Warten auf Godot - Schauspielhaus Bochum
Die Zeit steht Schritt um Schritt
7. September 2024. Ulrich Rasche, der Großmeister des schreitend vorgetragenen Klassikertexts, hat sich auf der Drehscheibe diesmal "Warten auf Godot" zurechtgelegt. Ist sein Inszenierungsstil nicht eigentlich ideal für Samuel Becketts repetitives Drama?
Von Andreas Wilink
7. September 2024. Was ist das Gegenteil von machen? Warten, vielleicht verweilen, stille stehen, denken, reflektieren. Untätig sein. "Nichts zu machen", das erste Wort hat Estragon. Es ist auch eine Regieanweisung. Hier gibt es nichts zu machen. Nur auszuhalten, die Zeit und das Leben. "Die größten Ereignisse – das sind unsre stillsten Stunden", schreibt Nietzsche. Nicht unbedingt das erste, was einem zum Theater von Ulrich Rasche einfällt.
Zwei Geschlagene bei ihrem Such-Vor-Gang
An dem Ort, wo sich vor mehr als 20 Jahren Matthias Hartmann den Mediencoup gönnte, Harald Schmidt als Lucky zu präsentieren, und die Lacher auf seine Seite brachte, inszeniert Rasche, der im Mai diesen Jahres das Berliner Theatertreffen mit Lessings "Nathan der Weise" eröffnet und auf die Spur dröhnender Unversöhntheit gebracht hatte, das Drama des Existenz-Dunkels und unseres Geburtsfehlers. Beim Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing erlebten wir auf monumentaler Bühne das Scheitern der Aufklärung, im Schauspielhaus Bochum sind Wladimir und Estragon nicht mögliche Nachfahren von Nathan und Shylock auf einem Zeitstrahl, der zu Beckett während des deutschbesetzten Frankreichs und der Résistance führt, vielmehr von Ahasver, dem unerlösten Gefangenen in Ewigkeit.
Mit Aufrüstung kann Beckett nicht dienen. Aber Rasche kann es, indem er verstärkt, verstärkt, verstärkt – und den Humor der Verzweiflung ausblendet. Wiederum die Drehscheibe, deren Rotation sich ins Unaufhörliche des Hades oder eines Höllenkreises übersetzt. Unaufhörlich der suggestiv-offensive Sound, wabernd, schwellend, vibrierend, metallisch flächig streichend, grell oder schmeichelnd. Auf der Kreisebene zwei Männer in graufleckigen Anzügen, die mühevoll mit weichen Knien schreiten, als hätten sie Gewichte an den Schuhen, als stemmten sie sich gegen unsichtbaren Widerstand, als koste jeder Schritt Anstrengung, als schaufelten sie mit ihren Händen die Luft fort und ruderten im Wesenlosen. Keine Spaßvögel. Zwei Geschlagene bei ihrem Such-Vor-Gang. Körper, die stammeln können.
Gegen die Wucht des Räderwerks
Zum Raum wird auch hier die Zeit als Masse. Jetzt und Immer sind eins in der abstrakten Bühnennebellandschaft, die nicht mal die Natur des einsamen Baumes kennt, nicht die Zivilisation der Landstraße und auch nicht die Ankunft des „Jungen“ (Godots Sendbote ist gestrichen). Nicht stehende, sondern gehende Gegenwart im Weltinnenraum, über dem hoch im diffusen Licht ein zylindriges Objekt gerade oder in schräger Kipplage schwebt wie ein Raumschiff aus der Werkstatt Lucas/Spielberg. Ein Gestirn am gottverlassenen Himmel, das seine Umlaufbahn zieht.
Wladimir und Estragon, Langläufer und Leisetreter, bewegen sich mal auf einander gegenüberliegender Seite, mal nahe beieinander, messen Abstände aus oder suchen der Eine beim Anderen Schutz. Steven Scharf und Guy Clemens besitzen in ihrer gequälten Ausdauer imponierende Hochgespanntheit, die von sich kein Aufhebens macht.
