Halbgötter in Grün

8. Oktober 2022. Robert Icke hat Arthur Schnitzlers "Professor Bernhardi" ins Heute überschrieben; dass die Titelfigur jetzt eine Frau ist, ist nur eine von vielen identitätspolitischen Weichenstellungen. Stefan Pucher macht in Hannover trotz steriler Krankenhauskulisse einen so unterhaltsamen wie aufklärerischen Theaterabend daraus.

Von Jan-Paul Koopmann

"Die Ärztin" © Kerstin Schomburg

8. Oktober 2022. Auch ganz am Schluss ist sonderbar schwer zu sagen, wie genau es eigentlich angefangen hatte mit der Kündigung, den Rücktritten im Direktorium, der Petition, dem Shitstorm und diesen Morddrohungen. Eine hitzige Minute auf dem Flur war’s jedenfalls, mit einer Meinungsverschiedenheit – vielleicht einer Rangelei – ganz sicher aber der Machtprobe zwischen Krankenhaus und Kirche: Ärztin lässt Priester nicht ins Krankenzimmer. Und natürlich spielt es eine Rolle, dass sie weiblich und er Mann ist. Aber es werden auch noch weitere Ideen darüber kommen, wo nun "eigentlich" das Problem lag. So circa eine Theaterstunde später wird es etwa heißen, niemand wage, das Offensichtliche auszusprechen: dass der Pater nämlich Schwarz ist. Und da wäre man nun auch im Publikum nicht drauf gekommen, weil Hajo Tuschy – der ihn spielt – ja nun so weiß ist wie nur nur was.

"Sehr frei nach Arthur Schnitzler" hat der britische Autor Robert Icke "Die Ärztin" geschrieben und ihr neben wohldosierten Gegenwartsbezügen vor allem zwei bis drei Schippen Identitätspolitik extra verpasst. Von der gut hundertjährigen Vorlage "Professor Bernhardi" geblieben sind Kernkonflikt und grober Plot: dass eben ein leitender Mediziner einen Priester nicht ans Bett des sterbenden Mädchens lässt, weil die Letzte Ölung ihr zwar möglicherweise die Hölle erspart, ihr ganz sicher aber den nahen Tod vor Augen geführt und Panik gestiftet hätte. Dass dieser Arzt Jude ist und das Mädchen infolge eines selbst vollzogenen Schwangerschaftsabbruchs verreckt, wären weitere Zutaten des politischen Dramas um Macht, Identität, Verantwortung und (Selbst-)gerechtigkeit.

Identitätspolitische Fragen ohne identitätspolitische Besetzung

In Hannover hat sich nun Stefan Pucher des Textes angenommen und ihn erstmals in Deutschland inszeniert. Und er kann schon irritieren, dieser Reigen aus Ickes so endlosen wie teils widersprüchlichen Identitätszuschreibungen: Mann? Christ? Schwarz? Trans? Jüdin? Weiß oder Professor? Selbst die "weißen Kittel", von denen so viel die Rede ist, sind hier ja eigentlich grün, wenn man ehrlich ist. Dass man den Überblick ausdrücklich auch verlieren soll, hatte der Autor spätestens klar gemacht, als er sein Stück Anfang des Jahres in Wien selbst inszenierte. Wie an diesem Abend arbeitet nun auch Pucher in Hannover mit Schwarzen Schauspieler:innen, die aber gerade nicht die Schwarzen Figuren besetzen.

Und obwohl etwa auch Männer in Frauenrollen ziemlich genau so alt sind wie das Theater selbst, macht sowas hier einen echten Unterschied. "Hätten Sie das auch gesagt, wenn ich ein Mann wäre?", wäre zum Beispiel so ein Satz, mit dem etwas passiert, wenn eine Schauspielerin ihn der anderen Schauspielerin um die Ohren haut. Einmal war ich mir schon zwei Minuten später nicht mehr ganz sicher, ob’s beim Streit der Klinikleitung eben hieß: "Ich bin die ranghöchste Person, die nicht weiß ist", oder eben gerade doch "die weiß ist". Und ich werd’s auch nicht mehr nachlesen, wie es so viel lustiger ist und weil die Chancen eh bei 50:50 liegen.

