I Want Absolute Beauty - Ruhrtriennale
Liebespalast in Trümmern
17. August 2024. Wie soll man den Abend beschreiben, mit dem Ivo van Hove die von ihm geleitete Ruhrtriennale eröffnet hat? PJ Harvey stiftet Lieder, Ausnahmespielerin Sandra Hüller interpretiert sie, ein Regisseur und drei Choreograf*innen inszenieren sie, Tänzerinnen und Tänzer begleiten sie, eine Videowand produziert Bilder dazu. Ein Ereignis!
Von Andreas Wilink
17. August 2024. Vom "Stoffwechsel der Schicksale, der das Leben ist" sprach Imre Kertèsz. Dieser Umwandlungsprozess kann Niederschlag und Ausdruck finden in der Kunst. Von einer, die auszieht, das Leben oder leben zu lernen: So lässt sich Sandra Hüllers Stationenweg in "I Want Absolute Beauty" beschreiben, der sich als musikalischer Entwicklungsroman gliedert in vier Kapitel ("Grow", "Love and Personal and Political Disappointments", "Big Exit", "Back Home"), gesetzt in 26 Songs von PJ Harvey.
Projekt Mensch
"Teach me how to grow" heißt es in dem ersten Lied. An wen richtet sich die Bitte oder Aufforderung – an Mutter Natur, das göttliche Prinzip, das Samenkorn des werdenden Ichs? Wie wird jemand, was sie bzw. er sein will? Ist der Glaube an sich selbst die Voraussetzung oder das Ergebnis, das Gelingen und Gnade für sich selbst ermöglicht und, mit oder ohne Nietzsche, die "Morgenröthe" eigener Autonomie und Vervollkommnung?
Das evolutionäre Projekt Mensch – des homo artista – spiegelt sich in dieser Aufführung mehrfach. PJ Harvey stiftet ihre Lieder entlang der eigenen Biografie, eine Schauspielerin interpretiert sie neu, ein Regisseur und drei Choreograf*innen inszenieren sie, Tänzerinnen und Tänzer begleiten sie, eine Videowand produziert Bilder dazu. Fast schon ein Zuviel an Transformation. Die Bühne in der Jahrhunderthalle Bochum ist ein lang gestrecktes, mit Erde bestreutes Feld, das sich in der Tiefe des Raums verliert. Alles sammelt sich zu einer großen Bewegung und Melodie, zu Aktion und Reaktion, Worten, die sich in Noten, die sich in Körper, die sich in Bilder, geschärfte und verwischte, konkrete und symbolische, übersetzen.
Polly Jean Harvey, Gottesanbeterin, Erlösungs-Prophetin, Leidens-Apostelin und Hohepriesterin ihrer eigenen Lebens-, Körper- und Herzensgeschichte schenkt das Material aus ihren Alben der 1990er und 2000er Jahre: Auch diese Lady singt den Blues, ruft die Landschaft ihrer Kindheit Dorset auf, feiert die Melancholie oder schwingt sich – zugleich meditativ und offensiv – mit ihrer musique engagée auf, um wieder einzutauchen in die Natur- und Innenwelt. Wer die Sehnsucht kennt, wird ein Ohr haben für ihre Education sentimentale. Sie stellt sich dem Schmerz, erinnert ihn und wäscht ihn fort, wandert durch Wüsten des Lieblosen, feiert die Begegnung mit dem Absoluten, das über sie hereinbricht wie ein Monsun in den Tropen, trauert um Verrat, oder wendet sich ab von ihrem Ego, um zu klagen über die Gewalt in der Welt und das ihr fremd werdende England.
Träumerin, Kämpferin, Himmelsstürmerin
Was für eine Verbindung: die Charismatikerin PJ Harvey und die beunruhigend unergründliche Sandra Hüller! Das sanft Unerschrockene, Verschlüsselte ihres Charakters, dessen Substanz einem so wenig geheuer ist, weil es an der Oberfläche porentief sauber zu sein scheint, durchdringt ihre Bühnen- und Film-Figuren. Sie zeigen Beherrschtheit durch Intelligenz und die Befähigung, den Körper als Präzisionsinstrument einzusetzen. Die Sängerin Hüller sprengt alle Vorstellungskraft und zeigt anderes als ihr weich gezeichnetes Gesicht: leicht aufgeraut die Stimme, grollend, sirenenhaft sehnend, tosend, heulend, stöhnend und brüllend. Liebeslieder, Klagelieder, Zorneslieder, Angstlieder einer lost soul und eines lonely child, einer Träumerin, Kämpferin, Verzweifelten, Heimatverlorenen, Herzensgebrochenen, Himmelsstürmerin. Sie feiert den Exzess ("Angelene", "The Dancer", "Meet Ze Monsta", "Rid of Me") und exorziert ihn gleichermaßen, während die Tänzer-Gruppe Grimassen der Lust zeigen und in den Rhythmus der Kopulation fallen.