Es kommt einem vor, als müssten die Schauspieler sich ebenso stemmen gegen die Wucht der Bild-, Ton- und choreografischen Dominanz, um nicht vom inszenatorischen Räderwerk, der Monotonie der Rhythmik, der Beschallung aus dem metaphysischen Irgendwo überrollt zu sein. Zunächst scheint es, als passe die unendliche Melodie und Minimal Music der Intonation ideal zu Becketts repetetivem Drama, bis sich der Eindruck verfestigt, sie ersticken sein Geheimherz und das Deutungsoffene und treiben es in die Deutlichkeit einer Konstruktion.
Beinhaus für Zwei und Zwei
Dann nähert sich ein Menschengebilde: Skulptur und mythisches Fabelwesen in einem. Der nackte Träger Lucky schleppt seinen Herrn und Meister Pozzo. Der junge Dominik Dos-Reis erzählt die Figur wie aus einem finsteren Shakespeare-Zauber zu blauer Stunde – ein artistisch-dialektischer Schwärmer, der von seinem Partner "Schönheit, Anmut, reine Wahrheit" erfuhr und ihn folgerichtig nie "Schwein" schimpft, nun aber das Fühlen für ihn nicht mehr aushält. Lucky ist bei Yannik Stöbener ein athletischer Pin-Up-Golem, der in rot glühendes Licht getaucht und von Sphärenklang umkleidet wird. Seinen Denk-Monolog trägt er nicht vor als geistblitzender Performer, sondern als Android, dessen mechanisches Stocken im enthusiastischen Delirium mündet. Die "Auskristallisation", wie Ernst Jünger gesagt haben würde, einer Gewalt der Macht und des Schmerzes der Ohnmacht in ihrer Interdependenz findet sich da ahnungsweise wieder.
Nach der Pause ist der lichte Hohlkörper gelandet oder abgestürzt, bevor die Maschine wieder abhebt, sind Steven Scharfs Bewegungen tastender und sein Singen vom "Hund, der in die Küche kommt", zaghaft, als höre er selbst sein fernes Echo. Der Ton ist gedämpft, der Gang matt, das Licht bleich. Didi und Gogo noch gebeugter und berührter, bedrückt durch die Erinnerungslast von Millionen Leichen. Die Bühne – ein Beinhaus für Zwei und Zwei (Pozzo und Lucky als hilflos gekrümmte Kreaturen in ihrer Pein) und eine weitere namenlose Zahl, für die eine Posaune das Jüngste Gericht bläst.
So zelebriert Rasche Leidenspathos, bis man seinen Kopf als Wunde spürt, und stemmt das Stück hinauf zum Menschheitsdrama, das mehr Aufforderung an uns als Wehklage enthält und darin gar nicht absurd ist.
Warten auf Godot (En attendant Godot)
von Samuel Beckett
Regie: Ulrich Rasche, Bühne: Ulrich Rasche, Franz Dittrich, Kostüm: Annika Lu, Licht: Sirko Lamprecht, Komposition / Musikalische Leitung: Andrea Belfi, Dramaturgie: Mehdi Moradpour. Musiker*innen: Andrea Belfi, Alfred Brooks, Hilary Jefferey, Spela Mastnak.
Mit: Guy Clemens, Dominik Dos-Reis, Steven Scharf, Yannik Stöbener.
Premiere am 6. September 2024
Dauer: 3 Stunden 50 Minuten, eine Pause
www.schauspielhausbochum.de
Kritikenrundschau
Das zentrale Lichtobjekt im Bühnenraum sei "ein absolutes Meisterwerk", so Michael Laages im Deutschlandfunk Kultur (6.9.2024), der Abend "in vielerlei Hinsicht extrem überwältigend" und in der Art, wie gespielt werde, "ziemlich sensationell". Rasche zeige "Überwältigungstheater der feinsten und ausgefeiltesten Art", lasse allerdings vermissen, "was an diesem Beckett auch komisch" ist. Das sei an diesem Abend "vollkommen abwesend", so der Kritiker.
