Suddenly Everywhere is Black with People - Beim Festival Projeto Brasil im Festspielhaus Hellerau Dresden färben Demolition Inc. das Publikum ein
Die Kunst des Nicht-Ausweichens
von Lukas Pohlmann
Dresden, 31. Mai 2016. Als nach einer Stunde das Saallicht aus den Zuschauern wieder mehr macht als Teile einer stehenden Menge, verschwinden die Performer durch eine Seitentür. Aber etwas von ihnen bleibt, an nahezu jedem im Saal: schwarze Farbe. Farbe, die sich von den Körpern der Akteure auf die Kleider und hellen Häute der Zuschauer übertragen hat. Die diese Markierungen nun wie faszinierende Trophäen in den Dresdner Abend tragen, Trophäen einer aufregenden Begegnung. Oder besser Berührung. Denn darauf, ganz körperlich, haben es Marcelo Evelin und seine Compagnie Demolition Inc. abgesehen.
Ha! Schwarz getünchte Performer! Die ihre Spuren auf vorwiegend weißen Theaterzuschauern hinterlassen! In Dresden! Gerade jetzt! Klingt nach Kommentar zur Lage des Freistaats, nach Abarbeiten an der bornierten, rassistischen Schmalgeistigkeit, die sich zunehmend Bahn bricht. Ha! So falsch – und irgendwie so richtig. Die Tanzperformance "Suddenly Everywhere is Black with People" ist als internationale Koproduktion entstanden und wurde bereits 2012 in Rio de Janeiro uraufgeführt. Nun zeigt sie das Festspielhaus Hellerau im Rahmen des Festivals "Projeto Brasil", das Positionen der brasilianischen Gegenwartskunst nach Europa bringt und auch in Berlin, Hamburg, Frankfurt und Düsseldorf Station macht. Aber "Suddenly Everywhere is Black with People" ist weit mehr als eine starke brasilianische Position. Wenn irgendwo die Frage nach dem Weltgehalt in der Gegenwartskunst aufkeimt, kann man getrost antworten: Hier ist er.
Temporausch – Zusammenbruch
Dabei beginnt alles so schön deutsch. Mit dem Hinweis, die Zuschauer sollten sich ob der relativen Dunkelheit im Saal nicht fürchten. Wobei da tatsächlich die Lichtstärke gemeint ist und nicht die schiere Schwärze der Performer. Denn die ist atemberaubend. Wie die ganze Vorstellung. Und die geht so: Die Hellerauer Seitenbühne, ein Raum überschaubarer Größe, ist vollständig umrahmt von hüfthoch gehängten Leuchtstoffröhren (die so weit runtergedimmt sind, dass "leuchten" schon beinahe euphemistisch ist). Stühle gibt es nicht, stattdessen die Aufforderung, sich frei im Raum zu bewegen. Doch aus der eigenen Bewegung wird zunächst abrupte Starre, denn ein Knäuel unglaublich schwarzer Gliedmaßen pulst, mit mehreren Fußpaaren stampfend, durch den Raum. Zwangsläufig entsteht eine Wechselwirkung. Die Actio ist das rhythmische Rasen nackter Körper, die Reactio baffes Staunen, Irritation und Ausweichen des Publikums. Das sich bald in diejenigen aufteilt, die die Wände des Raumes suchen oder wenigstens die größtmögliche, sichere Entfernung zu den Akteuren und diejenigen, die sehr bald voll Mut und Zutrauen potentiellen Berührungen nicht mehr ausweichen. Das sind dann die Berührungen, die abfärben.
Die Schatten der Performer*innen © Sergio Caddah
Auf den Temporausch folgt der Zusammenbruch. Mäandernde Leiber am Boden, sich langsam beruhigendes Atmen. Die Sounds rücken stärker ins Bewusstsein. Wabernde Töne auf tiefen Frequenzen. Das erinnert an U-Bahntunnel. Beklemmendes, undurchdringliches Dröhnen, dessen Vibrationen sich in der Magenkuhle einnisten. Mit der Verkleinerung des Aktionsradius der Performer wächst das Zutrauen der Zuschauer. Man schließt selbstbewusst einen Kreis um die am Boden liegenden, noch verbundenen Körper. Und man schaut. Schaut auf die am Boden, schaut in die Gesichter der Umstehenden und fühlt sich merkwürdig: Das Publikum kennt ja die Theaterverabredung. Jeder weiß, dass er hier Gaffer sein darf und soll. Das ist Teil des Spiels. Aber schwarze, am Boden liegende, zuckende Gliedmaßen wecken nun mal Assoziationen. Und das, was das innere Auge da sieht, sind nicht gerade die ruhmreichen Szenen (weißer) Zivilisationsgeschichte.
Den kleinen sächsischen Nagel auf den Kopf getroffen
Endlich rappeln sich die Spieler auf und scheinen energetischer denn je. Als eine Art Trennungsritual entwickelt sich mitten in der Menge ein Kampf. Eine Mischung aus zügellosem Pogo und Capoeira – berauschend anzusehen. Vor allem, da es keinen Sieger geben wird und die Tänzer doch wie Magnete immer wieder zueinander gezogen werden. Bis sie dann individuell den Raum durchschreiten, sich in Blicken und Berührungen einzelnen Zuschauern stellen und Momente voller Schönheit und Gemeinsamkeit entstehen lassen. Ganz abgesehen davon, dass es reizvoll ist, so unmittelbar in die erschöpften Gesichter der Performer zu blicken und an den Körpern die etwas entschwärzten Stellen zu entdecken, deren Pendant man nun selbst trägt.
