Lob dem zivilen Ungehorsam

5. Februar 2023. Die Klimakatastrophe in Sophokles' Theben? Regisseur und Autor Alexander Eisenach gelang damit 2021 in "Anthropos, Tyrann (Ödipus)"
 ein großer Wurf. Jetzt hat Eisenach am Staatstheater Kassel ein Nachfolgestück herausgebracht, "Anthropos Antigone", das wieder das antike Drama mit wissenschaftlichen Erkenntnissen verquickt. 

Von Katrin Ullmann

"Anthropos Antigone" von Alexander Eisenach am Staatstheater Kassel © Katrin Ribbe

5. Februar 2023. Ach ja? Mehr fällt ihm nicht ein. Diesem alten, weißen Mann. Diesem starrsinnigen Herrscher im Pelzkragen, der an nichts anderes glaubt als an den Fortschritt. Der an seinen Ideologien festhält und an der Ausbeutung der Welt. Der an die Gottwerdung des Menschen – zukünftig ganz ohne faulende Biomasse – glaubt und daran, dass damit Klima, Naturkatastrophen, Kriege für diesen sowieso bedeutungslos werden. Kreon ist dieser alte weiße Mann. Und als Haimon ihm die Lage erklärt, die für Mensch und Planeten aussichtslose, als er Kreon dessen Fehler aufzeigt – da gähnt aus diesem nur ein "Ach ja?" hervor.

Im Live-Video von Oliver Rossol, auf eine portalfüllende Leinwand projiziert, spielen Hagen Oechel als Kreon und Lisa Natalie Arnold diese Szene. Es ist die eindringlichste des Abends. Gerade und unverwandt ist Arnolds Blick, keine Wimper lässt sie zucken. Klar ist ihre Rede, mahnend, ohne moralisch zu sein, sind ihre Argumente: "Das ist kein Staat, der nur dem Vorteil des Mannes dient, der sich in die letzten bewohnbaren Zonen des Planeten zurückziehen kann und sich dort verbarrikadiert./ Das ist kein Recht, dass nur den Menschen dient, die alle anderen auspressen." Damit ist eigentlich alles gesagt.

Antike trifft auf Klimaschutz

Allein: Bis dahin vergehen gut eineinhalb Stunden, in denen sich der Regisseur und Autor Alexander Eisenach mit viel Gebastel und Collagen, mit komischer Überzeichnung und etlichen Sophokles-Passagen durch das Drama der Antigone hangelt. "Anthropos Antigone" nennt er es. Es ist ein follow up seines "Anthropos, Tyrann (Ödipus)", das er vor ziemlich genau zwei Jahren an der Berliner Volksbühne digital herausbrachte. Ein Arbeitsverfahren, in dem Eisenach den antiken Tragödienstoff mit dem Anthropozän, dem menschgemachten Erdzeitalter, verschneidet.

anthropos antigone 370Das Ende vom Herrschen über die Welt: Hagen Oechel als Kreon und Lisa Natalie Arnold als Haimon in "Anthropos Antigone" © Katrin Ribbe

Eisenachs Antigone, am Kassler Staatstheater auf die Bühne gebracht, ist also eine moderne Aktivistin, die sich dem alten, weißen Mann widersetzt und für den Planeten kämpft. Genauso wie Haimon, wie Ismene und ihre gemeinsam gegründete "Liga des terrestrischen Widerstands". Doch warum wirkt diese Aktivist:innengruppe eigentlich so veralbert? Sie konkurrieren im hektischen Schnellsprechmodus, vernuscheln Inhalte, trinken bunte Super-Smoothies aus To-Go-Plastikbechern mit Strohhalmen und tragen, weiße futuristische Endzeitkostüme und Südwester, vermutlich als Schutz vor dem nächsten Fallout (Kostüme: Lena Schmid).

Verweis auf Klima-Aktivismus

Auf der Unterbühne – erneut per Video auf die Leinwand projiziert – planen sie eine Sabotage gegen den neoliberalen Herrscher Thebens. Das tun sie, nachdem Antigone dramenverlaufsgemäß ihren Bruder Polyneikes bestattet hat, wie angestachelt von dem Widerstand der Titelfigur. Hektisch, aufrührerisch und verkaspert. Oder ist dieses Aktivist:innen-Quartett (Sarah Franke, Emilia Reichenbach, Sandro Šutalo und Lisa Natalie Arnold) vielmehr eine Persiflage auf phrasenaffine Gutbürger und aufgeklärte Richtigmeiner? Tatsächlich, also textlich, aber stoppen sie die riesigen Maschinen und damit den gierigen Rohstoffabbau Kreons. Merkwürdig, dass (zumindest mir kam es so vor) ausgerechnet diese zentrale Szene, die vermutlich den Bogen in die gegenwärtige Aktivist:innenszene schlagen soll, in Lächerliche überzeichnet ist.

