Die Benennung der Tiere - Neues Theater Halle

Singspiel mit Klassenfrage

von Georg Kasch

Halle, 10. Mai 2019. Wenn's schon draufsteht, muss es ja stimmen: "Cetacea" (Wale) prangt auf der altmodischen Vitrine im Zentrum der Bühne. Darin: ein Mensch. Voluminös zwar und in blauer Kleidung. Aber doch ein Homo sapiens. Sein Name: Alexander. In Leon Englers Stück "Die Benennung der Tiere" liegt er schon zu Beginn in den Gleisen einer U-Bahn-Station, die hier mit in der Vitrine stecken. Und weil er so dick ist und sich selbst mit Tiernamen beschimpft, beschließen die, die ihn dort finden – Passantin Helena und U-Bahn-Wache Oskar –, dass er ein Wal sein müsse. Ist ja auch die idealere Projektionsfläche als ein dicker Loser. Während er also auf den Schienen liegt und blutet, reden um ihn herum die Schönen und Reichen, aber auch die Durchschnittsmenschen von ihren Sehnsüchten und Kümmernissen und schrammen dabei ständig am Eigentlichen vorbei: einen Menschen zu retten.

Lotz und Schmalz und Leberwurst

Skurril und ziemlich witzig ist Englers Stück, das – nach szenischen Lesungen sowohl beim Heidelberger Stückemarkt als auch beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens 2018 – nun in Halle uraufgeführt wurde. Hier prallen die großen Seinsfragen aufs Banale – Englers gefräßiger Held Alexander etwa rutscht ausgerechnet auf einer Leberwurststulle aus. Stellenweise wirkt das wie eine Mischung aus Wolfram Lotz und Ferdinand Schmalz. Engler reißt Sinnfragen und sonstige Gegenwartsthemen an wie ein ungeduldiges Kind, um sich an ironisch funkelnden Dialogen zu erfreuen.

DieBenennungderTiere2 560 Falk Wenzel uZur Hilfe, zur Hilfe! Oder auch nicht: Bettina Schneider, Till Schmidt, Alexander Pensel, Nils Thorben Bartling, Nils Andre Brünnig © Falk Wenzel 

In Halle nimmt Regisseur Ronny Jakubaschk Englers leichten Ton ernst – und macht aus "Die Benennung der Tiere" ein veritables Singspiel, das den Blick für die Klassenunterschiede schärft. Beides ist zwar schon bei Engler angelegt. Aber Ausstatterin Anna Sörensen hat die Promis, die Alexander vermeintlich zu Hilfe eilen, in Variationen des Gleichen gesteckt: rote Lockenperücken über weißen Gesichtern, Anzüge mit Dollar- und Leopardenmuster. Höchst künstliche Virgin Queens sind sie, Elon Musk (der Auto- und Raketenbauer), König Mswati III. aus Swasiland (der letzten absolutistischen Monarchie in Afrika) und Modebloggerin Chiara Ferragni. Jörg Kunze aber pumpt mit seinem sich vor großen Vorbildern verneigenden Soundtrack mit Songs von ironischer Eleganz Leichtigkeit in den Abend.

Der Wal als Hoffnung "für uns kleine Leute"

Der beginnt erst einmal erstaunlich trocken: Bettina Schneiders Helena findet Nils Thorben Bartlings verzweifelten Alexander in der Vitrine, in der tatsächlich Schienen liegen und eine Bahnsteigkante. Am Notruf-Telefon wirkt sie ernsthaft besorgt. Aber schon das Fachgespräch mit der pedantischen U-Bahn-Wache Oskar – Till Schmidt versprüht den spröden Charme eines Hausmeisters – über Tier- und Leberwurstsorten verschiebt den Diskurs ins Surreale. Wenn Schmidt dann auch noch unter Hochdruck vom Wal als der letzten Hoffnung "für uns kleine Leute" singt zwischen Zarzuela und Brecht, erreicht der Abend zum ersten Mal Betriebstemperatur.

Nach und nach kommen jetzt die potentiellen Heilsbringer hinzu, die sich allesamt als um sich selbst kreisende Würstchen entpuppen: Nils Andre Brünnings eitles Babyface (Tesla-Gründer Elon Musk) und Alexander Pensels König, ein schnöseliger Knabe, klauen dem Wal erst das Wasser, um später mit den leeren Flaschen dessen Vitrine zu bewerfen. Nora Schultes Bloggerin quietscht als aufgedrehtes Selfie-Girl herum.