Hoch über dem Mutterboden flirren Bilder über die Projektionsfläche: verfallene Grabsteine, sich wiegendes Gras, ein Tunnel, Straßen als Fluchtweg, Feuerstürme eines Flammenden Inferno und Wasserfluten, die Kreidefelsen von Dorset, die Lichter von New York und das Auge einer Schauspiel-Zauberin (dazu später). Die Tänzer*innen des Ballet National de Marseille fungieren als Doppelgänger, Verstärker, Stützen, Vermittler. Sie haben Sex im Leib, marschieren, stürzen, ballen sich zum Leichenhaufen. Die Neun in ihrer Street-Credibility führen – dynamisch und ekstatisch – den Stellungskrieg der jungen Körper, bei dem Sandra Hüller als eine der Ihren mithält. Dass die Welt irre ist, die Liebe Chaos und "a mess" ist, das Herz ein einsamer Jäger ist, davon erzählen die Songs und ihre theatrale Formung durch Ivo Van Hove.
Auftritt Isabelle Huppert
PJ Harveys Reich ist das "Desperate Kingdom of Love". Sie teilt es in Bochum mit zwei weiteren Königinnen: mit der sich bravourös behauptenden, kaum wiederzuerkennenden, dabei total mit sich identischen Hüller und mit einer dritten – in einem magischen Moment kurz vor Ende. Da erscheint wie eine mystische Vision das Gesicht von Isabelle Huppert auf der Leinwand. Die alterslose Circe singt und weiß vom Liebespalast in Trümmern und gibt ihr Wissen weiter und zurück an die jüngere Fee, ihre, ja, Erbin und Fortführerin Hüller.
Die Erfahrungen der Fremde und die Rückkehr zur Heimaterde bilden den Grund für Harveys / Hüllers Ich-Gefühl. So erringt sich Freiheit, die gelassen auf das Leben schaut, wie es ist ("I have pulled myself clear"), und sich ins Elementare fügt, durchatmet von Goethes "Stirb und Werde". Diesen Prozess scheint auch Ivo Van Hove der Ruhrtriennale als Dauer im Wandel zu verordnen.
I Want Absolute Beauty
Regie: Ivo Van Hove, Choreografie: (LA)HORDE – Marine Brutti, Jonathan Debrouwer, Arthur Harel, Bühne und Licht: Jan Versweyveld, Video: Christopher Ash, Kostüm: An D’Huys, Sound: Tom Gibbons, Musik: PJ Harvey, Musikalische Leitung: Liesa Van der Aa, Dramaturgische Beratung: Koen Tachelet
Mit: Sandra Hüller, Casper Tveteraas Hauge, Efua Maria Aikins, Emma Savoldelli-Harris, Evan Sagadencky, Jens van der Pijl, Louka Gailliez, Luca Völkel, Nahimana Vandenbussche, Sarah Abicht, Timothy Firmin, Tristan Sagon.
Premiere am 15. August 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.ruhrtriennale.de
Kritikenrundschau
"Kraftaufwand gleich Effekt: Gedankenlos ergibt sich die Aufführung dem Ortsgeist der Industriehalle. Ein Abend voller Wucht und ohne Belang“, so Patrick Bahners in der FAZ (18.8.2024). Die kollektive Versorgung des Publikums mit klischeehaften Hintergrundbildern von Grabsteinen und Feuersbrünsten sei geradezu absichtsvoll reizlos. Sie diene dazu, das gesamte Interesse auf die Hauptperson Sandra Hüller zu lenken. "Politisch lässt sich […] aus der martialischen Genremalerei nichts ableiten."
"Es ist, wie könnte es anders sein, der Abend der Sandra Hüller", schreibt Jens Dirksen auf waz.de (16.8.2024). "Manche Songs jenseits des Hits 'Down The Water' entwickeln durchaus Längen, haben die eine oder andere Wiederholung zu viel. Als der Abend nach einer Dreiviertelstunde etwas durchzuhängen droht, kommt er aber mit dem eingängigen 'A Place Called Home' wieder aufs Drahtseil und mündet mit 'We Float' in der Freiheit des Meeres, im Gleiten über Wellen und durchs Leben."
