Anthropolis II: Laios - Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Kranke Scheiße
29. September 2023. Karin Beier und Roland Schimmelpfennig schreiben ihre Theaterserie über die Geschichte des antiken Theben weiter. Der Versuch, die im ersten Teil angestoßene Gewaltspirale zu beenden, führt sie nun in die Niederungen der Alltagspolitik.
Von Falk Schreiber
29. September 2023. Zu Beginn gibt es einen Knall. Viele Serien sind so aufgebaut: Die erste Folge ist oft überladen, ein großes Personaltableau wird etabliert, Konflikte werden aufgebaut. Das Publikum sitzt da mit offenen Mündern, ist mitgerissen, manchmal auch überrollt. In der zweiten Folge kann man dann den Druck ein bisschen rausnehmen, ohne die Zügel völlig aus der Hand zu geben.
Man kann mit dem Tempo spielen, man kann Erzählstränge erstmal ruhen lassen, kann einen zunächst am Rande verlaufenden Strang ins Zentrum holen. Die zweite Folge ist schwierig, weil man hier dem Publikum Gelegenheit zum Luftholen geben muss, es aber auch nicht verlieren darf.
Solostück für Lina Beckmann
Regisseurin Karin Beier und Autor Roland Schimmelpfennig gehen in ihrer auf fünf Folgen angelegten Griechische-Antike-Serie "Anthropolis" am Hamburger Schauspielhaus wie nach dem Lehrbuch für Serienmacher:innen vor. Prolog/Dionysos vor zwei Wochen war gnadenlose Überforderung, des Theaterbetriebs wie des Publikums. Der Nachfolger "Laios" tritt jetzt auf die Bremse.
Bevölkerte damals die Crème des Schauspielhaus-Ensembles Johannes Schütz' Bühne, dazu Kinder-Statist:innen, ein lebendes (!) Pferd sowie als Höhepunkt 20 Taiko-Trommler:innen, ist "Laios" nun ein Solostück für Lina Beckmann. Gut, Beckmann erwies sich schon in "Prolog/Dionysos" als Publikumsliebling, wer das damals mochte, kauft auch heute wieder Tickets, aber die Gigantomanie des Vorgängers ist erstmal passé.
Toxische Familienverhältnisse
Im Schnelldurchlauf durch die Geschichte der Stadt Theben geht es diesmal um Laios. Der zählt zu den vergleichsweise unbekannten Protagonist:innen der griechischen Mythologie: Er ist der Urenkel des Kadmos, der zuvor, wir erinnern uns, Theben als gewaltvollen Einbruch in die Ordnung der Natur gegründet hatte. Laios' Funktion im Mythos ist, zum Herrscher Thebens zu werden, Iokaste zu heiraten und mit dieser Ödipus zu zeugen, welcher daraufhin den Vater tötet und die Mutter heiratet. "Kranke Scheiße!", ruft Beckmann angesichts solch toxischer Familienverhältnisse aus.
Schimmelpfennig also holt diese Nebenfigur ins Zentrum und fragt, was Laios eigentlich antreibt. Der nämlich will gar nicht an die Macht. Im Gegenteil – während Theben in Bürgerkriegen versinkt, sitzt er in Olympia und führt ein queeres Bonny-und-Clyde-Leben. Bis ihn das Thebener Bürgertum zurückholt, als letzten Überlebenden aus Kadmos' Familie, der irgendwie die Ordnung wiederherstellen soll: "Einer muss die Stadt führen, und das kannst nur du sein!"
Weg zurück ins Chaos
Ein guter Teil des 90-minütigen Abends wird darauf verwendet, den Übergang der Macht auf Laios darzustellen, in einer Art komödiantischem Maskenspiel, mit dem Beier den Chor aus ihrem erstem Hamburger Antiken-Gewaltakt, Die Rasenden von vor knapp zehn Jahren, auf nicht unsympathische Weise noch einmal in Erinnerung ruft. Beckmann spielt dieses technokratische Politikverständnis als Listenaufstellung im SPD-Ortsverein Harburg-Süd: Jeder weiß, was am Ende das Ergebnis sein wird, aber in einer Mischung aus wohlmeinender Jovialität und kaltem Machtbewusstsein werden dennoch Optionen durchgespielt, bis, natürlich, Laios als künftiger Herrscher alternativlos dasteht.
Ein wenig erinnert das an die Situation der Hamburger SPD 2011. Die Partei war damals bis aufs Blut zerstritten, halbwegs eine Chance auf die Macht hatte sie nur, wenn sie jemanden von außen holte, der nicht in die örtlichen Streitereien eingebunden war. Sie holte: den heutigen Kanzler Olaf Scholz. Der darauf knallhart durchregierte: "Wenn man bei mir Führung bestellt, bekommt man sie auch!" Lina Beckmanns Laios geht jetzt ähnlich nach Theben wie einst Scholz nach Hamburg – nicht wirklich interessiert, aber wenn er den Job schon machen muss, dann macht er ihn richtig. Macht er dann natürlich nicht.
Ein Orakel sagt ihm die Zukunft mit Ödipus und dessen Vatermord voraus, zunächst macht er sich darüber lustig, geriert sich als Aufklärer, der Angst und Aberglaube aus der Politik verbannen möchte. Dann aber wächst Iokastes Bauch, und die Angst, was in diesem Bauch entsteht, schwemmt alle Aufklärung hinweg (und dass eine Sphinx als ausgewachsene Psychose Laios' Sinne vernebelt, ist auch keine große Hilfe). Was den Weg zurück in Chaos und Blut bereitet – und zwar vollkommen sinnlos, denn dass sich der Orakelspruch nicht wegschlachten lässt, ist klar.
