Der Mann ohne Vergangenheit - Christian Brey bringt Aki Kaurismäkis Film in Bochum mit viel Musik auf die Bühne
Auf Grund gelaufen
von Sascha Westphal
Bochum, 21. Oktober 2017. Adaptionen von Filmen des finnischen Regisseurs Aki Kaurismäki haben am Schauspielhaus Bochum eine gewisse Tradition. Vor gut neun Jahren hat Jorinde Dröse "I Hired a Contract Killer", Kaurismäkis Hommage an die französische Nouvelle Vague, in slapstickhaftes Theater Noir verwandelt. Dieser Abend ganz in schwarz und weiß zählt immer noch zu den wenigen Filmadaptionen, die sich konsequent vor dem Kino verbeugen und doch in ihren Theatermitteln ganz bei sich sind. Vier Jahre später hat David Bösch dann Das Mädchen aus der Streichholzfabrik geschickt auf seine Essenz reduziert und Anselm Webers Bochumer Zeit einen ihrer größten Triumphe beschert. Maja Beckmanns Iris war ein herzzerreißendes Stehauf-Mädchen, das aus Notwehr zur Mörderin wurde. Mit seinen liebevollen Verschiebungen ins Melodramatische hat Bösch nebenbei noch einen Bogen von Kaurismäkis frühen zu seinen deutlich wärmeren späteren Filmen geschlagen.
Klamauk um des Klamauks willen
Eines dieser leicht sentimentalen, fast märchenhaften Spätwerke hat nun Christian Brey auf die große Bühne des Schauspielhauses gebracht. Allerdings schlägt er mit seinem "Mann ohne Vergangenheit" einen ganz anderen Weg ein als Dröse und Bösch. Brey sucht nicht die Nähe zu dem finnischen Filmemacher, sondern setzt auf größtmöglichen Abstand. Das beginnt schon bei Anette Hachmanns imposantem Bühnenbild. Kaurismäkis Märchen von der Solidarität der Armen und Abgehängten spielt im Sommer, in einer Jahreszeit, in der die Obdachlosen Finnlands nicht nur um das schiere Überleben kämpfen müssen. Aber in Bochum herrscht ewiger Schnee. Die Vorderbühne ist eine Plüscheislandschaft, in der ein großes, auf Grund gelaufenes Schiff feststeckt. Auf vier Etagen dient es nun als Heimstatt für Kaurismäkis Figuren, etwa die einsame Heilsarmistin Irma oder den pleitegegangenen Unternehmer, und für die dreiköpfige Band.
Comedy-Schiff im ewigen Eis: Die Bühne von Anette Hachmann © Diana Küster
Das Schiff ersetzt allerdings nicht nur die Container-Siedlung am Fluss, in der M, der Mann, der im Film nach einem brutalen Angriff dreier Schläger seine Vergangenheit und (fast) auch sein Leben verloren hat, eine neue Heimat findet. Es verschiebt auch die Gewichtung. Während Kaurismäki noch Realistisches und Märchenhaftes vermischt und dem globalen Kapitalismus ein lokales Solidarparadies entgegensetzt, herrscht bei Christian Brey Comedy-l’art pour l’art, Klamauk um des Klamauks willen. M, der von Michael Kamp mit einem kaurismäkischen Stoizismus verkörpert wird und damit noch ein wenig vom Geist des Films verströmt, zwängt sich zu Beginn mit seinem Koffer durch die sechste Reihe zu einem Platz in der Mitte. Kaum hat er sich gesetzt, kommt von der anderen Seite ein Hooligan mit Sturmhaube und Baseballschläger, der ihn von dem Platz wieder vertreibt.
Komödiantisch-absurdes Lamento über die Sinnlosigkeit unserer Existenz
Dieses Spielchen wiederholt sich dann noch ein paar Mal, bis M endlich hinter dem noch geschlossenen Vorhang verschwindet und dort von mehreren Schlägern malträtiert wird. Der Angriff, den Kaurismäki in seiner ganzen sinnlosen Brutalität inszeniert, wird zum zerdehnten Gag. Zugleich etabliert Brey in dieser Anfangsszene auch seine zentralen Stilmittel, Verlangsamung und Wiederholung. Bis zur Pause, zu der sich der Vorhang erst nach knapp zwei Stunden schließt (Kaurismäkis Film ist übrigens gut 90 Minuten lang), nutzt Brey die Filmhandlung als Vorwand für endlose Sketchnummern. Das Leben ist eine Schleife ewiger Wiederholungen, also wiederholt sich auch auf der Bühne alles. Wenn Juliane Fischs Irma die Münzen, die sie aus ihrem Portemonnaie geholt hat, aus der Hand fallen, kullern sie nicht nur einmal zu Boden. Sie fallen wieder und wieder, bis man irgendwann nicht mehr mitzählt.
