Der gute Mensch von Sezuan - Mit Bertolt Brecht weiht das Schauspiel Köln seine Interimsbühne ein
Doppelgänger mit Klimperaugen
von Stefan Schmidt
Köln, 28. September 2013. Was passt Brechts "Guter Mensch von Sezuan" doch perfekt zur Interimsbühne, die das Schauspiel Köln an diesem Wochenende eingeweiht hat. Das alte Haus, der Innenstadtbau aus den fünfziger Jahren, muss generalüberholt werden. Und so tritt der neue Intendant Stefan Bachmann die Nachfolge der gefeierten Karin Beier im Carlswerk an, einer stillgelegten Kabel- und Drahtfabrik. Zwar werden auf dem Gelände schon seit einiger Zeit Unterhaltungsromane verwaltet und Privatfernsehformate entwickelt, aber trotzdem umweht den Ort noch die Aura des Industriekapitalismus, den Brecht mit seiner epischen Klage vom guten Menschen in einer chinesischen Provinz anprangert.
Dieser gute Mensch ist eine Frau und betreibt über weite Strecken der Handlung einen kleinen Tabakladen, der wohl genauso gut irgendwo auf der Kölner Keupstraße in unmittelbarer Nähe des neuen Schauspieldepots liegen könnte, wo sich ein türkischer Einzelhandel an den nächsten reiht. Und zu allem Überfluss liegt das Carlswerk auch noch mitten in einer Airporteinflugschneise, was die Sehnsucht des zwischenzeitlichen Verlobten der guten Frau präsent machen könnte, als Pilot zu arbeiten und so den Defiziten des Lebens zu entfliehen.
Pathos austreiben
Was macht nun Hausregisseur Moritz Sostmann aus diesen ganzen allzu offensichtlichen Anknüpfungspunkten? So gut wie nichts, zum Glück. Das Inszenierungsteam vermeidet bedeutungsschwangere Kommentare zur allgemein krisenhaften Orts- und Weltlage. In Köln tanzen stattdessen die Puppen und treiben dem alten Brecht das Pathos aus. Sostmann findet in der Parabel vom notwendigen Scheitern des Grundguten in der kapitalistischen Welt zugleich Farce und Poesie. Sein Zugriff ist ebenso berührend wie lustig.
Die Schnorrer etwa, die jede auch noch so kleine wirtschaftliche Perspektive der guten Frau für sich auszunutzen verstehen, sind tatsächlich zum größten Teil garstig prollige Handpuppen: Muppet Show meets Cindy aus Marzahn und Klimbim, ein kunstvoll-künstlicher Chor der Schmarotzer. Virtuos, wie die Darsteller in Windeseile von ihren Rollen als Menschen ins Puppenspiel wechseln. Spaß haben sie dabei alle, aber in der Gruppe der Vielversprechenden zeichnet sich schon ein potentieller neuer Publikumsliebling ab: Stefko Hanushevsky.
In the mood for Brecht
In den genialsten Momenten der Inszenierung verwischen die Unterschiede zwischen den beiden Wesensarten auf der Bühne, erscheint es vollkommen selbstverständlich, dass es zwischen ihnen zu Berührungen, zu Zärtlichkeiten kommt. Auch die Hauptfigur Shen Te lernen wir zunächst als Puppe kennen. Trotzdem bewegt sie sich so sehnsuchtsvoll anmutig (und zu einer Musik), als wäre sie gerade einem Liebesfilm des Hong Kong-Chinesen Wong Kar-Wai entstiegen.
Als sich diese Frau dann irgendwann dafür entscheidet, ihren romantischen Gefühlen für den Möchtegernpiloten wider alle Vernunft nachzugeben, bekommt die Puppe eine menschliche Doppelgängerin: Die Bühnenspielerin Magda Lena Schlott, die ansonsten hinter bzw. in Shen Te steckt, trägt mit einem Mal deren Kleid, und mitten in der Pause wird das Publikum schließlich von der hysterischen Aufforderung aufgeschreckt, zur Trauung zu eilen. Da steht sie dann auf dem Tresen der Garderobe, direkt neben der Abendkasse, umrahmt von zwei chinesischen Drachen mit klimpernden Augen: Magda Lena Schlott als menschliche Shen Te, die nach und nach ihrer letzten Hoffnungen beraubt wird, weil auch ihre große Liebe gerne das Geld hätte, von dem sie selbst letztlich gar nicht so viel besitzt. Die Trauung platzt, und die Hochzeitsgesellschaft scheucht uns zurück Richtung Bühne: "Schau'n mer uns noch den Rest von dem Parabelstück an." So geht heute V-Effekt, ganz unideologisch.
