Drei Schwestern - Thalia Theater Hamburg
Mütter der Klamotte
29. April 2023. Anne Lenk hat sich zuletzt einen Namen als Fachkraft für filigrane Komödien gemacht, mit Molière, Kleist und Lessing. Jetzt wendet sie sich den "Drei Schwestern" von Anton Tschechow zu, bei denen die Komik unter aller Melancholie oft gar nicht sichtbar wird. Und für den Start treibt sie dem Stück erst einmal alles Russische aus.
Von Michael Laages
29. April 2023. Welche herausragenden, fundamentalen Qualitäten lassen eigentlich einen Theatertext zum "Klassiker" werden? Klar – er sollte zugänglich und verständlich sein unabhängig von der Zeit, in der er entstanden ist; nach hundert oder aberhundert Jahren sollte er außerdem Gedanken, Gefühle und Haltungen vermitteln, die auch mit uns Heutigen zu tun haben, womöglich gar Orientierungen stiften für uns für die Gegenwart. Dafür muss er normalerweise nicht unbedingt "aktualisiert" werden.
Für die Auseinandersetzung um die "Drei Schwestern" von Anton Tschechow am Thalia Theater in Hamburg hat das Team um Regisseurin Anne Lenk einen grundsätzlich anderen Weg gewählt – und so eine weitere Basis-Qualität des Theater-Klassikers ins Visier genommen: er muss einiges aushalten können. Und im schlimmsten Falle beginnt das Stück, beginnt der Text sich sogar zu wehren gegen allzu viel Ambition. Auch das ist in Hamburg der Fall.
Rabiate Russland-Austreibung
Denn vor allem hat Lenks Team dem Stück noch das allerletzte Quäntchen Russland ausgetrieben. Weil Russland und Moskau gerade "unangemessen" wären? Rabiatere und vordergründigere Methoden sind bei dieser Russland-Austreibung kaum denkbar – Olga, Mascha und Irina, diese Töchter eines verstorbenen Militärs in russischer Provinz, die sich im Alltag völlig verloren fühlen und nur von der Sehnsucht nach der Heimatstadt Moskau am Leben erhalten werden, heißen im Thalia Theater nun Ortrud, Mechthild und Ingrid; und auch für den Rest des Personals wird mit den Initialen gespielt: Andrei, der Bruder der Schwestern, wird zu Alfred, seine Freundin und Frau Natascha zu Naomi, Maschas Ehemann Kulygin zu Kuhlmann, der alte Arzt Tschebutykin zu Tschaller, und der Militär Werschinin, den die Schwestern noch aus der Kindheit in Moskau kennen und als Bild aus der Erinnerung umschwärmen, heißt jetzt Wirsching. Toll.
Zur blanken Alberei verkommt die Methode, wenn eine Figur, von der nur ein paar Mal gesprochen wird (im Original: Protopopow), hier "Pöseldorf" heißt. Nur für den Major und Baron Tusenbach (so heißt Ingrids unglücklicher Verehrer) wurde kein neuer Name gesucht; schon das Original klingt ja deutsch.
Von der Oberfläche in Teufels Küche
Wo also leben hier all diese Menschen? In deutscher Provinz? Mit Pöseldorf in Pöseldorf? Kann das sein? Dort, in Deutschland, haben die Schwestern den immerzu "verliebten Major", diesen Herrn Wirsching von früher, ja kennen und verehren gelernt; das Land müsste also auch das Sehnsuchts-"Zuhause" der Frauen sein – aber wo leben sie dann eigentlich jetzt? Und von wo aus, wohin und in welchen Krieg ziehen die Militärs um die Herren Wirsching und Tschaller im letzten Akt? Gerade wer sich von der Oberfläche her zu schaffen macht an den Grundkonstellationen eines Klassikers im Theater, kommt immer mal wieder in Teufels Küche. Wie jetzt in Hamburg und bis in die letzten Details – der verzweifelte Liebhaber Tusenbach wird hier nicht mehr im "Duell" getötet (was war denn nochmal früher ein Duell?), sondern er hat sich selber erschossen.
Aber das ist nun besonders absurd – denn hatte nicht schon Tschechow selber gerade in diesem tragischen Detail die tödliche Zwanghaftigkeit militärisch motivierter Regeln und Rituale in die Blick genommen? Also genau das, was auch das Team Lenk beabsichtigt, wenn es die Militärs als wie aus der Zeit gefallene Schrate zeigt?
Aber, und jetzt kommt der Knüller, das Stück, der Klassiker, hält all das aus! Auch wenn von Beginn an ziemlich lange zu befürchten ist, dass diese drei Hamburger Schwestern zu Müttern der Klamotte mutieren müssten; so brachial setzt Lenk über weite Strecken auf Jux und Dollerei. Auch in Hannover, einem anderen regelmäßigen Arbeitsort der Regisseurin, war sie in jüngerer Zeit aufgefallen mit demonstrativ überkandidelt aufgebrezeltem Komödien-Blödsinn, überschrill und bis weit jenseits der Schmerzgrenzen des Humors. Anne Lenk mag puren Spaß – auch Tschechow charakterisierte die eigenen Stücke ja erstaunlicherweise oft als "Komödien", wie ausweglos und traurig auch immer die Geschichten sind; beispielhaft driften Tschechows Figuren immer am wirklich-wahrhaftigen Leben vorbei. Auch das machte Tschechow zum Klassiker.