Eisenachs Anliegen, das Grundthema der "Antigone", den Mut zum zivilen Ungehorsam, mit der Gegenwart zu verschränken, scheint sinnvoll und wichtig. Der aufwändig recherchierte Abend – eine beachtliche Kooperation von fünf Institutionen, unter anderem das Theater des Anthropozäns, Scientists for Future Kassel, Kunsthochschule Kassel – ist das Ergebnis einer ambitionierten Verquickung von Theatertext und Wissenschaft. Doch er ist (vielleicht gerade deshalb) nicht mehr als aufklärerisches, recht schmalspuriges Patchwork. Trotz etwa eines erhellenden Video-Vortrags von Prof. Dr. Rüdiger Faust, Professor für Chemie an der Universität Kassel, über die Forschungslage zur Mineralisierung von CO2. Trotz eines brüllkomischen Clemens Dönicke als Eteokles und Wächter im Kaktus-Kostüm.

Zwischen Verpackungsmüll

Dazwischen und davor stehen nebeneinander: die scheinbar wahllose Verwendung von antiken Masken, schablonenhaft gezeichnete Figuren, jede Menge Videoeinspielungen, fehl platziert wirkender Klamauk und am Schluss die minutenlange, ehrfurchtsvolle und unfreiwillig komische Anbetung eines Mycels – inklusive konfessionsfreies Zuschauer:innenhände-zur-Gemeinschaft-reichen – sowie ein kollektives Ensemble-Bad im Verpackungsmeer von "gut-und-günstig"-Produkten. Sind also billige Chicken Nuggets an der Klimakatastrophe Schuld? Und damit all diejenigen, die sich kaum andere Nahrungsmittel leisten können? Oh no.

Anthropos Antigone
nach Sophokles von Alexander Eisenach
Auszüge aus Sophokles' "Antigone", übersetzt von Kurt Steinmann
Uraufführung
Regie: Alexander Eisenach, Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Lena Schmid, Musik: Sven Michelson, Videodesign und Live-Kamera: Oliver Rossol, Dramaturgie: Katja Prussas, Licht: Oskar Bosma.
Mit: Lisa Natalie Arnold, Clemens Dönicke, Sarah Franke, Hagen Oechel, Emilia Reichenbach, Sanro Sutalo.
Premiere am 4. Februar 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de


Mehr zum Klima und Theater. Auf nachtkritik.plus fand im Dezember 2022 in der Reihe "Play Time - Stream & Diskurs junges Theater" eine Diskussion über Klimawandel im jungen Theater statt mit Irma Trommer, Aktivistin der "Letzten Generation", dem Dramatiker Christian Tschirner und Jörn Kalbitz, Leitender Dramaturg am Theater der Jungen Welt in Leipzig. Der Mitschnitt ist on-demand nachschaubar.

Kritikenrundschau

"Relevant und überzeugend ist der zweistündige Abend immer dann, wenn er auf Ambivalenz setzt und sich nicht auf eine Seite schlägt", schreibt Bettina Fraschke in der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (6.2.2023). "Dass der letzte Teil überdeutlich belehrend vom vermüllten Ozean und der verheerenden wirtschaftlichen Ausbeutung noch der tiefsten Tiefsee erzählt und die Darsteller in einem Meer aus Plastikverpackungen schwimmen lässt, ist unnötig und ärgerlich."

Kommentare  
Anthropos Antigone, Kassel: Lachen
Ich fand den Humor des Abends befreiend und ein absolut adäquates Mittel, um ein derart drängendes und bedrückendes Thema erträglich zu machen. Ich verstehe auch nicht, warum jeder Gag eine Message angeblich sofort ins Lächerliche ziehen soll, das ist mir in der Argumentation zu einseitig und dogmatisch. Wenn mir die politische Botschaft eines Abends bierernst, mit Heiligem Pathos und/oder mit kilometerweit erhobenem Zeigefinger präsentiert wird, gibt das einen besseren Theaterabend? Ernsthaft? Ich glaube nicht.
Anthropos Antigone, Kassel: Widerspruch des Regisseurs
Liebe Frau Ullmann,
ich habe kein Problem mit einer schlechten Kritik und kann auch damit leben, dass Sie den Humor unserer Arbeit nicht teilen. Wovon ich mich aber ausdrücklich distanzieren möchte, ist Ihre Unterstellung, hier würden im Kern klassistische Aussagen getroffen. Dies herzuleiten aus einer Szene, in der es ausdrücklich um den Müll als Produkt einer von Profitgier getriebenen Warenmaschinerie geht, scheint mir bestenfalls abenteuerlich. Anzunehmen, wir würden uns über Menschen erheben, die sich "Gut und Günstig"-Produkte kaufen, weil Sie eine derartige Verpackung in einem Müllmeer identifiziert haben ist ebenso grotesk, wie die Annahme, irgendjemand müsse billig Chicken Nuggets kaufen, weil er sich "kaum andere Nahrungsmittel leisten" kann. Sie reproduzieren hier die Argumente, die immer wieder von Konservativen vorgebracht werden, um ökologische Argumente als elitär und abgehoben zu diskreditieren.