Hommage an die Kabelfrabrik
Und so dynamisch kann man Räume nutzen: Bühnenbildner Christian Beck hat der Inszenierung die alte Industriehalle unaufdringlich flexibel zu eigen gemacht, erzielt mit einfachen Mitteln atmosphärisch dichte Wirkung, bietet den Puppen (und Menschen) bewegliche schwarze Plastikmülltonnen als Unterschlupf, dazu ein Förderband, Bauzäune, eine Kabelrolle als Hommage an das Carlswerk und einen großen Haufen Schutt.
Für Auftritt und Flucht der Erleuchteten, der Götterwesen auf der Suche nach guten Menschen auf der Erde, nutzt der Regisseur effektvoll das alte Fabrikrolltor, durch das helles Licht in die Halle flutet. Nach diesem gelungenen Kraftakt des Ensembles, bei dem Reste pathetischen Gutmenschenstakkatogeschreis verzeihlich sind, erwartet uns draußen, vor dem Tor, tatsächlich eine Art Paradies: das Urban Gardening-Projekt des neuen Teams vom Schauspiel Köln. Zumindest die Saat dieses Brecht-Abends ist schon einmal aufgegangen. Das macht Lust auf mehr.
Der gute Mensch von Sezuan
von Bertolt Brecht mit Musik von Paul Dessau
Regie: Moritz Sostmann, Bühne: Christian Beck, Kostüme: Elke von Sivers, Puppen: Atif Hussein, Franziska Müller-Hartmann, musikalische Leitung: Philipp Plessmann, Dramaturgie: Nina Rühmeier.
Mit: Mohamed Achour, Johannes Benecke, Stefko Hanushevsky, Philipp Plessmann, Annika Schilling, Magda Lena Schlott.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause.
www.schauspielkoeln.de
Andreas Rossmann bespricht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.9.2013) beide Kölner Eröffnungsinszenierungen. "Was Moritz Sostmann mit dem Stück anstellt, nimmt ihm das Gewicht des Lehrhaften und gibt ihm die Leichtigkeit des Spiels: Mit fast lebensgroßen Puppen, mit denen die Akteure dahinter schier zusammen- und buchstäblich im Handumdrehen wieder auseinanderwachsen". Während Rossmann für die Eröffnung von Regisseur Sanches keinen guten Worte findet, so sah er hier immerhin "armes, reiches Theater, auch wenn die szenischen Mittel nicht über fast drei Spielstunden tragen".
In der Kölnischen Rundschau (30.9.2013) schreibt Hartmut Wilmes, Sostmann zeige kein Puppenspiel, sondern ein Schauspiel mit Puppen. Der Regisseur gewinne "dem 'Weihnachtsmärchen für sentimentale Weltrevolutionäre' (Georg Hensel) eine ungemein bildstarke, sinnliche Aufführung ab, die für den Revolutionsauftrag am Schluss nur Spott übrig hat." Denn Moritz Sostmann, "einst in der DDR mit Brechts Botschaften traktiert, treibt dem Stück im Depot 2 ebenso poetisch wie komisch alles Doktrinäre aus."
Die Westdeutsche Zeitung (30.9.2013) mit Kritikerin Marion Troja bevorzugt ebenfalls den zweiten Eröffnungsabend von Sostmann, "ein von Anfang an stimmiges Regiekonzept mit charmanten und anrührenden Ideen". "Jede Bewegung der Puppen, die Musik und jeder Bühneneffekt – alles ist hier handgemacht und sichtbar. Eine großartige Ensemble-Leistung in bester brechtscher Verfremdung."
Als der Brecht'schen Verfremdungsästhetik sehr angemessen empfindet Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (1.10.2013) das "Doppeln der Figuren anhand von Menschen und Puppen". An die Schauspieler stelle "das variantenreiche Konzept die höchsten Ansprüche; und weil man das mitunter merkt, schleichen sich im zweiten Teil ein paar Längen ein." Trotzdem sei diese Arbeit "ungemein lebendig und entfaltet einen geradezu verblüffenden Witz. Brechts oft gefürchtetes Pathos wird von Moritz Sostmann und seinem exzellenten Team gewissermaßen sanft persifliert und doch nicht völlig eskamortiert." Die Pointe sitze: "Die Teilung der Welt in spielende Menschen und in Puppen, denen man mitspielt, ist schändlich und die Klage darüber keineswegs überholt."
"Brecht mit Puppen und Menschen zu spielen ist eine schöne Variante des epischen Theaters", schreibt Stefan Keim in der Welt (14.10.2013). Es gebe faszinierende, fließende Übergänge im Zusammenspiel von Puppen und Schauspielern. "Ein reizvoller Abend, der mit drei Stunden aber auch überambitioniert wirkt und mit mancher Albernheit nervt."
Von einem leichtfüssigen Schauspiel mit Puppen spricht Hans-Christoph Zimmermann in der Neuen Zürcher Zeitung (15.10.2013). Magda Lena Schlott führe die Puppe der Shen Te und verkörpert sie zugleich leibhaftig sowie auch deren böses Alter Ego Shui Ta. "Eine identitäre Vervielfachung, die Brechts hölzerne Dialektik elegant unterläuft."