Abziehbilder nach Automaten-Art
Diese Tschechow-Verspaßung ist aber eher ein Missverständnis.
Denn was nützt es, wenn Bruder Alfred jetzt "Elternteilzeit" im Büro nimmt, und wenn die Nebenfigur Kuhlmann zuweilen modernen Sprachmüll wie das unerklärliche Nicht-Wort "Lol" ins Gespräch streut? Gar nichts. "Krass" allerdings fehlt, "cool" auch; erstaunlicherweise auch "geil". Und der alte Arzt Tschaller liest auch nicht Zeitung, sondern Comics – weiß aber trotzdem von aktuellen Daten der Klima-Entwicklung zu berichten. Stehen die im Comic? Naomi, einst Natscha, Alfreds Gattin und Mutter der gemeinsamen Kinder, eine erstaunliche Figur im Original, kommt in dieser Fassung inhaltlich eigentlich gar nicht vor; generell sind die Verluste bei dieser Methode präpotenten Um- und Überschreibens enorm.
Auch die Sehnsuchtsfigur Wirsching bleibt fast komplett auf der Strecke; zumal Regisseurin Lenk dem Personal stark eingeschränkte Bewegungsmuster vorgegeben zu haben scheint. Manchmal agiert das Ensemble nach Automaten- und Maschinen-Art, auch sprachlich; in jedem Fall wie Abziehbilder. Eigentlich überstehen nur die Schwestern selber die angestrengten Bauarbeiten der Modernisierung verblüffend unbeschadet. Die auf Formen bedachte Ortrud/Olga von Oda Thormeyer, die ständig übererregte und mächtig herum brüllende Mechthild/Mascha von Cathérine Seyfert, die jugendlich unbedachte und besonders vielschichtige Ingrid/Irina von Rosa Thormeyer … selbst in rabiatem Konzept-Theater wie diesem behauptet sich dieses ewige Trio. Klassisch eben.
In einem übrigens abendfüllend schönen Raum – Judith Oswald zeigt das ganze Stück als Bild (oder als vier Bilder) einer Ausstellung –, weiß ist das schwarze Loch der Bühne gerahmt, und wenn dann das Licht angeknipst wird, stehen immer schon alle da, wie Statuen in einer optischen Nachempfindung der "Seerosen" von Claude Monet. Die Farben des Bildes setzen sich ansatzweise fort in den Kostümen von Sibylle Wallum. Die müssen sich übrigens im Endspurt noch deutlich geändert haben; die Probenfotos im Programmheft zeigen jedenfalls noch eine ziemlich andere Ästhetik.
Vielleicht wurde ja gekämpft bis zum Schluss – um diese "Drei Schwestern"; mit ihnen – und manchmal leider auch gegen sie.
Drei Schwestern
nach Anton Tschechow
Regie: Anne Lenk, Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Sibylle Wallum, Musik: Lars Ehrhardt, Licht: Jan Haas, Dramaturgie: Susanne Meister.
Mit: Filipp Avdeev, Bernd Grawert, Maike Knirsch, Solomia Kushnir, Hans Löw, Björn Meyer, Merlin Sandmeyer, Cathérine Seyfert, Oda Thorneyer, Rosa Thormeyer, Jirka Zett.
Premiere am 27. April 2023
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.thalia-theater.de
Kritikenrundschau
"Anne Lenk feiert mit Anton Tschechows 'Drei Schwestern' eine fulminante Rückkehr an das Thalia Theater", schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (29.4.2023). "Alle Figuren sind bis in die Groteske hinein überzeichnet. Und bis auf wenige Ausreißer gelingt dem Ensemble die schwierige Balance, seine Figuren nicht zu veralbern und zu verraten." Dynamik, Rhythmus und Zusammenspiel der Tragikomödie liefen wie eine gut geölte Maschinerie ab. "Der ganze Tschechow ist da - und wirkt dabei mit Anspielungen an Klimawandel und ungeheuerlichen Krieg, an Aktiendepots und gewaltfreie Kommunikation sehr heutig und zeitgemäß." Glaubhaft und stimmig thematisiere die "höchst vergnügliche" Inszenierung einen "Zwischenzustand nach dem Patriarchat".
"Was Anne Lenk und ihr Team sich hier als Tschechow Reloaded ausgedacht haben, funktioniert vorzüglich, weil in die treffsichere Karikatur der digitalen Lebensweise so viel echtes Gefühl eingespeist wurde", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (29.4.2023). "Ständig splittert die Oberfläche, und die verborgene Traurigkeit über ein verpasstes Leben nimmt Gestalt an. Diese Masse bremst das rasende Tempo der Nichtigkeiten und zeigt das große Warten, das Tschechow beschrieben hat, als weiter unerlöst."