"Diese Schauspielerin ist und bleibt ein phänomenaler Glücksfall", bejubelt Alexander Menden von der Süddeutschen Zeitung (19.8.2024) Sandra Hüller. Sie werfe sich in die Rolle der Rock-Performerin, wie sie jede Rolle annehme: "rückhaltlos, als hätte sie nie etwas anderes gemacht". "Ein großer Moment ist gegen Ende ein Duett mit Isabelle Huppert, die bei "Beautiful Feeling" als Einblendung auf der Leinwand erscheint. Ein Gipfeltreffen zweier weiblicher Sphinx-Figuren. Ein großartiger Abend."
"Ivo van Hove hat keine schlichte Rock- oder Pop-Revue auf die Bühne gebracht, sondern einen bewegenden und streckenweise verstörenden musiktheatralischen Abend, der vom Publikum alle Sinne fordert", schreibt Bernhard Hartmann im Bonner General-Anzeiger (19.8.2024). "Bedingungslose oder gar unbeschwerte Schönheit sucht man hier vergebens, eher konfrontiert das Stück sein Publikum mit Verzweiflung, mit Leid, Trauer, brutaler Gewalt und Krieg – aber auch mit einer unstillbaren Sehnsucht nach Liebe, nach Heimat, nach dem inneren Frieden."
"Nur darauf, die unnachahmliche PJ Harvey zu imitieren, verzichtet Hüller. Sie reißt die Wunden, aus denen sich die so kunst- wie kraftvollen Lieder speisen, wieder auf, aber das tut sie auf ihre ureigenste Weise. Dies alles kann schon rein handwerklich auf dem staubigen Erdengrund nicht leicht sein, aber jedes Mal, wenn man denkt, jetzt müsste Hüller der Atem versagen, erhebt sich ihre Stimme umso machtvoller über den muskulösen Sound der vierköpfigen Band. Sie ist eine Kriegerin, die vom verwüsteten Land berichtet", schreibt Christian Bos vom Kölner Stadt-Anzeiger (19.8.2024).
"Es geht um Träume und Hoffnungen, um Ängste und das Aufbegehren. Nicht als durcherzählte Geschichte, sondern als eine Collage einzelner Assoziationen. Pina Bausch lässt grüßen. Es gibt aber auch Szenen von Übergriffigkeiten und Gewalt, mit exzessiven Griffen in den Mund oder in den Schritt. Und Hüller immer mittendrin. Auch als Rockstar immer als sie selbst. Genau das ist ihr größtes Pfund. Mit dem wuchert sie", so
Joachim Lange von der Neuen Musikzeitung (18.08.2024)
Lothar Schröder von der Rheinischen Post (19.8.2024) schreibt: "Vielleicht würde all das ohne Sandra Hüller nicht so gut funktionieren. Die braucht anfangs allerdings auch etwas Zeit, in die Lieder zu kommen und die Rolle anzunehmen. Doch bald beginnt sie, die Sandfläche zu beherrschen, ist eine verletzliche und verletzte Königin in einem öden Reich, die nach Schönheit strebt und sich der Ekstase überlässt."
Einen Abend, der "mit seinem aufdringlichen Sendungsbedürfnis die Schönheit in arge Bedrängnis bringt", erlebte Jakob Hayner von der Welt (22.8.2024) und fand sich in einer "Welt aus Liebesgeschichten und unheimlich-poetischen Großstädten" wieder. "Blöd nur, dass die Regie auf das Prinzip simpler Bebilderung setzt: Geht es um den Krieg als Schlachtbank, sieht man das nicht nur getanzt, sondern mit zusätzlichen Einspielern auch auf der fast die gesamte Bühnenbreite ausfüllenden Mega-Leinwand. Wo sich, von Spiel und Witz befreit, die Sinnebenen derart unterschiedslos verkleben, fühlt man sich erschlagen – zudem die Musik nur den voll aufgedrehten Lautstärkeregler ohne Nuancen zu kennen scheint."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 05. November 2024 Europäischer Filmpreis: Eidinger und Rogowski nominiert
- 05. November 2024 Proteste gegen Sparauflagen in Dresden und Berlin
- 05. November 2024 Dresden: Erich-Ponto-Preis 2024 für Marin Blülle
- 05. November 2024 Euripides-Verse auf Papyrus entdeckt
- 05. November 2024 Kanton Bern: Freilichtspiele Moosegg enden 2026
- 04. November 2024 Schlingensief-Gastprofessur an Marta Górnicka
- 31. Oktober 2024 Neuer Verwaltungsdirektor am Theater Oberhausen
- 30. Oktober 2024 Carl-Zuckmayer-Medaille für Maria Schrader
neueste kommentare >
-
Leserkritik Von unten herab, Wiesbaden
-
Bullshit, Berlin Wir sehen nicht
-
Die Orestie, Hamburg Vielgestaltig
-
Trumpsche Regietypen Späte Antwort
-
Gittersee, Berlin Konventionen als Klischees
-
Nathan der Weise, Dresden Mehr davon!
