Im Klartext-Modus

3. Juni 2024. Vor zehn Jahren schrieb Elfriede Jelinek ein Stück über Fluchterfahrungen: "Die Schutzbefohlenen", uraufgeführt von Nicolas Stemann, wurde zum Theatertreffen eingeladen und heftig diskutiert. Jetzt hat die Literaturnobelpreisträgerin ein Update verfasst, das Johan Simons als vielsprachige Intervention in die Stadtgesellschaft inszeniert.  

Von Gerhard Preußer

Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen – Was danach geschah (2024)" vor dem Schauspielhaus Bochum © Daniel Sadrowski

3. Juni 2024. Żyjemy!, Ми живемо, ¡Vivimos!, Ζούμε!, نحن نعيش , ما زندگی می کنی , Wir leben!, Žijeme! Sie leben, sie leben hier in Deutschland, die Menschen mit so unterschiedlichen Sprachen. Die Aufschriften auf den T-Shirts der Darsteller:innen von Elfriede Jelineks neuer Version der "Schutzbefohlenen" vor dem Bochumer Schauspiel sind Ausrufe der Selbstbehauptung, eigentlich völlig triviale Botschaft der Existenz einer sprachlich inhomogenen Gruppe. Aber diese schlichte Botschaft ist heute noch weniger trivial als 2014, als Elfriede Jelinek ihren Text "Die Schutzbefohlenen" schrieb. Sie hat ihn inzwischen schon mehrfach ergänzt, nun aber folgt eine noch dringlichere Variante des Themas. "Die Schutzbefohlenen – Was danach geschah (2024)" mit der Jahreszahl im Titel.

Einmischung in die Stadtgesellschaft

Johan Simons, der zum Applaus sich mit dem T-Shirt "Wij leven" auch als Fremder in die Reihe der Darsteller:innen einreiht, hat als Regisseur Jelinks neuen, vierzigseitigen Textblock zu einer künstlerischen Einmischung in die Bochumer Stadtgesellschaft zugespitzt. Auf den Stufen des Schauspielhauses lesen und sprechen 15 Menschen unterschiedlicher Nationalität Jelineks gar nicht flehenden, sondern fordernden Text: Geflüchtete aus Syrien, Iran, Ukraine, Migranten der zweiten Generation, drei deutsche Mitglieder des Bochumer Ensembles und Danai Chatzipetrou, Ensemblemitglied griechischer Herkunft.

Dass man Jelineks "Die Schutzbefohlenen" nicht ohne irgendeine Form von Mitwirkung von Migrant:innen aufführen kann, ist seit der Uraufführung 2014 in Mannheim klar, ob auf der Bühne oder nur in der Diskussion. Irgendwie muss das sprechende "Wir" und das Angeklagte "Sie" nicht nur hörbar, sondern sichtbar werden. Simons hat sich für eine sehr reduzierte Lösung entschieden. Die Aufführung ist zu großen Teilen eine szenische Lesung, in der deutsche und ausländische Sprecher zusammenwirken.

Zurückgespiegelte Fremdheitserfahrung

Der wichtigste Effekt ist die Mischung der Sprachen. "Wir sprechen ihre Sprache leider nicht, wo ist der Dolmetsch, der versprochen wurde, ja, für heute?", heißt es bei Jelinek. In Bochum gehen die Sprachen durcheinander: Sprechchöre in Arabisch, Polnisch, Ukrainisch. Das deutsche Publikum versteht sie nicht. Der Dolmetsch fehlt! Keine Übertitel. Gelegentlich hört man fünf Sprachen gleichzeitig. Was sagen sie? Jelineks Sätze wahrscheinlich. Zurückgespiegelte Fremdheitserfahrung also.

Sprechchöre in Arabisch, Polnisch, Ukrainisch: "Die Schutzbefohlenen" anno 2024 vor dem Bochumer Schauspielhaus © Daniel Sadrowski

Jelineks neue Sprachkomposition ist eine Variation auf ihr altes Thema. Viele Passagen aus dem Text von 2014 werden übernommen, aber mit Sätzen über die im November 2023 in Potsdam stattgefundene Geheimkonferenz zur "Remigration" erweitert. Jelinek greift Formulierungen aus dem von Correctiv veröffentlichen Pressetext auf und treibt ihr bekanntes sinnverwirrendes und -erhellendes Spiel damit. Der österreichische Rechtsradikale Sellner soll auf der Konferenz von "maßgeschneiderten Gesetzen" gesprochen haben, um Migranten, auch mit deutschem Pass, und ihre Unterstützer nach Afrika auszubürgern.