Die Titelfigur: eine Zumutung ans Publikum

Kurz gesagt: Es geht diskursiv höchst turbulent zu bei Puchers "Ärztin", ist unter enormem Druck und Tempo mitunter sehr ergreifend, aber immer irre und saukomisch. Mittendrin schwingt Johanna Bantzer in der Titelrolle lange sowas wie die Fahne der Vernunft (oder wenigstens der Rationalität). "Nur dem Namen nach eine Frau", wie es heißt, hält sie sich unterkühlt und wacker gegen Unterstellungen und Vereinnahmungsversuche gleichermaßen – und doch lässt Bantzer keine Sekunde den Verdacht aufkommen, ihre fragil angelegte und großartig gespielte Figur sei nur eine Idee: ein Platzhalter für Fortschritt, Wissenschaft oder so Zeug. Diese Ärztin ist im besten Sinne des Wortes eine Zumutung ans Publikum: eine maximal unsympathische Type eigentlich, die aber ganz bestimmt Solidarität verdient gegen all die Männer, Abtreibungsgegner:innen, Antisemit:innen und sonstige Arschlöcher. "Das Leben ist sehr kompliziert", sagt sie einmal, und bereits mit der Pointe wäre man schon glücklich nach Hause gegangen.

Ärztin2 Kerstin Schomburg uHier werden -ismen seziert: Stéphane Laimés Bühnenbild für "Die Ärztin" in Hannover © Kerstin Schomburg

Stéphane Laimés Bühnenlandschaft macht’s für die Ärztin zum Heimspiel. Immerhin ist der technisierte, sterile Raum zwischen lackierten Oberflächen und Plastik ja auch ihr Institut. Ab und zu fährt eine Art Glaskasten aus dem Boden, in dem sich die Ärzt:innenschaft zur jeweils nächsten Eskalationsstufe einfindet. Insbesondere Lukas Holzhausen brilliert hier darin, die falsche Haltung so entschlossen wie rücksichtslos zu vertreten, ohne dabei gleich den Bösewicht raushängen zu lassen: an diesem Abend ist das vielleicht das erste Mal, dass so ein vager Verdacht aufkommt, dass andere Meinungen bei aller Liebe für Frau Professor irgendwie auch zu ihrem Recht kommen könnten.

Theater, das klüger macht

Diese grässlichen Dynamiken im Kollegium haben übrigens mit Medizin nicht viel zu tun. Die erkennt jede:r wieder, der oder die irgendwo mal – sagen wir – die halbe Höhe irgendeiner Karriereleiter erklommen hat. Das wiederum wäre dann Puchers Verdienst: zwischen all den Race-, Class-, Religion- und Gendertroubles auch noch eine so grundsolide wie aufgeräumte Analyse fach- und machtpolitischen Elends auf die Bühne zu knallen. Ganz im Ernst: Man wird hier wirklich mal klüger im Theater – und dabei höchstens ein bisschen zynischer. Woran das liegt: Obwohl man sich auch zwischendurch durchaus mal fragen könnte, was an Rassismen, Unterdrückung und Frauenhass nun eigentlich so lustig sein soll, fliegt’s einem kurz vor Schluss so richtig um die Ohren.

Als nämlich tatsächlich nur noch lautes Lachen aus dem Publikum quittiert, wie Schauspieler Nicolas Matthews sich im Talk-Show-Tribunal der Ärztin als "Experte für postkoloniale Theorie" vorstellt. "Auch das noch", rutscht’s jemandem in Reihe sieben raus, der sich später nur wenig leiser mit "Oh Scheiße, nein!" hörbar getroffen entschuldigt – weil auch die gemeinste Rabulistik selbst überzogen gespielter Vertreter:innen Schwarzer Commuties ja Recht darin hat, dass sich weiß leichter über den Dingen stehen lässt. Dass man es sich leisten können muss, sich nicht als Teil einer Gruppe zu definieren. Und so weiter. Plattitüden? Klar. Aber es ist schon eine alarmierende Erfahrung, sowas nach nur zwei Stunden Komödie offenbar wieder vergessen zu haben. Ach ja: Dass hier Publikum und Hauptfigur diesen Moment nahezu zeitgleich erfahren und sozusagen gemeinsam verschämt im Sessel versinken – das spricht schon sehr für diese Inszenierung, die eben nicht nur klug ist, wahr und witzig, sondern auch so richtig gut gemachtes Theater.