So sind die, die man eine Stunde zuvor schamvoll fasziniert beschaute, weniger unbekannt und wesentlich näher. Womit der Idee genüge getan ist. Denn das Programmheft berichtet von einem Satz Elias Canettis als Ausgangspunkt für Marcelo Evelin: "Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes." Da trifft eben doch eine internationale Produktion den kleinen sächsischen Nagel auf den Kopf. Und man möchte rufen: Kommt und spielt "Suddenly Everywhere is Black with People" in jeder Schulaula und jedem Gemeindekulturhaus, das ihr finden könnt. Diese Erfahrung sollten alle machen.
Suddenly Everywhere is Black with People
Eine Marcelo Evelin / Demolition Inc. Produktion
Von/mit: Andrez Lean Ghizze, Daniel Barra, Elieson Pacheco, Hitomi Nagasu, Jell Carone, Loes Van der Pligt, Marcelo Evelin, Márcio Nonato, Regina Veloso, Rosângela Sulidade, Sérgio Caddah, Sho Takiguchi, Tamar Blom, Wilfred Loopstra, Túlio Rosa.
Dauer: eine Stunde, keine Pause
www.hellerau.org/brasilianische-alternativen
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warum ich das verbinde? Weil ich in Dresden lebe. Und weil in meiner Wahrnehmung weit mehr passiert, als Pegida-idiotische Polemik, sogar mehr als zählbare barbarische Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte und" "Andersaussehende". Mich beschäftigt, dass es normal geworden scheint, das Unbekannte (egal ob das besondere, das allgemeine oder das metaphorische) als Bedrohung zu empfinden und nicht als faszinierende, interessante Bereicherung. Ich würde mich gern eines Besseren belehren lassen. Aber aktuell erlebe ich, dass Ressentiments, Vorurteile und Überheblichkeiten in eine Maß Eingang in die Alltagsrhetorik nehmen, dass ich es schwer ertragen kann.
Vor einigen Wochen war ich zu Besuch in Berlin und überrascht, dass sonst gut informierten Freunden nicht bewusst war, dass Pegida hier in Dresden nach wie vor nahezu wöchentlich Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit eine öffentliche, bejubelte Bühne verleihen. Aber hier, in Dresden, ist das an der Tagesordnung.
Verzeihen Sie, aber ich kann gerade eine so starke Auseinandersetzung mit dem Aufeinandertreffen vermeintlich Fremder wie in "Suddenly Everywhere is Black with People", wenn sie in Dresden gezeigt wird, einfach nicht unabhängig von der sächsischen Gegenwart sehen. Dafür hat mich dieser Abend, ob er nun aus Brasilien stammt oder woher auch immer (dass das keine Rolle spielt, versuchte ich zu beschreiben), zu stark berührt und mich mit den Verhältnissen in dieser Welt beschäftigen lassen. Und zu diesen Verhältnissen gehören für mich eben gerade auch die vor meiner Haustür. Und übrigens beschreiben Sie in Ihren letzten Sätzen eine Utopie, die hier engstirniger Weise abhanden gekommen scheint: Denn ich gebe Ihnen Recht, auch in meiner Vorstellung definiert sich Zusammenleben so, "dass wir alle zunächst mal sehen und vor allem(!) wirklich kennenlernen wollen, wen oder was wir berühren" (auch im metaphorischen Sinne). Aber die Erfahrungen der Gegenwart beschreiben eher, dass sich diese Vorstellung ins Gegenteil verkehrt hat. Es ist salonfähig geworden, NICHT mehr wirklich kennenlernen zu wollen, wen oder was wir berühren. Da auch das Interesse abhanden kommt, wirklich zu berühren.
Auge in Auge postieren sich die Tänzerinnen und Tänzern vor ausgewählten Zuschauern, die sie ins Visier genommen haben. Krabbelnd und keuchend bewegen sie sich durch das Publikum, das sich in kleinen Grüppchen locker im Saal des HAU 2 verteilt hat.
Diese direkte Konfrontation des Angestarrt-Werdens bleibt als stärkster Eindruck aus der neuen Choreographie „Para que o céu não caia – For the sky not the fall“ von Lia Rodrigues im Gedächtnis.
Zum Schluss entert auch Lia Rodrigues die Bühne und hält ein flammendes Plädoyer gegen die aktuellen Zustände in Brasilien. Ihre – durchaus umstrittene – Interpretation ist: Die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff war in ihren Augen ein Putsch. Auf von den Tänzerinnen und Tänzern hochgehaltenen Plakaten wurde die Interimsregierung von Michel Temer als „illegitim“ bezeichnet. Über diese Frage wird es am 14. Juni um 20 Uhr eine Podiumsdiskussion im HAU 2 geben.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2016/06/11/angestarrt-brasilianische-tanz-choreographie-for-the-sky-not-to-fall-im-hau/