The Ghosts Are Returning - Düsseldorf Festival
Psychoanalyse für europäische Museen
24. September 2022. Die Group50:50 ist ein Zusammenschluss kongolesischer, schweizerischer und deutscher Künstler:innen. In "The Ghosts Are Returning" machen sie aus einem aktuellen Restitutionsfall (sieben Skelette kehren aus der Schweiz nach Kongo zurück) ein, ja: beglückendes Kolonialismus-Requiem.
Von Martin Krumbholz
24. September 2022. Das Schönste und vielleicht Überraschendste an diesem Abend ist der Humor, die Leichtigkeit, fast Heiterkeit, mit der ein doch schwieriges, beschämendes Thema, die Bürde kolonialistischer Unterdrückung und Enteignung, hier auf die Bühne des Forum Freies Theater gebracht wird. Die erst vor zwei Jahren gegründete Group50:50, ein Zusammenschluss kongolesischer, schweizerischer und deutscher Künstler, kooperiert für dieses Projekt mit dem Centre d’Art Waza Lubumbashi und dem Podium Esslingen, einer Initiative im Bereich klassischer und zeitgenössischer Musik. Es ist nicht zuletzt die hohe musikalische Qualität dieses Requiems, einer Mischung aus "ernsten" und Rock- und Folk-Elementen, der die Performance, bei aller Emphase, aus einem denkbaren Betroffenheitsgestus befreit und ein beglückendes Ereignis daraus formt.
Sieben entführte Skelette
Die Geschichte ist schnell erzählt: Im Nordosten des Kongo, seinerzeit Belgisch-Kongo, später Zaire, heute Demokratische Republik Kongo, liegt der größte Regenwald der Welt, bevölkert unter anderem vom Volk der Mbuti. Anfang der fünfziger Jahre hat hier der Schweizer Arzt Boris Adé sieben Skelette ausgegraben, in Kisten gesteckt und nach Europa entführt, zu Forschungszwecken, wie er meinte, um sie der Universität Genf zu überlassen, wo sie sich noch heute befinden: "Fragmente hinter Glas", wie es einmal heißt. "Pygmäen", klärt uns das Brockhaus Lexikon in einem langen Artikel auf, seien kleinwüchsige Menschengruppen mit durchschnittlicher Körpergröße der erwachsenen Männer unter 150 cm; Brockhaus attestiert ihnen "volle körperlich-geistige Leistungsfähigkeit" und "hochgradige Anpassungsfähigkeit an ihre Lebensbereiche". Genau dies muss den Schweizer Arzt, der sich als Menschenfreund und "Beschützer" der Mbuti ausgab, beschäftigt haben, und hier setzt auch der Sarkasmus der Performerin Christiana Tabaro an, wenn sie eingangs fragt: "Warum sind diese Menschen bloß so klein? Und trotzdem so widerstandsfähig? So schlau?"
Natürlich steht die Episode der sieben Skelette exemplarisch für den ganzen traurigen (und teilweise auch bizarren) Komplex des Kolonialismus und die damit verbundenen ethischen Fragen; Sarkasmus und präzise Recherche ist die eine Seite der Annäherung des Abends daran, die wunderbare Musik die andere. Der Kongo war eine Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II., die Schweiz war, etwa mittels Staatsanleihen, an der Ausbeutung des Landes heftig beteiligt, und natürlich wusste man genau um die unermesslichen Bodenschätze, die Zentralafrika barg. Die Sklavenhaltung war nur die schlimmste Form der Unterdrückung, und die Enteignung geht bis heute weiter, wenn der Regenwald um des Profits willen schamlos abgeholzt wird. Der "menschenfreundliche" Schweizer Arzt, dessen Nachkommen inzwischen der Restitution der Skelette zugestimmt haben, war kein Hauptverbrecher, nur ein eher armseliger Profiteur eines unmenschlichen Systems.