Die Ärztin
von Robert Icke nach Professor Bernhardi von Arthur Schnitzler
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Annabelle Witt, Musik: Christopher Uhe, Video und Live-Kamera: Hannes Francke und Ute Schall, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Johanna Bantzer, Nikolai Gemel, Christine Grant, Lukas Holzhausen, Wolf List, Miriam Maertens, Nicolas Matthews, Viktoria Miknevich, Hajo Tuschy.
Premiere am 7. Oktober 2022
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-hannover.de

Kritikenrundschau

Die Protagonist:innen-Rolle spiele Johanna Bantzer "in diesem Spagat zwischen moralischer Standfestigkeit, Selbstüberschätzung und Verletzlichkeit" fantastisch, findet Jörg Worat in der Neuen Presse (11.10.2022). Auch der Rest des Ensembles trage seinen Teil zum Gelingen des Abends bei. Dieser ist für den Kritiker "ebenso tiefgründig wie unterhaltsam".

"In Hannover schichtet Regisseur Stefan Pucher die immer neuen Lagen des Diskurses mit kühler Präzision übereinander", schreibt Kritiker Stefan Arndt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (10.10.2022). Dem guten Ensemble um Johanna Bantzer gelinge es, dem Diskurs auf der Bühne Lebendigkeit zu verleihen. Bantzer selbst spiele mit einer fast "schmerzhaften Mischung aus Härte und Verletzlichkeit". Doch sei "Die Ärztin" kein packendes Drama, sondern "eine theatrale Reflexion über ein aktuelles Thema, die im Zuschauer nachklingen kann".

"Lustvoll" werde in dieser Inszenierung um die Bedeutung von Klassismus und Rassismus gerungen, urteilt Agnes Bührig im NDR (8.10.2022). "Aseptisch" gerate nur die erste Hälfte des Abends, dann werde es bunt. Überzeugend seien vor allem die Schauspieler:innen Johanna Bantzer, Hajo Tuschy und Christine Grant. Erstere spiele "kämpferisch, textstark und präsent". "Ein Stück für alle, die noch einmal tief in das Thema Identitätspolitik eintauchen wollen", resümiert die Kritikerin.

Ganz anders Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.10.2022): "Die Ärztin" hocke in der Kitschfalle von Robert Ickes mit intellektuellen Moden, Trends und Thesen übervollem Diskursdruckkochtopf. "Stefan Pucher hat ein bisschen Video dazu gemischt und demütig den Regiekopf gesenkt, anstatt den sauren Eintopf mal kräftig umzurühren. Das unterforderte Theater kann da nur rufen: Gute Besserung in die Runde!"

"Nicht nur in einem Haus, das seit dem Antritt der Intendantin Sonja Anders selbst gelegentlich den Eindruck erweckte, im Bann ausgrenzender Identitätsdiskurse gefangen zu sein, ist diese Inszenierung wichtig und verdienstvoll. Dank des überzeugenden Zusammenspiels des sehr diversen Ensembles ist 'Die Ärztin' ein wirklich anregender und analytischer Diskussionsstoff, um die brutal ungerechten Ergebnisse eskalierender Schuldzuweisungen zu besprechen", befindet Till Brieglebt in der Süddeutschen Zeitung (20.10.2022). "Das Prinzip getäuschter Erwartung“ werde in der Inszenierung "zur ständigen Mahnung, schnellen Zuschreibungen zu misstrauen."