Scharfsinnige Deutung
Lina Beckmann spielt all das mit Humor, mit Mut zur Drastik, mit derber Körperlichkeit. Manchmal stellt sie sich neben sich, kommentiert das gerade Gesagte noch einmal, manchmal gibt sie die gutwillige Lehrerin, die verzweifelt abfragt, ob das Publikum auch alles verstanden hat. Karin Beiers Inszenierung setzt diesmal nicht auf Überforderung, sie überrollt das Publikum nicht, sondern nimmt es an der Hand und führt einen durch eine so scharfsinnige wie politische Deutung des antiken Mythos, die man nach dem ersten Teil so noch nicht hatte kommen sehen. In zwei Wochen folgt Teil drei, "Ödipus", und natürlich will man jetzt wissen, wie es weitergeht. Serienaufbau nach Lehrbuch, aber trotzdem super.
Laios
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Karin Beier, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Wicke Naujoks, Musik: Jörg Gollasch, Licht: Annette Ter Meulen, Video: Voxi Bärenklau, Dramaturgie: Sybille Meier, Mitarbeit Bühne: Anna Wörl, Mitarbeit Kostüme: Teresa Heiß.
Mit: Lina Beckmann, im Film: Lina Beckmann, Goya Brunnert, Josefine Israel, Ernst Stötzner, Julia Wieninger, Michael Wittenborn.
Uraufführung am 29. September 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.de
Mehr zu der Antiken-Serie "Anthropolis":
- Hier geht es zu Anthropolis I: Prolog/Dionysos von Roland Schimmelpfennig und Karin Beier.
Kritikenrundschau
"Anderthalb Stunden lang: schicksalshafte Unterhaltung", schreibt Simon Strauß in der FAZ (2.10.2023) und zeigt sich begeistert: "So grandios" könne es gehen, das Theater – "wenn Regie, Dramatik und Szenografie sich zusammentun, um einer genialischen Spielernatur die größtmögliche Bühne zu bieten". Zu Lina Beckmann, Soloperformerin des Abends, äußert der Kritiker: "Man sieht, hört und bewundert eine Schauspielerin auf der Höhe ihres Könnens." Beckmann sei "vielleicht die variantenreichste Theaterschauspielerin unserer Gegenwart, mit einem schier unerschöpflichen Repertoire an Gesten, Haltungen und Pointen".
"Es ist ein Geschenk, ja, ein Wunder zu erleben, wie sie scheinbar mit Leichtigkeit Höhen und Tiefen der Tragödie durchmisst, wie sie ihren Körper einsetzt", ist Katja Weise im NDR (30.9.2023) von Lina Beckmann begeistert. Karin Beier inszeniere "alles mit leichter Hand und einem guten Gespür für Tempi. Sie gibt ihrer Schauspielerin Raum und gleichzeitig einen klaren Rahmen".
Es sei "ein sensationeller Abend", ein "Ereignis" zu bewundern, ist Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (2.10.2023) überzeugt. Lina Beckmann gehe "volles Risiko bei absoluter Durchlässigkeit". Sie verkörpere "die Brüche, die Autor Schimmelpfennig in den Text gepflanzt hat, zeigt Schwächen auf, Überheblichkeit, Ehrgeiz, Fortschritt, Rückschritt und durch die Generationen (am Ende also vielleicht auch an uns?) vererbte Verletzung. Menschheitsgeschichte. Und die gesamte Ambivalenz und Widersprüchlichkeit liegt in ihrem Auftritt." Karin Beier sei es unterdessen gelungen, mit "Dionysos" und "Laios" zwei ganz unterschiedliche Abende zu entwerfen, die "durch einen gemeinsamen Spannungsbogen, einen gemeinsamen Ton" dennoch "spürbar" miteinander korrespondierten.
"Karin Beier und Roland Schimmelpfennig holen ihr Publikum, wie Medienleute gern sagen, dort ab, wo es steht (wo sie es vermuten). Es wird Dunkles erklärt und durch Ironie entschärft, es wird auch dauernd angedeutet, dass diese alten Griechen bekiffte Hippies sein könnten, die sich den ganzen Wahnsinn nur ausdenken", so Peter Kümmel auf Zeit Online (5.10.2023). Lina Beckmann entwickle allmählich den wilden Enthusiasmus einer Erzählerin, die mit uns teile, was nur sie allein sehe. "Und darin ist sie grandios."
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Wenn Beckmann nicht gerade den Laios in all seinen Entwicklungsstufen – als im Wald ausgesetztes, blutverschmiertes Kind, als junger Liebhaber von Chrysippos oder als nach Theben zurückgerufener König – gibt, dann übernimmt sie einfach alle anderen Rollen gleich mit. Neben der Gattin Iokaste performt Beckmann die komplette Ratsversammlung oder als besonderes Kabinettstücken die Sphinx als Mischwesen aus Frau, Vogel und Katze im blauen Pailetten-Kleid.
Lina Beckmann schwitzt, spuckt, faucht, tanzt und fragt im Stil der wohlmeinenden Grundschullehrerin nebenbei auch noch ab, ob das Publikum bei Teil 1 des Marathons richtig aufgepasst hat und all die Namen richtig zuordnen kann.
Das ist eine sichere Bank für ein volles Haus mit anschließendem Jubel für den Star, aber doch nur ein kleines Intermezzo im Serien-Marathon. Lina Beckmann trägt die 90 Minuten bis auf kurze Videoeinspieler auf der Zielgeraden und kommt ganz ohne „Anspielwurst“ aus. Natürlich bewältigt sie auch das. Aber es bleibt eine virtuose Fingerübung. Wer Lina Beckmann in Höchstform über die Langstrecke erleben will, sollte sie sich als "Richard the Kid and the King" ansehen.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/10/01/laios-lina-beckmann-schauspielhaus-hamburg-kritik/