Happy Nights - Theater Bremen
Sex Care
1. Oktober 2023. Vom einträglichen Geschäft mit getragenen Socken bis zur Turnübung am Gynäkologenstuhl: In Lola Arias' neuem Rechercheprojekt mit Expert*innen des Alltags und Tänzer*innen erfährt man wirklich alles, was man schon immer über Sexarbeit wissen wollte. Das Erkenntnisinteresse des Abends gilt allerdings noch einem anderen Aspekt.
Von Andreas Schnell
1. Oktober 2023. Ein Piccolo im "Happy Night" in Bremen Walle kostet 27,50 Euro – der Klient zahlt, die Sexarbeiterin trinkt, und einen Anteil an den Getränkeeinnahmen bekommt sie obendrauf. So hält es Hannelore Dopmann, Jahrgang 1945 und seit Jahrzehnten Wirtin an der heute nur noch sehr kurzen Rotlichtmeile am ehemaligen Überseehafen.
Um das herauszufinden, muss man sich nicht ins Milieu begeben. Ein Besuch in Lola Arias' neuer Arbeit "Happy Nights" im Kleinen Haus am Theater Bremen genügt. Und billiger ist es obendrein. Zumal im "Happy Night", nach dem der Abend benannt ist, im Anschluss womöglich noch für "Sexarbeit" bezahlt wird. Sexarbeit, auch das lässt sich am Theater Bremen herausfinden, hat viele Gesichter: Sie wird in der Rotlichtkneipe und dem Dominastudio verrichtet, online vor der Kamera, leibhaftig in "Modellwohnungen" und in Pornofilmen.
Realitätsgetreue Penisstechereien
Fünf entsprechende Räume hat Irene Ip im Kleinen Haus installiert, dem Vernehmen nach der Realität detailgetreu nachempfunden. Und wer noch nie an einem Ort war, an dem sich Menschen Nadeln durch den Penis stechen lassen, wird hier Zeuge oder Zeugin einer realistischen Vorstellung davon, erfährt von einer transsexuellen Prostituierten und Pornodarstellerin einiges über die Arbeit in Privatwohnungen oder kann sich Auskunft darüber geben lassen, wie ein Mann, dessen Körperbehaarung per Hormongabe üppige Ausmaße angenommen hat, Geld verdient, indem er nicht nur vor der Webcam performt, sondern unter anderem auch getragene Socken an seine Kundschaft verkauft.
Ein Aufklärungsabend zum Thema "Sexarbeit" ist "Happy Nights" freilich doch nicht. In die Geschichten der Expert*innen des Alltags dringen die Tänzer*innen der Bremer Tanzcompagnie Unusual Symptoms, schlängeln sich nicht nur physisch, sondern auch verbal hinein in die Welt des Tauschs von Sex und zumindest vorgeblicher Intimität, berichten von ihrem eigenen Verhältnis zu Sexualität und Sexarbeit. Paulina Bedkowska, Gabrio Gabrielli, Maria Pasadaki, Andor Rusu, Young-Won Song, und Csenger K. Szabó sind dabei als Klient*innen des SM-Studios zu erleben, als Poledancer oder als Kneipengäste, sie turnen auf einem gynäkologischen Stuhl und im Bett der transsexuellen Sexarbeiterin Sasha Sioux.
Emotionalität performen
Oft gerät das eher assoziativ, immer wieder aber loten die Unusual Symptoms im Zusammenspiel mit den Sexarbeiter*innen aus, was die eine Form der Arbeit mit dem Körper mit der anderen zu tun hat. Was dann wohl doch nicht wenig ist: dass auch Tänzer*innen als Projektionsfläche von Sehnsucht nach Nähe und Authentizität fungieren, dass sie dabei eine Emotionalität performen, die vielleicht das ausmacht, was in der Sexarbeit verhandelt wird.
Tänzerisch und logistisch ist das durchaus anspruchsvoll, weil parallel in vier Räumen gespielt wird und immer etwas zu tun ist (der fünfte Raum ist eine Videokabine, in der ein Porno läuft). Die Einsätze müssen also punktgenau sein, während das Publikum sich frei zwischen den Räumen bewegen kann. Eine Art roten Faden legt dabei River Roux (laut Theater-Website Performancekünstlerin, Sexarbeiterin und Luftakrobatin), die erklärt, dass die Künste und das Geschäft mit dem Sex seit jeher Hand in Hand gehen: Wer schließlich die Modelle gewesen seien, die den Malerin Modell standen? Hookers – Huren! Sexarbeit bedeute, einem anderen Menschen das Gefühl zu geben, im Mittelpunkt zu stehen. Care-Arbeit.
Königin Hannelore
"Happy Nights" wirkt in dieser Hinsicht dann doch etwas leichtfertig. Studien deuten darauf hin, dass von den einigermaßen seriösen Schätzungen zufolge rund 400.000 Menschen, die sich in Deutschland prostituieren, dies nur etwa zehn Prozent freiwillig tun. Dass das aber ein Ausdruck nicht allein von materieller Not ist, scheint in "Happy Nights" durchaus auf, in den Erzählungen der Akteur*innen und ganz beiläufig in ihrem Umgang mit Hannelore, die wie eine Königin am Tresen im Nachbau ihrer Bar thront, während ihre Erinnerungen verblassen: Ganz sanft streichen die Jüngeren ihr im Vorbeigehen über den Arm, manchmal ergreift Hannelore eine Hand. Dem Menschen als sozialem Wesen mangelt es offenbar so sehr an Intimität und Nähe, dass sich auch noch daraus ein Geschäft machen lässt.
Happy Nights
von Lola Arias / Unusual Symptoms
Regie: Lola Arias, Künstlerische Mitarbeit: Alexandra Morales, Andy Zondag, Bühne und Kostüme: Irene Ip, Musik: Heiko Tubbesing, Licht: Joachim Grindel, Video: Stefan Korsinsky, Dramaturgie: Bibiana Mendes.
Mit: Beate Augustin, Paulina Bedkowska, Kito Chemnitz, Hannelore Dopmann, Gabrio Gabrielli, KAy Garnellen, Maria Pasadaki, River Roux, Andor Rusu, Sasha Sioux, Young-Won Song, Csenger K. Szabó.
Uraufführung
Premiere am 30. September 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theaterbremen.de
Kritikenrundschau
"Mir hat gut gefallen, wie sehr der Teilaspekt der Sexarbeit 'für jemanden tanzen' in Frage gestellt wurde. Warum ist es in einer Kneipe an einer Polestange verpönter für jemanden für Geld zu tanzen als in einem Theater auf der Bühne?", so Frieda Ahrens von Bremen Zwei (4. Oktober 2023). "Außerdem wurde das Thema sehr breit dargestellt: zum einen durch die Diversität der Darstellenden und zum anderen durch verschiedene Perspektiven, die zeigen wie man mit Sex Geld verdienen kann. Der Alltag und die Lebensrealität von Sexarbeit werden authentisch dargestellt, ohne dass eine Geschichte prominenter als die andere erzählt wurde."
"Das aufklärerische Potenzial dokumentarischen Theaters wird also dem unbedingten Willen geopfert, einmal mehr das moralische Tabu zu beseitigen, das den Bereich einst beherrscht hatte und sicher noch immer prägt", schreibt Benno Schirrmeister in der taz (4.10.2023). "Harmlos ist das, völlig unpolitisch und doch einfach richtig schön. Viel zu schön, um wahr zu sein."
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