Symbolische und reale Umbettung
"Wissenschaft, Handel, Zivilisation", heißt es sarkastisch, seien die drei "magischen Wörter" gewesen, um die Ausbeutung und Enteignung aufklärerisch zu verbrämen. Man muss sich nur ein Foto einer mitten in den Urwald gepflanzten, in ihrer Epigonalität grottenhässlichen christlichen Kathedrale ansehen, um zu begreifen, wie falsch und deplatziert die Missionierung der hier ansässigen Völker war: Sie diente letztlich dazu, diese ihrer eigenen Rituale, ihrer Sitten und Gebräuche zu "entleeren". Und Leere hat der ganze kolonialistische Prozess tatsächlich hinterlassen. Wenn sich jetzt auf der Bühne des Forum Freies Theater europäische "E-Musik" (Bratschistin Ruth Kemna interpretiert eine Sonate von Ligeti) mit afrikanischer "U-Musik" verbindet: Dann hat man fast das Gefühl, hier finde eine Art symbolischer oder formeller Umbettung statt, den begründeten Zorn hinter sich lassend, eine Geste der Befreiung und der Schönheit findend – was nicht mit falscher Versöhnung verwechselt werden sollte.
Die europäischen Museen müsse man einer Psychoanalyse unterziehen, heißt es einmal. Dieser Aphorismus trifft wohl ins Schwarze: Dass die sterblichen Überreste von Menschen etwas anderes sein könnten als schnödes akademisches Untersuchungsmaterial, ist vielen Europäern, nicht nur dem Schweizer Arzt, lange nicht in den Sinn gekommen. Nun kehren die Geister zurück. Die Universitäten von Genf und Lubumbashi sind übereingekommen, nach 70 Jahren sieben Skelette nach Afrika zu überführen und dort zu bestatten. Der Abend der Group50:50 geht indes ebenfalls auf große Wanderschaft, zuletzt auch in den Kongo.
The Ghosts Are Returning
von Group50:50
Regie: Christiana Tabaro, Eva-Maria Bertschy, Michael Disanka und Elia Rediger, Komposition und Musikalische Leitung: Kojack Kossakamvwe und Elia Rediger, Text: Christiana Tabaro, Eva-Maria Bertschy, Michael Disanka, Patrick Mudekereza, Ruth Kemna und Elia Rediger, Dramaturgie und Diskurs: Eva-Maria Bertschy und Patrick Mudekereza, Bühne und Ausstattung: Elia Rediger, Christiana Tabaro, Michael Disanka und Janine Werthmann, Video: Moritz von Dungern, Joseph Kasau, Franck Moka und Elia Rediger, Produktionsleitung: Pamina Rottok und Véronique Poverello.
Mit: Ruth Kemna (Bratsche und Performance), Christiana Tabaro (Gesang und Performance), Huguette Tolinga (Perkussion), Kojack Kossakamwve (Gitarre), Franck Moka (Elektronik und Performance), Merveil Mukadi (Bass), Elia Rediger (Gesang und Performance).
Eine Produktion von Group50:50, Centre d'Art Waza, PODIUM Esslingen
Premiere am 23. September 2022
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.duesseldorf-festival.de
Kritikenrundschau
"Es geht nicht nur um den konkreten Fall einer Rückgabe, sondern mehr noch um das größere Thema der Versöhnung", schreibt Dorothea Marcus in der taz (26.9.2022). "Als geeignete Therapiemethode erscheint das, was auf der Bühne passiert: eine gemeinschaftliche Suche nach Heilung mit Hilfe von Musik." Diese Suche werde zu einem "heiteren, grandiosen Konzert, einem Mash-up aus Stilen und Instrumenten, in dem sich E und U, Folklore-Elemente und Klassik-Kanon zu einem neuen Ganzen ergänzen", so Marcus. "Gedanken an kulturelle Aneignung wären hier fehl am Platz, die Musik eröffnet neue Räume der Verständigung. Ein empathisches Requiem, das zugleich Zukunft ermöglicht."
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