Das Prinzip hat man längst verstanden, aber es geht trotzdem immer weiter. So bekommen das Ensemble und die Band reichlich Gelegenheit, Szenen mit elegischen Songs zu unterlegen. "Nothing ever happens" singen sie einmal schön melancholisch und verrichten dazu immer die gleichen Tätigkeiten. Das schafft eine eigene Atmosphäre, die aber irgendwann nur noch Ermüdung zurücklässt. Vor der Pause zerstört Bernd Rademacher dann genüsslich Charles Trenets "La mer" und treibt damit alle seine Mitspielerinnen und Mitspieler nach und nach von der Bühne. Nur das Publikum muss ausharren, bis auch er aufgibt.
Natürlich steckt in dieser wie auch in vielen anderen Szenen des ersten Teils ein komödiantisch-absurdes Lamento über die Sinnlosigkeit unserer Existenz. Aber dafür hätte es nicht Kaurismäkis wunderbar verschrobenes Protestmärchen gebraucht. Das scheint Brey und seinem Team irgendwann auch aufgefallen zu sein. Nach der Pause hetzt die Aufführung durch die restlichen Filmszenen. Die konsequente Verlangsamung und der ostentative Stillstand des ersten Teils sind vergessen, als hätte es sie nie gegeben. Näher kommt der Abend seiner Vorlage trotzdem nicht, wenn aus dem Banküberfall eines verzweifelten, aber moralisch absolut integeren Unternehmers eine Art Monty-Python-Sketch wird. In einem im Programmheft veröffentlichten Interview verkündet Christian Brey: "Das Sozialkritische auf der Bühne, das überlasse ich anderen." Vielleicht hätte er auch Kaurismäkis Film anderen überlassen sollen.
Der Mann ohne Vergangenheit
nach dem Film von Aki Kaurismäki
Regie: Christian Brey, Bühne und Kostüme: Anette Hachmann, Musikalische Leitung: Tobias Cosler, Licht: Bernd Felder, Dramaturgie: Annelie Mattheis.
Mit: Michael Kamp, Juliane Fisch, Benjamin Grüter, Kira Primke, Ronny Miersch, Bernd Rademacher, Kristina Peters, Statisterie, dem Hund Trouble und den Musikern: Tobias Cosler, Volker Kamp, Ralf Neuhaus.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.schauspielhausbochum.de
Die poetische Melacholie Aki Kaurismäkis wird dem Stoff aus Sicht von Britta Helmbold, Kritikerin bei den Ruhrnachrichten (23.10.2017) ausgetrieben. Denn aus Sicht der Kritiker inst Sozialkritik nicht die Sache von Regisseur Christian Brey. "Er inszeniert burleske Unterhaltung – und erntet vom Premieren-Publikum viel Applaus."
"Ob auf der Bühne Suppe gelöffelt, Tee getrunken, der Hund gestreichelt oder Wolle gewickelt wird – oder in den Momenten, in denen alles still zu stehen scheint," schreibt ein namenloser "Theaterscout" in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (23.10.2017) "Eine Ruhe macht sich breit wie an langen Winterabenden weit im Norden. Die musikalische Untermalung durch ein Trio gerät zum zentralen Punkt des Geschehens. Ein wunderbarer Gesang, der Witz und Humor berührt. Ein Stück zum Eintauchen und Abtauchen."
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Und Regisseure das Theater lassen, wenn es keine Stoffe und Texte für ihre ureigendsten Intentionen bereithält?
Ganz im Gegenteil, das spricht FÜR die Inszenierung. Hier funktioniert es nämlich und trägt zum Gesamtgelingen dieser wunderbaren Aufführung bei.
Das Stück ist tatsächlich weit vom Film und scheint nur der Aufhänger zu sein. Spannende Fragen, die sich ergeben könnten, werden nicht thematisiert. Das Klamaukige wirkt komisch und macht Spaß. Allerdings fängt bei einem solchen Stück dann die Zeitdehnung irgendwann an, schwer zu nerven. Nach der Pause ist es ein anderes Stück und insgesamt passt der zweite Teil kaum zum ersten. Eine deutlichere Entscheidung zur näheren Adaption oder zur finnischen (und gerafften) Komödie hätte der Inszenierung gut getan.
Ensemble ist toll und auch die Musik macht viel Freude.