DieBenennungderTiere1 560 Falk Wenzel uDie Drei, die doch nichts dran drehten: Babyface Musk, ein aufgedrehtes Selfie-Girl und ein schnöseliger Königsknabe: Nils Andre Brünnig, Nora Schulte, Alexander Pensel @ Falk Wenzel 

Es ist ihnen allen hoch anzurechnen, dass sie Karikaturen schaffen, ohne hemmungslos zu überzeichnen. Aber keine*r von ihnen kann so herrlich deprimiert auftrumpfen wie Elke Richters Elfriede Jelinek. Jelinek steckte – so will's der Text – die ganze Zeit im Chiara-Ferragni-Kostüm, weil sie auch mal ein normales Leben führen wollte. Hier verschwindet Schultes Bloggerin hinter der Vitrine und Richter kommt als Lookalike hervor, nur 30 Jahre älter. Eine müde Herrscherin, halb Schiller-Königin, halb Nobelpreisträgerin mit müde-eleganter Suada. Hinreißend, wie sie über kleine Schwänze schimpft, nach ihrer Valium kramt und überall die Phallokratie wittert. Immer, wenn sie von Sex spricht, krümmt sich Swasi III., der so gierig mit Ferragni angebandelt hatte, und klammert sich fest an den Schuh, den er von der Bloggerin behalten hat.

Später besingen die drei in goldschimmernden Barockkleidern madrigalhaft die Kartoffel, finden Helena und Oscar den Eingang zum Wal, weil sie sich von diesem Gang Rettung erhoffen wie die des biblischen Jona, hört Alexanders Herz auf zu schlagen. Das ist zugleich alles sehr komisch und sehr traurig, weil die Menschen auf der Bühne die ganze Zeit nur einen Schritt von der (Wal-)Rettung entfernt sind, sich aber mit ihrer Heilserwartung selbst im Weg stehen.

 

Die Benennung der Tiere (UA)
von Leon Engler
Regie: Ronny Jakubaschk, Bühnen und Kostümbild: Anna Sörensen, Dramaturgie: Sophie Scherer, Musik: Jörg Kunze.
Mit: Bettina Schneider, Nils Thorben Bartling, Till Schmidt, Nils Andre Brünnig, Alexander Pensel, Nora Schulte, Elke Richter.
Premiere am 10. Mai 2019
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.buehnen-halle.de

 

 

Kritikenrundschau

Ein "verrücktes, aber durchdachtes, intelligentes Stück", eine "skurrile, hintersinnige Geschichte" hat Andreas Montag erlebt, wie er in der Mitteldeutschen Zeitung (13.5.2019) schreibt. Regisseur Ronny Jakubaschk habe seine Darsteller bestens eingestimmt, Anna Sörensen fantastische Kostüme und eine ebensolche Bühne gezaubert, Jörg Kunze die Musik beigesteuert – "alles fein". Unter den Darstellenden schieße Elke Richter als Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek "den Vogel ab".

Nackt über Berlin - Henriette Hörnigk inszeniert den Roman von Axel Ranisch in der neuen Raumbühne der Oper Halle

Eine Runde geht noch

von Matthias Schmidt

Halle, 16. September 2018. Die Bühnen Halle haben in ihrem Opernhaus eine neue Raumbühne installiert – BABYLON heißt sie, und wie auch schon die preisgekrönte Vorgängerin HETEROTOPIA hat Sebastian Hannak sie entworfen. Das Theater preist sie mit feinster Formulierungsleistung; "Spuren vergangenen Zusammenlebens und verlorener Solidarität" soll sie zu rekonstruieren helfen, "Möglichkeiten neuer Gesellschaftlichkeit" entdecken. Unter anderem.

Béla Bartók, Béla Balázs / Rainer Werner Fassbinder
Regie: Thirza Bruncken
Halle - 06. Mai 2017
Dirk Laucke / Sarah Nemtsov
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Halle - 05. März 2017
Anna Kuschnarowa
Regie: Ronny Jakubaschk
Halle - 28. Mai 2016
von Florian Illies, in einer Fassung von Christoph Werner
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Halle - 12. März 2016
Fjodor Dostojewski
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Halle - 27. Februar 2016
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Halle - 03. Januar 2016
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Halle - 13. November 2015
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Halle - 30. Oktober 2015
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Halle - 29. Mai 2015
nach Klaus Mann
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Halle - 11. April 2015
Henrik Ibsen
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Halle - 14. Februar 2015
Halle - 29. Januar 2015
Halle - 15. November 2014
Halle - 27. Juni 2014
Halle - 24. Mai 2013
Halle - 05. Juli 2012
Halle - 17. Mai 2012
Halle - 22. Februar 2012
Halle - 16. September 2011
Halle - 07. Mai 2011
nach Honoré de Balzac
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Halle - 02. März 2011
Halle - 13. November 2010
Halle - 27. November 2009
Halle - 20. Juni 2009
Halle - 12. März 2009
Halle - 14. Februar 2009
Halle - 26. November 2008
Halle - 22. November 2008
Halle - 08. Oktober 2008
Halle - 27. September 2008
Halle - 27. September 2008
Halle - 14. März 2008

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