Kommentare  
Die Ärztin, Hannover: Beeindruckend
Das ist in der Tat ein in jeder Hinsicht beeindruckender Theaterabend.
Wenn man sich klarmacht, dass es ja eigentlich nicht viel zu sehen gibt (ist nicht negativ gemeint, das Bühnenbild hat mir gefallen), ist es um so beeindruckender, wie konzentriert das Publikum den Dialogen folgte - Sätzen, zu denen man sich als Zuschauer automatisch positionieren muss. Theater als Selbst-Aufklärung, ohne dass einem eine bestimmte Position aufgedrängt wird. Das zeigt auch die Koopmanns Kritik.
Dankbar sein muss man Icke auch für folgende klar formulierte Erkenntnis: Als es darum geht, dass die Ärztin sich entschuldigen soll und natürlich die Formulierung "wenn ich jemanden beleidigt haben sollte" kommt, sagt die von Lukas Holzhausen gespielte Figur: "Ich entschuldige mich, falls - das ist 'F*** dich!'" Man sollte den Abend Friedrich Merz und allen anderen sich so Äußernden empfehlen!
Ärztin, Hannover: Ohne Proporzgedanken
I Want to Know What Love Is“ singt Johanna Bantzer vor ein paar Jahren auf der Bühne des Hannoveraner Schauspielhauses. Jetzt kehrt sie zurück und weiß als ÄRZTIN immer noch nicht was Liebe ist. Dafür weiß sie als Top-Medizinerin umso besser, welche Regeln aus gutem Grund einzuhalten sind. Kompromisse sind nicht ihre Sache. Keine Ausnahmen für Frauen, Juden, Katholiken, Lesben, Schwarze, Dicke oder Dünne. Wissenschaftlich begründete Normen gelten für alle, sie sind universell. Kant hätte seine Freude gehabt, denn die Ärztin bleibt standhaft, missachtet jeden albernen Proporzgedanken und besetzt freiwerdende Leitungspositionen rein nach Qualität, spielt als der öffentliche Druck auf sie zunimmt nicht die „ich bin eine verfolgte Jüdin“-Karte und sie ignoriert die in den Social Media verbreiteten Hasstiraden so gut es geht. Selbst in der unvermeidlichen Talk-Show steht sie ihre Frau. Nur die Einlassungen der zwei „woken“ Talkgäste bringen sie fast aus der Fassung. Ihr saturierten Weißen mit euren universellen Regeln wisst gar nicht, wie sehr diese Regeln euch nützen und sie bestimmte Gruppen der Gesellschaft – hier vor allem people of colour – ausgrenzen und verletzen. Hier könnte sich das katholische Vater des gestorbenen Mädchens durchaus anschließen, hier könnten sich auch die Zeugen Jehovas anschließen, die jede noch so „wissenschaftlich“ begründete Bluttransfusion verweigern, weil es nach ihrer Meinung und nach ihrem Empfinden, unsagbares Leid verursacht. Leid vermeiden, Glück vermehren, darauf kann man sich schnell einigen. Aber wer definiert genau, welches Leid vermieden werden soll. Jede Gruppe für sich (was konstituiert „eine Gruppe“?) oder jeder Einzelne für sich (wann ist dem klar artikulierten Wunsch eines einzelnen Menschen hundertprozentig zu folgen?). In „Kindeswohl“ hat Ian McEwan diese Fragen zur Diskussion gestellt. Und der ebenfalls britische Autor Robert Icke greift sie in seinem Stück „Ärztin" (The Doctor) überlagert von aktuellen Positionen der Identitätspolitik noch einmal auf. Und das ist gut so, denn diese Fragen treiben uns auch in der Hannoveraner Stadtgesellschaft um. Und wo sonst werden diese Fragen ordentlich und deutlich und – in dieser Inszenierung – auch angemessen differenziert und unterhaltsam zur Diskussion gestellt? Das ist gutes Diskurstheater mit viel Stoff und vielen Thesen. Die private, die „menschliche Seite“ der Ärztin kommt ja als eigene Story und als Deutungsfolie noch hinzu, denn als Johanna Bantzer zusammen mit ihrer verstorbenen Freundin singt und tanzt, ahnt man doch, dass sie, die Ärztin, als MENSCH viel besser als Hamlets Mutter Gertrud weiß, was Liebe ist.
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