Will Baby sich tot stellen für Daddy? 

30. September 2024. Mit einem dichten Premierenwochenende sind die beiden neuen Intendantinnen Beate Heine und Dorothea Hartmann in ihre erste Wiesbadener Saison gestartet. Den krönenden Eröffnungsschlusspunkt setzte Ersan Mondtag mit einem Missbrauchsstück von Sam Max: Eine düstere Setzung, die ins Spielzeitmotto passt. 

Von Grete Götze

Sam Max' "Double Serpent" in der Regie von Ersan Mondtag in Wiesbaden © Thomas Aurin

30. September 2024. Jetzt sind sie da, die beiden neuen Intendantinnen Beate Heine und Dorothea Hartmann am Staatstheater Wiesbaden – und haben an einem vollgepackten Wochenende mit sieben Premieren gezeigt, was sie alles zu bieten haben. Den Anfang machte die Produktion "Habitat" der österreichischen Choreografin Doris Uhlich, bei der 40 Wiesbadener aufgerufen waren, dabei zu sein und sich unter Uhlichs Anleitung nackt durch das Theater und den Kurpark zu bewegen. Ein Projekt zum Mitmachen und Freudehaben an der getanzten Selbstermächtigung.

In einer ganz anderen, extrem düsteren Farbe präsentierte sich der theatrale Abschluss des Wochenendes: "Double Serpent", ein amerikanisches Theaterstück von Sam Max über Missbrauch, Traumata und sexuelles Begehren, uraufgeführt in der Regie von Ersan Mondtag.

Zeuge des Missbrauchs

Der Zuschauer lernt die Hauptfigur kennen: Connor, der im Gespräch mit seinem Freund erzählt, dass er Innenarchitekt wird. Es scheint ein reiches Milieu zu sein, in dem er sich bewegt, doch die Erwähnung eines Rechtsstreits deutet bereits Schwierigkeiten an. Timur Frey, neu im Ensemble, spielt Connor wie einen Harlekin, eine Kunstfigur. Im roten Leder-Anzug mit kurzen Hosenbeinen schreitet er langsam die Treppe hinunter, vermisst jeden Schritt einzeln und legt sich längs auf den Boden.

Auch die anderen Darsteller spielen extrem stilisiert, bewegen sich in Zeitlupe, zu jedem Schritt erklingt ein dumpfer Widerhall. "Will Baby sich tot stellen für Daddy und seine Kumpels? Damit sie ihn auf dem Teppich benutzen können?" – "Ja." Schon ist der Zuschauer Zeuge des Missbrauchs. Schon denkt er an den Vergewaltigungsprozess, der gerade vor aller Augen in Avignon geführt wird, bei dem ein Ehemann seine Frau systematisch betäubt und dann fremden Männern zum Sex angeboten hat.

Double Serpent 04 Thomas Aurin uFlucht nach vorn? Das Wiesbadener Ensemble auf Alexander Naumanns Bühne © Thomas Aurin

Rücksprung: Wir schreiben das Jahr 1999, es ist irgendwo in den USA, die Rede ist von einem "safe house" am Highway. Der Adoptivvater des jungen Connor holt Menschen mit seinem Auto an unterschiedlichen Orten ab und entnimmt ihnen im safe house Organe, die er anderen transplantiert. Connor muss währenddessen allein bleiben, er lebt im Keller, damit er niemandem davon erzählen kann. Zum Zeitvertreib darf er das titelgebende Computerspiel "Double Serpent" spielen, das Assoziationen zu "Snake" weckt, jenem Computerspiel, das Ende der neunziger Jahre viele auf ihrem ersten Nokia-Handy zockten. Das Prinzip: Der Spieler muss eine Schlange dazu bringen, Punkte zu essen, wobei das Tier immer länger, größer und schneller wird. Gleichzeitig muss er aber verhindern, dass die Schlange sich selbst aufisst.

Connor verhindert seine drohende Selbstzerfleischung, indem er die Flucht nach vorn antritt: Er wiederholt die Traumata seiner Kindheit mit seinen Sexpartnern, empfindet Lust am Gequältwerden, sucht sich erneut eine väterliche Figur, den Filmproduzenten Felix, dem vorgeworfen wird, andere zu missbrauchen. Die Zeitebenen verschwimmen miteinander, Muster wiederholen sich, was wahr und was phantasiert ist, bleibt im Ungefähren.

Jugendstil-Ambiente mit Albtraumbildern

Bühnenbildner Alexander Naumann hat für die öffentliche Traumabearbeitung eine Art römisches Bad ersonnen, mit einer Treppe, die in ein Becken hinunterführt, umgeben von Fenstern und Türen mit Jugendstil-Elementen. Die vierte Wand ist eine Leinwand, die an ein Kirchenfenster erinnert. Auf sie werden unterschiedliche, teils computeranimierte Videos von Luis August Krawen projiziert.

Verstörend ist etwa jenes, in dem Connor seinen imaginierten, im Bild winzigen Freund aufisst, der erst auf seiner Zunge liegt, bevor er im riesigen Mund umherschwimmt und sich dann in den Gedärmen durch seinen Körper fortbewegt. Ersan Mondtag, der große Bilder-Erfinder, überlässt keines dem Zufall. Mal fließt synchron rote Flüssigkeit rechts und links des Treppen-Geländers hinunter, mal legen sich vier nackte Statisten auf den Boden, um mit Farbe die Körperstellen markiert zu bekommen, die mit dem Skalpell aufgeschnitten werden sollen.