Herzliche Grüße
Alexander Eisenach
Anthropos Antigone, Kassel: Humorfrage
Ich kann mich beiden vorangegangenen Kommentaren nur anschließen. Der Inszenierung Klassismus vorzuwerfen finde ich mehr als an den Haaren herbei gezogen.
V.a. Beschäftigt mich aber in der Rezension von Theater immer wieder, warum erwünscht wird, dass schwere Themen auch ebenso schwer verhandelt werden müssen. Humor ist scheinbar nur gern gesehen, wenn er periphär mit eher unwichtigen Inhalten aufblitzt oder in einer klar ausgeschriebenen Komödie vorkommt. Das in besagter Szene zwei der Spieler*innen klar ihre Argumentationen verfolgen (ja mit Tempo) und zwei nicht ganz mitkommen, dann auch die Gruppe verlassen.Das konnte ich in der Premiere sehen, hören und auch nachvollziehen. Dies sei nur konkret zu dieser Kritik noch erwähnt.
Wie viele andere, wie am Applaus zu merken war, habe ich einen sehr unterhaltsamen und gleichzeitig beängstigenden Abend erlebt, bei dem mir durchaus das Lachen im Halse stecken blieb. Das erlebe ich nicht ständig im Theater.
Anthropos Antigone, Kassel: gut&günstig vs. High-End
Lieber Alexander Eisenach,

vielen Dank für Ihren Kommentar zu meiner Kritik.

Nur ein Einwand: Wenn Sie in der Schlussszene Ihrer Inszenierung überlebensgroß ein Plastikmüllmeer zeigen, in dem gut&günstig-Folien schwimmen genauso wie leere Chipstüten und Chicken-Nuggets-Verpackungen, begeben Sie sich - in meinen Augen - auf klassistisches Glatteis. Ich musste gar nicht lange suchen, um diese Produkte zu identifizieren. Verpackungen von High-End-Produkten hätten etwas anderes erzählt, oder?

Auf der Theaterbühne ist nun mal alles ein Zeichen und als Zuschauer*in oder Kritiker*in lese ich diese - sicherlich hin und wieder anders als es seitens der Regie gemeint war.

Herzliche Grüße zurück,

Katrin Ullmann
Anthropos Antigone: Hybris
LEL. Ein von Steuergeldern subventionierter Regisseur und eine Kritikerin, die davon lebt, Inszenierungen zu rezensieren, die schon seit Jahren am Publikum vorbeitreiben, streiten sich darüber wer klassistischer ist.

Chipstüten? Logisch... Unterschicht...

Diese ganze Bubble ist doch nur abgehoben und lächerlich. Aber klar, der Klimawandel ist euch wichtig.

Oh! Jetzt habe ich ja auch selbst alle Buzzwords getriggert. Bin ich jetzt auch relevant?
Anthropos Antigone: Fragen
Ein paar Fragen an Abo-Streamer:

Wo genau bezichtigt Alexander Eisenach die Kritikerin des Klassismus?

Bezüglich „von Steuergeldern subventioniert“: entspräche es Ihrem Wunsch, dass Kunst ab jetzt nicht mehr subventioniert wird? Und das dient dann welchem Zweck? Oder ist jeder Mensch, der das Glück hat, von solchen Geldern zu leben, automatisch ein Heuchler/Lügner/Versager/Volldepp?
Und schließlich: haben Sie den Abend gesehen und haben eine Ahnung von dem, was sie hier mit großer Geste runterputzen?
Aber egal: Hauptsache abkotzen!
Anthropos Antigone, Kassel: Wahre Konservative
An die Genossen Eisenach und Ullmann: Bitte um die Klarstellung, was nun schwerer wiegt: Der Vorwurf konservativ zu sein oder der Klassismus-Vorwurf? Desweiteren der Hinweis: Wahre konservative wissen, das Chicken McNuggets weit teurer sind als die selbstgemachte Suppe mit frischem Discount-Gemüse. Sie wissen auch, bzw. gehen davon aus, dass Menschen unabhängig von ihrem Einkommen, oder ihrer Klassenzugehörigkeit in der Lage dazu sind ihre Angelegenheiten eigenverantwortlich zu regeln. Soll heißen: Sie sollten die Freiheit haben besagte Nuggets zu essen, es gibt aber keinen guten Gründe für die Annahmen sie seien dazu gezwungen.
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