht und die Gegenwärtigkeit der Tragödie gesucht werden. Ist die Heldin Antigone vielleicht doch eher eine exzentrisch todessehnsüchtige Narzisstin? Was Darstellerin Shirin Eissa durchaus andeutet, und interessant auch, ob in der Kreon-Figur eventuell mehr als nur die eitle Herrscherkarikatur steckt. Guido Gallmanns Kreon hat allerdings hinter jovialer Polit-PR-Show und Pflichterfüllungsrhetorik nur Machtwillen, Arroganz und Misogynie zu bieten.

Lebendig-tote Seele

Kurze Momente der Zuneigung widmet dieser Kreon seinem Sohn, aber auch Antigone. Um anschließend umso rüder loszupoltern, anstatt das Thema des Stücks von Sophokles aufzumachen: Wie lassen sich Gesetze und Verhaltensregeln für eine Gesellschaft verbindlich festlegen, wenn man sie nicht als gottgegeben behaupten kann, sondern die Polis ohne Götter behaupten will. Ein Grund für Antigone, sich aufzulehnen.

Sie wirkt beim Schuldbekenntnis erst noch unsicher, wird von Todesstrafenangst durchzuckt. Aber bald durchströmt sie wieder ein eisig stark machendes Gefühl, das Richtige zu tun. Sie behauptet, "alle diese Leute hier würden mir beipflichten", rennt an die Rampe und animiert (vergeblich) zu "Antigone!"-Rufen. Eissa gelingt wunderbar die kritische und empathische Rollengestaltung einer Frau mit Hang zum Märtyrertum und der Selbstaussage: "Meine Seele ist lang schon tot." 

Ikonenstatus als Selbstmörderin

Mit poppigen Mitteln verfolgt die Inszenierung den Weg Antigones. Mit ihren Live-Video-Statements, super ausgeleuchteten Poster-Posings, Tiktok-kompatiblen Tanz- und düsteren Gesangseinlagen wirkt der Abend wie die Requiem-Doku einer coolen Extremistin, die ihren Ikonenstatus als Selbstmörderin wie ein "unbekanntes neues Zwischending" beschreibt, ist ihre Heimat doch "nicht bei den Toten, nicht bei den Lebenden." Vielleicht ein Star im legendären Club der toten 27-jährigen Künstler, wenn man vom Alter der Darstellerin auf das ihrer Rolle schließen darf.

Bis zu ihrem Suizid kommt der Abend unheimlich stringent in seiner konzentrierten Klarheit daher. Dann ist schauspielerisch die Luft raus. Bühnenbildnerisch gibt's noch Effekte und inhaltlich wird mit weinerlichem Pathos, etwas gemildert durch einen plötzlich herrschenden Aufsageton, nur das Ende der Geschichte abgehakt. Ein blasses Finale nach der ambivalenten Heldin-Geschichte.

Antigone
Von Anne Carson nach Sophokles, Deutsch von von Maria Milisavljević
Regie: Elsa-Sophie Jach, Bühne: Marlene Lockemann, Kostüme: Belle Santos, Komposition und Musikalische Leitung: Lena Geue, Dramaturgie: Theresa Schlesinger, Live-Musik: Lena Geue, Philip Theurer, Live-Kamera: Cantufan Klose.
Mit: Shirin Eissa, Lieke Hoppe, Levin Hofmann, Karin Enzler, Irene Kleinschmidt, Guido Gallmann und Kinderstatisterie.
Premiere am 28. September 2024
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.theaterbremen.de

Kritikenrundschau

Dynamisch umgesetzt findet Christine Gorny auf "Bremen zwei" von Radio Bremen (299.2024) diese Antigone-Adaption. "Diese knapp 2 Stunden waren sehr an der klassischen Antigone orientiert und wirkten trotzdem überhaupt nicht angestaubt. Der Konflikt zwischen Kreon und Antigone, zwischen krampfhaftem Machterhalt und unbeugsamer Moral, wird eindringlich und psychologisch glaubwürdig vermittelt. Was nicht zuletzt an der durchweg sehr guten schauspielerischen Leistung liegt." Ab und an setze eine Live-Kamera Gesichter riesengroß in Szene. "Der deklamatorische Sound der klassischen Tragödie wird musikalisch gebrochen von Lena Geue und Philip Teurer, die rechts und links vor Bühne mit ihren Mischpulten und Instrumenten postiert sind."

Kommentar schreiben