Bei Jelinek wird daraus: "Hier tragen viele Hemd und Sakko. Die Sakkos nicht maßgeschneidert, die neuen Gesetze schon. Erstmal müssen wir dafür eine Rechtslage herstellen. Eine Grenze hat der Gesetzgeber definiert, aber die Grenzen kann er immer verschieben." Denn das ist die neue Qualität der Ausländerfeindlichkeit auf der Potsdamer Konferenz: Nicht nur der aberwitzige Plan der Abschiebung in einen afrikanischen Musterstaat, sondern die Pläne, solche Aktionen im deutschen Rechtssystem zu verankern und die Aussicht darauf, dass so etwas möglich sein wird. Durch das britische Gesetzgebungsverfahren zur Abschiebung von Migranten jedweder Nationalität nach Uganda ist diese Gefahr greifbar nahe geworden.

Kurzer, kräftiger Tritt 

Die Lesung wird aufgelockert durch passende Songs: Kurt Weills französisches Chanson "Yukali", ein syrisches, ein ukrainisches und ein persisches Lied werden als Playback gesungen. Zwischen diesen sehnsuchtsvollen Liedern aber spricht das gemischte Ensemble in aller Schärfe und Deutlichkeit Jelineks Anklage. "Voll rasenden Übermuts verehren Menschen die Falschen" – ein Zwischenruf zur Europawahl, der auch am Tag der Wahl auf dem Hans-Schalla-Platz vor dem Bochumer Schauspiel zu hören sein wird. Jelinek geht in ihrem Text auch so weit, dass sie alle Sprachspielerei, Existenzialkalauerei und Antikenpersiflage sausen und die Schutzbefohlenen Klartext reden lässt: "Wir wollen die Wertebasis, die auf Vielfalt beruht, mit Leben erfüllen, mit einem Leben, das einen Wert hat."

Viele Theater nutzen das Ende der Spielzeit zu Produktionen im Freien vor den Theatern, um Schwellenängste abzubauen, als Parallel- oder Konkurrenzveranstaltung zur Fußball-Europameisterschaft. Das Bochumer Schauspiel nutzt es zu einer Intervention zur Europawahl, ein Dazwischentreten. Es ist ein kurzer, aber kräftiger Tritt geworden.


Die Schutzbefohlenen – Was danach geschah (2024)
von Elfriede Jelinek
Uraufführung
Regie: Johan Simons, Kostüm: Britta Brodda, Dramaturgie: Marvin L.T. Müller, Angela Obst, Licht: Bernd Felder, Ton: Henry Skowronek, Regieassistenz: Christian Feras Kaddoura, Soufflage: Isabell Weiland, Inspizienz: Ulrike Schaper.
Mit: Yara, Jele Brückner, Konstantin Bühler, Danai Chatzipetrou, Joudy Diab, Yazan Abo Hassoun, Nina Karsten, Mohamad Latsh, Michael Lippold, Faezeh Mojahedtalab, Nahel Moustafa, Bernhard Pendzialek, Hosam Wehbe, Vera Zezoun, Joanna Ziajska
Dauer: 60 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"So sparsam und nachhaltig gedacht die Ausstattung ist, umso heller strahlt das Ensemble", schreibt Sven Westernströer in der WAZ (4.6.2024). "Der Zauber dieser Aufführung erschließt sich schon nach wenigen Minuten: Es dauert nicht lang, da haben die Zuschauer den Verkehrslärm auf der Königsallee und das trubelige Treiben um sie herum fast komplett ausgeblendet. Es herrscht andächtige Stille."

"Die Mühlen der Bürokratie, die menschenverachtenden Pläne zur Vertreibung, – nach Afrika, ins Niemandsland –, aber auch zur Veränderung unserer Rechtslage kommt auf Elfriede Jelineks eigene kunstvolle Art zur Sprache", schreibt Ronny von Wangenheim in den Ruhr Nachrichten (4.6.2024). "Am Ende gibt es viel Beifall für dieses klare Statement gegen Rechtsextremismus."

Das sei "schnörkellos produziert" und mit 50 Minuten Länge auch "kein vollwertiger Theaterabend“, aber man erhalte einen ersten guten Eindruck des Textes, so Christoph Ohrem bei WDR 5 Scala (3.6.2024). Mit seinem diversen und internationalen Ensemble betone Simons, dass sich hier eine bunte Stadtgesellschaft darstelle.

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