Jeeps - Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Jenseits der Eierstock-Lotterie
19. November 2022. Nora Abdel-Maksoud schreibt und inszeniert well made plays in Zeiten der Postdramatik. Und wird damit auch nachinszeniert. Wie jetzt von Heike M. Goetze im Malersaal des Hamburger Schauspielhaus: "Jeeps", eine Erbschafts-Komödie. So intensiv, dass theaterästhetische Funken durch den Saal sprühen.
Von Falk Schreiber
19. November 2022. "Willkommen", lockt eine Leuchtschrift über der Tür. Noch sitzt man in der Wartehalle, aber hinter einer Milchglasscheibe wummern dumpfe Beats, vielleicht passiert dort was Spannendes. Wenn man Glück hat. Wenn einen der Türsteher reinlässt. Aber, klar: "Sorry, du heute nicht!" Natürlich hat man kein Glück.
Nora Abdel-Maksouds "Jeeps", uraufgeführt in der Regie der Autorin vor knapp einem Jahr an den Münchner Kammerspielen und jetzt von Heike M. Goetze im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses nachinszeniert, ist ein Stück übers Glück. Genauer: übers Erben. Wer das Glück hat, in eine reiche Familie geboren zu sein, der erbt irgendwann (und kann es sich bis dahin auch leisten, prekär zu leben). Wer dieses Glück nicht hat, der erbt nichts. Abdel-Maksoud also schreibt eine kleine Änderung ins Erbrecht: In der Bundesrepublik ist das Erben eine Art "Eierstock-Lotterie", was spricht eigentlich dagegen, daraus eine echte Lotterie zu machen? Die Erbmasse fällt an den Staat, wer erben möchte, kann sich ein Los besorgen, und mit etwas Glück gewinnt man Millionen, mit Pech gewinnt man Schulden. Klingt unfair? Aber, hey – unfair ist die aktuelle Praxis auch.
Zurück in die Dramatik!
Die Autorin ist eine talentierte Komödienschreiberin: Die Grundidee von "Jeeps" ist raffiniert, praktisch alle Dialoge bestechen mit Punchlines, schließlich leistet sich Abdel-Maksoud noch einen Dreh in den Wahnsinn, indem sie mit der Durchführung der Erb-Lotterie ausgerechnet die ohnehin überlasteten Jobcenter beauftragt. In denen dann das gemacht wird, was man im Jobcenter am besten beherrscht: Man verschanzt sich hinter der Bürokratie und diszipliniert die Antragssteller:innen mittels gezielter Demütigungen. Außerdem zieht das Stück eine Metatheater-Ebene ein, auf der das Geschehen immer wieder kommentiert wird, nur um schnell wieder zur Handlung zurückzukehren: "Zurück in die Dramatik!" Abdel-Maksoud schreibt well made plays in Zeiten der Postdramatik, und in ihren eigenen Inszenierungen weiß die Autorin die Stärken so eines Textes auszuspielen.
Goetze aber arbeitet anders. In Hamburg fiel die Regisseurin erstmals mit einer hermetischen, sperrigen "Geschichten aus dem Wiener Wald"-Inszenierung auf, zunächst Lockdown-bedingt als Stream, später auch vor Publikum, und zu Beginn sieht es so aus, als ob sie ihren extrem stilisierten Theaterzugriff auch in "Jeeps" beibehalten würde: mit einem tastenden, unwirklichen Einstieg, in dem sich der achtköpfige Chor in die Wartehalle hineinzittert, "Opferwürste", wie die Leistungsempfänger:innen von den Mitarbeitern verspottet werden. Das wirkt dunkel, ähnlich schwer zugänglich wie Goetzes Hamburger Erstling, aber so leicht macht es ihr dieser Text nicht, dass sie eine einmal erprobte Erfolgsformel einfach weiter durchziehen dürfte.