Double Serpent 03 Thomas Aurin uVerstörende Videobilder hinterm Kirchenfenster © Thomas Aurin

In einer Kernszene, die wie eine satanische Austreibung wirkt, tragen die Figuren spitze Hauben, die an den Ku-Klux-Klan denken lassen. Connor führt dazu einen wilden Tanz auf. Ins Mikro spricht einer zu ihm: "Du kommst, kommst zur Wunde, bist jetzt in der Wunde." Das Trauma wird durchlebt. Als es dann vorbei ist, kann Connor mit seinem Sexpartner auch entspannt McDonalds-Burger essen. Es gibt einige dieser Momente, in denen Mondtag und die Schauspieler der Handlung plötzlich etwas Lässig-Komisches verleihen.

Ihm gelingt es, in "Double Serpent" die Zeitebenen so ineinander verschwimmen zu lassen, wie es bei einer Retraumatisierung tatsächlich passiert. Einmal durchs Trauma getriggert, kann das Gehirn nicht unterscheiden, ob es jetzt passiert oder schon vorbei ist. Für eine genaue Charakterzeichnung interessiert sich das Stück aber nicht. Die Figuren sind eher parabelhaft, teilweise auch holzschnittartig.

Düstere Setzung

Für Mondtag bietet diese Schwäche des Textes wiederum die Freiheit, ablenkungsfrei starke, stilisierte Bilder und Stimmungen für Traumata und das Spannungsfeld von Lust und Schmerz zu schaffen, statt im Kleinen die Entwicklung von Figuren nachvollziehen zu müssen.

Was hat der sexuelle Missbrauch, das Trauma schon mit mir zu tun, wird sich manch ein Zuschauer fragen, aber diese düstere Setzung ist auch ein starker Kommentar zum Spielzeit-Motto "Was ist unser Erbe?". Und zu einer Gesellschaft, in der sich sofort Gewalt zeigt, sobald man einen Blick zur Seite wagt.

Double Serpent
von Sam Max
Aus dem Amerikanischen von Wilke Weermann
Regie: Ersan Mondtag, Bühne: Alexander Naumann, Kostüme: Teresa Vergho, Musik: Benedikt Brachtel, Video: Luis August Krawen, Licht: Rainer Casper, Dramaturgie: Till Briegleb.
Mit: Lasse Boje Haye Weber, Timur Frey, Jonas Grundner-Culemann, Felix Strüven sowie Statist:innen des Staatstheaters Wiesbaden.
Premiere am 29. September 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater-wiesbaden.de

Kritikenrundschau

Wie viele von Mondtags Arbeiten changiere auch "Double Serpent" zwischen Theater und bildender Kunst, schreibt Eva-Maria Magel in der Rhein/Main-Ausgabe der FAZ (30.9.2024). Es herrsche "eine ausgeklügelte Künstlichkeit", so Magel weiter. "Sie kann einem gehörig auf die Nerven gehen in mehr als zwei pausenlosen Stunden. In den besten Momenten aber gelingt es gerade dem Künstlichen, so etwas wie einen Kern zu zeigen. Womöglich die Suche nach Liebe und Menschlichkeit."

Von "starkem Tobak" und einem "hypnotischen Alptraum" spricht Brigitta Lamparth im Wiesbadener Kurier (1.10.2024). Ersan Mondtag finde "an David Lynch erinnernde angstvolle Tableaus und statische Choreografien - analog zur ebenso verstörenden Handlung. Im Zentrum stehen gewaltvolle, homoerotische Beziehungen. Das ist einigen Premierenbesuchern zu viel, sie wandern ab". Die Gebliebenen könnten "eine irritierende, intensive Theatererfahrung" machen und ein Stück erleben, "das man vielleicht nur in dieser, in Mondtags Lesart auf die Bühne bringen kann."

"Mit pointierten, herausragenden, aufregenden ästhetischen Setzungen gehen die beiden Intendantinnen, Dorothea Hartmann und Beate Heine, in ihre erste Saison", ist Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (1.10.2024) begeistert vom Wiesbadener Neustart. Ersan Mondtags Beitrag sei "ein Meisterstück an Präzision und nuancierter Bildsprache, ein Albtraum, den man nicht betrachten kann, ohne in ihn hineingezogen zu werden". Dem Regisseur gelinge es, Gewalt nicht zeigen zu müssen, um sie spürbar werden zu lassen. Horrorstimmung erzeugten das "in seiner Erzählwucht grandiose Licht" von Rainer Casper, das Sounddesign von Benedikt Brachtel und die vier Schauspieler, "die Mondtag zu einer irren Präzision zwischen Künstlichkeit und Unbehagen anleitet".

Kommentare  
Double Serpent, Wiesbaden: Passend und beklemmend
Frau Götze hat in den Kapuzen den Ku Klux Klan erkannt, ich möchte ergänzen, dass sie mich mit ihrer spitzen Form auch an das berüchtigte Foto einer realen Folterszene in Abu Ghraib erinnert haben. Zum Thema "Lust an der Gewalt" sehr passend, und beklemmend.
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