-
Gittersee, Berlin Im Kammerspielton
-
Leserkritik Wiedergutmachungsjude, Berlin
-
Bullshit, Berlin Schön anzusehen
-
Poetik Samuel Finzi Hinter Regie-renden
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
90 Minuten lang beweist Hüller ihr Talent als ausdrucksstarke Sängerin. 26 Songs von PJ Harvey hat van Hove in vier Kapiteln thematisch verknüpft. Wandlungsfähig spielt Sandra Hüller die melancholisch Zweifelnde, die unglücklich Liebende, die sich vor Sehnsucht Verzehrende, die Wütend Aufstampfende, die mit der Welt Abrechnende.
Patrick Bahners hat sich in der FAZ die Mühe gemacht, nachzuweisen, an welchen Stellen die Texte der Songs nicht bruchlos ineinander übergehen. Die philologische Beweisführung ändert aber nichts daran, dass es van Hove/Hüller gelingt, die Stimmungen zu transportieren und das Publikum auf eine 90minütige Reise durch die Gefühlsachterbahn der Protagonistin mitzunehmen.
Sandra Hüller steht bei diesem theatralischen Konzert nicht allein auf der Bühne, sondern wird von der Compagnie (La)Horde aus Marseille begleitet, die es gewohnt sind, sich neben Diven und Göttinnen wie Madonna zu behaupten. Während im Hintergrund Videos von Christopher Ash flimmern, verstärkt das Tanz-Ensemble die Atmosphäre des jeweiligen Songs: kämpferisch mit angedeuteten Fausthieben, liebevoll ineinander verschlungen oder sich mit letzter Kraft am Boden wälzend.
Bei der Ruhrtriennale gibt es noch wenige, bereits ausverkaufte Vorstellungen in den kommenden Tagen. Aber vielleicht gibt es noch weitere Gelegenheiten: die „I want absolute beauty“-Show von PJ Harvey, (LA)Horde und Sandra Hüller wäre ein toller Auftakt für das nächste Theatertreffen.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/08/23/i-want-absolute-beauty-ruhrtriennale-kritik/
Hüller ist gesanglich stark und diesen Abend zu tragen ist eine große Leistung, aber er bringt doch keine ihrer schauspielerischen Stärken hervor. Sie wirkt etwas steif gegenüber den Tänzer_innen und performativ wird je nach Song irgendwie Richtung Intensität gestikuliert - von Leiden bis Leidenschaft.
Inszenatorisch ist der Abend freundlich gesagt einfallslos, streckenweise peinlich. Die Tänzer_innen sind sicher tolle künstler_innen, aber die Choreografie ist in der Regel eine alberne Übersetzung des Songtextes. Eine Metaebene oder ein durchgehendes Konzept sucht man vergebens, schöne Körper, in der Regel in Unterwäsche, Negligee oder oberkörperfrei gibt es stattdessen. Auf die wortwörtliche Einpflanzung eines Samens (aus dem, oh wunder, ein Baum des Lebens wachsen wird) just in dem Moment in dem wir um song davon hören folgt bald soldatisches marschieren, schießen und sterben, eine angedeutete Vergewaltigung, ohne Sinn oder Konsequenz, schnell weiter zum nächsten Song.
Wenn der Abend hängt, wird schnell ein weiterer star eingewechselt: Isabelle Huppert auf Videoleinwand wird als Großmutter angerufen und antwortet auch noch, bevor sie mit den Grabsteinen im Feld überblendet wird, zoom auf den Kussmund…das ist einfach kitschig.
Großartig sind die Musiker_innen, die diesen Abend tragen, von denen wir aber fast nichts zu sehen bekommen.
Überhaupt: eine Versammlung toller künstler_innen in einem eindrucksvollen Raum, ohne Konzept, dass sie wirklich zusammenwirken lässt, ohne den Willen den Songs von Harvey noch etwas substanzielles hinzuzufügen, sie weiterzudenken.
Das Inszenierungs-Konzept ‚Stars‘, geht dennoch auf: das Publikum und die Kritik jubelt. Seltsam.