Schmiere, Action, Slapstik
Der Text will nämlich die Schmiere, die Action und den Slapstick, und all das bekommt er auch. Mit Jobcenter-Mitarbeitern (Jan-Peter Kampwirth und Daniel Hoevels), die ihre Hassliebe dadurch ausleben, dass sie sich die Sitzbälle unterm Hintern wegkicken. Mit Unternehmerin Silke (Angelika Richter), deren einzige Chance, noch halbwegs heil aus ihrem gescheiterten Start-up rauszukommen, darin besteht, das kleine Vermögen ihres verstorbenen Vaters zu erben. Mit Kitschroman-Autorin Maude (Eva Maria Nikolaus), die eh nichts erben wird und sich deswegen in zynische Aggressivität flüchtet. Mit Simon Brusis als postdramatischem Deus Ex Machina, der in Spinnengestalt zwischen einer riesigen Bananenstaude herumkriechen darf. (Ja, Goetzes selbst gestaltetes Bühnenbild ist höherer Blödsinn, aber als solcher ist es auch ganz reizend.)
Mit anderen Worten: Es ist ein Vergnügen, zu beobachten, wie sich ein scharfzüngiges Stück an einer Regiehandschrift reibt, die mit den Qualitäten dieses Stücks eigentlich nichts anzufangen weiß, aber dennoch ihr Bestes gibt. Und wie im Kontext dieses Reibens Funken sprühen. So ziemlich alles an diesem mit rund 80 Minuten recht kurzen Abend funktioniert, alle Figuren sind fein ausgearbeitet, und selbst die Kleinigkeit, dass die Spinne, also eine nicht der beschriebenen Welt zugehörige Gestalt, als einzige Figur nicht mit einem Ensemblemitglied besetzt ist, sondern mit Gastschauspieler Brusis, ist eine in sich stimmige Entscheidung.
Immer wieder bricht sich Abdel-Maksouds Wortwitz Bahn, und Goetze versucht, ihn einzufangen, mit blutigen Ausstattungsdetails, mit düsterer Leere, im Zweifel mit einem Düsenjet, der zwischen den Szenen akustisch durch den Saal rauscht, es ist ein Kampf zwischen Text und Regie, es ist ein toller Kampf.
Extrem lustig
"Wir sitzen hier wie die Tiere auf der Stange", motzt Eva Maria Nikolaus als Maude einmal vor sich hin, "wie heißen die, die Enten mit dem spitzen Mund?" Das ist schon für sich genommen ein extrem lustiger Monolog, auch ein tragischer, weil man hier spürt, wie einer Figur die Realität entgleitet. Aber wie Goetze dann den Chor arrangiert, wie der einen Kontrapunkt setzt, lautstark "HÜHNER!" brüllt, nur um dann in die Postdramatik abzurauschen, das ist tatsächlich großer Theaterformalismus.
Jeeps
von Nora Abdel-Maksoud
Regie, Bühne und Kostüme: Heike M. Goetze, Musik: Thomas Seher, Licht: Annette ter Meulen, Dramaturgie: Ralf Fiedler, Ludwig Haugk.
Mit: Simon Brusis, Daniel Hoevels, Jan-Peter Kampwirth, Eva Maria Nikolaus, Angelika Richter. Und: Justus Arndt, Manuel Baumbach, Orchidee Brömme, Thomas Geiger, Lucy Gerhard, Angelika Gersdorf, Mia Hubert, Violante Romani.
Premiere am 18. November 2022
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.de
Kritikenrundschau
"Das ist tempo- und pointenreich anzuschauen und – bei allem Ernst des Themas – ein großer lohnender Theaterspaß", jubelt Annette Stiekele vom Hamburger Abendblatt (21.11.2022). N"ora Abdel-Maksoud beherrscht die Klaviatur des Dramatischen und lässt das Geschehen in totalen Wahnsinn delirieren." Und Heike M. Goetze zeige, dass sie auch Slapstick und Schmiere könne. "So lustvoll befreit, dabei zugleich am Nerv der krisengebeutelten Zeit, war lange keine Inszenierung."
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