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(Sehr geehrter Heinz, im übervollen Monat September musste nachtkritik.de Prioritäten setzen. Unsere wahrlich nicht leichte Wahl am Kölner Auftaktwochenende fiel auf "Der gute Mensch von Sezuan". Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Planungsteam September)
Dafür gibt es im Oktober Premieren aus Leipgart und Stuttzig geradezu mit dem Füllhorn: nk setzt Prioritäten, was zu beweisen war.
Aber, das ist mitunter auch ganz spannend, zu schauen, wie die "KURSE" so stehen bei der Kritik oder kleiner: in einem Haus, wobei man natürlich fragen darf, ob man dergleichen "Börsenanwandlungen in der Theaterkritik" schätzen kann oder eher nicht. Zum Beispiel blieb die Süddeutsche Zeitung gänzlich der Thalia-Premiere von "Moby Dick" fern (infolge des "Ironieartikels" Herrn Brieglebs seinerzeit zu Nunes ? oder um noch "Platz nach oben" für Frau Beier zu haben ??) und fuhr lieber zur "Willy-Brandt-Revue" nach Lübeck. Und ja, Lübeck zB. ist viel höher im Kurs als Kiel oder das SH-Landestheater beispielsweise. "TheaterHeute" läßt Herrn Schreiber zur Premiere von "Die Ehe der Maria Braun" dorthin anreisen, "Theater der Zeit" interessierte die nämliche Brandt-Revue, nachtkritik de. wird den
"Lear nach Hausherrenart" wahrnehmen, währenddessen der "Othello nach Hausherrenart" in Kiel im überregionalen Schatten steht (tatsächlich hat noch nicht einmal die LN das besprochen). Es gilt dann meineserachtens immer wieder, den jeweiligen Einzelfall zu befragen, zur Not erfährt man by the way etwas zu einer Tendenz bestimmter Hausherren zur Shakespeareinszenierung: Ist es nur zufällig so oder so, gibt es Gründe zu erfahren ?? Nicht jede Frage dieser Gestalt wird aus Neid gestellt, wenngleich das dann häufig reflexartig unterstellt wird.
Auch ich interessiere mich im nächsten Monat besonders für die Starts von Lübbe und Petras (ähnlich wie wohl nk), aber wenn das immerhin 8 Premieren im Monat sind, könnte ich auch FragerInnen gut verstehen, die das -angesichts knapper Ressourcen- für etwas überproportioniert halten gegenüber anderen Premierenorten; zur Not hilft dann der Griff in die Tasten, um selbst so einen Abend zu umreißen, zB. in der Form "Warum ich lieber den "Nackten Wahnsinn" gehabt hätte in Köln" , es wird ihn ja jetzt immerhin auch von Perceval in HH geben (mit nachtkritik de.) und so hätte sich eine Vergleichsmöglichkeit ergeben etcpp. ..
"Brechts alte Parabel von der Unmöglichkeit, im bösen Kapitalismus ein guter Mensch zu sein, erzählt der junge Regisseur Moritz Sostmann mit seinen sechs Schauspielern und einem Dutzend Puppen als Mischung aus Kasperletheater und Performance. Ihre Bühne ist ein großes Spielfeld, mit Orten, die wirken, als hätte die Truppe sie so vorgefunden in der rohen leeren Betonhalle, die dem Schauspiel Köln derzeit als Ausweichquartier dient. Ein Förderband dient auch mal als Laufsteg, ein Müllcontainer mit einem Zigarettenautomaten dran ist der Tabakladen, mit dem die gute Shen Te versucht, ihr Auskommen zu finden. Mittendrin steht ein Flügel, denn Brechts Stück wird hier bei allem Spielwitz mit großem Respekt behandelt, einschließlich der Lieder von Paul Dessau. Die Puppen von Shen Te und später Shui Ta, dem herzlosen Vetter, in den sich das Mädchen verwandelt, um zu überleben, sind von großer Anmut; die Puppen ihrer schmarotzenden Verwandten scheinen eher aus der Muppet-Show zu kommen. Dazwischen wuseln die Schauspieler, springen von einer Rolle in die andere, erwecken die Puppen zum Leben, sind Engel und Musiker und moderne Meisterschüler Brechts." and
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/theaterhits-2013-die-besten-neuen-klassiker-inszenierungen-a-941878.html
(Werter Kolja,
dazu gibt es auch eine Presseschau: http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=8931:Pressechau-vom-6-januar-2014--der-spiegel-kuert-die-fuenf-besten-klassikerinszenierungen-2013&catid=242:Presseschau&Itemid=115
MfG, Georg Kasch / Redaktion)