"Regisseurin Anne Lenk setzt bei ihrer ziemlich grellen Inszenierung amThalia Theater voll auf Risiko. Denn dieser Abend sieht eher wie eine 80er-Jahre-Mottoparty aus", gibt Peter Helling im NDR (29.4.2023) zu Protokoll. "Was dieses Stück zu einem Theaterfest macht: Es schrammt haarscharf - Föhnwellen-haarscharf - an der Tragödie vorbei." Das Ensemble spiele "zum Verrücktwerden gut". "Bei diesem Tschechow lacht und weint man gleichzeitig."
"Keine Frage, es ist Theater zur Zeit. Aber eben kein Kommentar zum Stand der Konkurrenz imperialistischer Staaten oder Russlands innerer Verfasstheit", schreibt Andreas Schnell im nd (2.5.2023). Anne Lenks Tschechow-Abend sei "bei aller Überdrehtheit eine treffsichere Zeichnung auch hiesiger bürgerlicher Selbstbespiegelung. Es geht ganz klassisch um die Frage, wie 'wir' mit den Krisen der Gegenwart umgehen. Wobei dieses Wir tatsächlich eine beträchtliche Schnittmenge mit dem Publikum haben dürfte".
Es gebe fantastische komödiantische Einlagen, „das geht bis ins Groteske“, so Katrin Ullmann auf Deutschlandfunk Kultur (27.4.2023). Das großartige Ensemble spiele in hoher Drehzahl groß auf. Dadurch verliere der Abend jedoch auch mitunter den Fokus und die Konzentration und zerfalle in einzelne, wenngleich hochkomische, Nummern.
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(Anm. Redaktion: Gibt's eigentlich nicht. Aber die Ausnahme bestätigt die Regel. Mit besten Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
Die Drucklegung des Heftes liegt leider meistens vor den AMAs, bei denen erstmals die fertigen Kostüme zu sehen sind.
Herzlich
Susanne Meister
Man stelle sich vor, man würde auf die Vorstellung von William Shakespeare Romeo und Juliette gehen, und die beiden heißen jetzt plötzlich Ingrid und Wolfgang, sind 70 Jahre alt, mega hässlich gekleidet und benehmen sich wie in der psychiatrischen Anstalt. Tja.. moderne Kunst halt. Herzlich Willkommen in 2023.
Und wenn man alles Russische austreiben will, warum geht man überhaupt auf den russischen Klassiker? Gibt es keine deutsche Schriftsteller?
Gute Nacht und Gute Besserung!
Wenn für Michael Laages die „Pöseldorf“-Stellen bei Anne Lenk nun „blanke Alberei“ sind, würde er gut daran tun, die entsprechenden Passagen im Originaltext zu lesen. Denn gerade die Momente, in denen das Gespräch Protopopow streift, bedienen sich bereits bei Tschechow derbstem Humor und drohen mehrfach ins rein Zotige abzudriften. Auch hier ist Lenk also zutiefst werktreu.
Ihre Austreibung aller russischer Bezüge lässt sich ebenfalls mit Tschechow selbst mehr als rechtfertigen. Denn in Deutschland ist all diese Russland-Folklore von Birken, Samowar und co. so sehr mit Weltschmerz und Melancholie assoziiert, dass es dem ureigenen Kernanliegen des Stücks (nämlich eine reine, farcenhafte Komödie zu sein) zuwiderlaufen würde. Also mussten diese Elemente weichen.
Tschechow war immer schon ein russischer Feydeau, nur scheinen das deutsche Publikum und insbesondere die deutsche Theaterkritik mit ihrer Tendenz, alles auf Gedeih und Verderb mit ‚Ernsthaftigkeit‘ und ‚Bedeutung‘ aufladen zu wollen, dies standhaft zu verdrängen. Hoffen wir, dass weitere so großartige Inszenierungen wie die Anne Lenks den Menschen endlich den eigentlichen Tschechow bekannt machen. Denn dieser war schon immer ein bekennender Vater der Klamotte – ihn zu einem großen Melancholiker zu verdrehen ist das wahre Missverständnis!
Glücklicherweise hat mir mein Vorschreiber, Rodion R., die Arbeit vorweg- und abgenommen.
Vielen Dank dafür und ebenso interessant zu beobachten, wie ein mir fremder Mensch eine Einlassung verfasst, die nahezu identisch von mir stammen könnte.
Aus meiner Sicht, ein wundervoller Abend und eine überaus interessante sowie gelungene Interpretation von Tschechow.
Ein sehr stark aufspielenden Ensemble auf Augenhöhe. Wenn überhaupt, sticht aus meiner Sicht die Figur Ingrid heraus, was allerdings meiner rein persönlichen Betrachtungsweise des Schauspiels geschuldet ist.