"Theater als Droge" sah Lars von der Gönna in der WAZ (7.9.2024). "Große Kunst" und zugleich eine "Zumutung" und ein "Dokument der Unerträglichkeit". Kaum Platz fürs Virtuose lasse Rasche in der "gespenstischen Fläche" seiner Bühne, die das "unheilvolle Grauen von Shakespeares kahler Heide" in Erinnerung rufe. Rasche übertrage die "monströse Last der Unerlösten von Beginn an auf sein Personal". Aber: So "artifiziell der Abend ist, dieses Ensemble schenkt ihm eine unheimliche Vitalität". Das Theater verlasse man am Ende "bedrückt, erschöpft und – beschenkt".
"Becketts karge Naturszene hat der Regisseur Ulrich Rasche durch eine apokalyptische Vision ersetzt, die frösteln macht", berichtet Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (9.9.2024). "Man kann den 'Godot' natürlich als Transzendenz-Drama lesen, das ist Rasche aber zu schlicht. In seiner Lesart, die ein Ereignis darstellt, so großartig ist sie gespielt, streckt uns der pure Faschismus seine Fratze entgegen."
Rasche biete "die schwärzeste aller Interpretationen", berichtet Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.9.2024): "Die Elemente des Komödiantischen, die slapstickhaften Momente, die komischen Requisiten und Wiederholungen, die ans Boulevardtheater erinnern, viele der in den Figurenkonstellationen und ihren Dialogen angelegten Widersprüche – all das drängt der Regisseur zurück, um sich auf ein düsteres Spiel von Schmerz, Leid und Tod zu konzentrieren. Dabei entstehen immer wieder grandiose Bilder, ausgeleuchtet von einem tyrannischen Mond und begleitet von fünf dramaturgisch virtuos eingesetzten Begleitmusikern. Aber indem er Becketts absurdem Theater das Absurde austreibt, macht Ulrich Rasche das Stück ärmer. Indem er alle Elemente des Komödiantischen eliminiert, nimmt er ihm nicht nur das Komische, sondern auch das Lakonische."
Von einer "überwältigenden Theatermaschinerie" berichtet Tom Thelen in den Ruhrnachrichten (9.9.2024). Er erlebte "ein Exerzitium, eine Zumutung, eine Erfahrung". Und er vergleicht diesen Beckett mit Matthias Hartmanns Inszenierung vor 22 Jahren: "Die gut 75 Vorstellungen, die der historische 'Godot' an der Königsallee hinlegte, sind für diese Inszenierung nicht in Reichweite. Dennoch hat sie sehr viel Kraft. Und wird bleiben."
Ulrich Rasche mache aus Samuel Becketts absurdem Drama ein suggestives, überwältigendes Totaltheater, bei dem die verschiedenen Elemente wie Bühnenbild, Musik, Bewegungschoreografie und Darstellung perfekt zusammenspielten, schreibt Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (10.9.2024). "Dem Zuschauer ist die Fluchtmöglichkeit in den Humor genommen." Rasche ersticke die Komik des Stücks, er nehme den Text als "nachtschwarze, depressive Tragödie". Und weiter: "Selten erlebt man fabelhafte Schauspieler in so herausfordernder, aber perfekt funktionierender Situation."
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Warten auf Godot: Rasches Methode passt zum Stücktext: immer weitergehen, auf der Stelle bleiben. Da es bis auf Luckys Monolog keine Textballungen gibt, ist ein rhythmisches, abgehacktes und anstrengend zu hörendes Sprechen nicht möglich, was positiv ist. Nur: was in 150 Minuten ginge, muss nicht 240 Minuten dauern …