Die Abgründe der Wunscherfüllung

von Ralph Gambihler

Dresden, 20. Dezember 2007. Dass das Streben nach Absolutheiten tendenziell im absoluten Wahnsinn endet und nicht in menschlichen Verhältnissen, hat man vielleicht schon einmal gehört. Hier nun kommt ein ganzes Theaterstück zu diesem Thema. Es spielt in einem Staat, der sich Bestland nennt und seine Bürger seit 500 Jahren in einen permanenten Glückstaumel zu versetzen bestrebt ist. Das Repertoire des staatlichen Beglückungsangebots beinhaltet eine totalitäre Konsumwelt – Freude!-Schoko, Freude!-Pils, Freude!-Schrankwand –, die Gleichheit der Lebensverhältnisse bis hin zur täglichen Arbeitszeit von 6,66 Stunden und die permanente TV-Präsenz des Universalmodels Nadja Nadja.

Hinter den Wällen Bestlands
Zur Glücksproduktion in Bestland gehört außerdem die Warnung vor dem Unglück. Eine "Faire Stimme" orakelt im biblischen Ton über eine finstere Vergangenheit (die unsere Gegenwart ist). In ihr "tanzten neureiche Schlampen in Gewändern aus tausend Diamanten einen Charleston auf den Leibern der Armen und waren wie Tiere". Zwischendurch werden die Bürger mit Reklame besäuselt. Dabei geht es außer um die Vortrefflichkeit des Freude!-Sortiments auch um die Verdammung "illegaler" Waren aus dem "Aus". Die Diktion erinnert von Ferne an die "Kauft nicht beim Juden"-Sprüche der Nazis. Sie klingt aber völlig anders, weil alles durch den zuckersüßen Mund der Nationalikone Nadja Nadja verkündet wird.

Wabernde Sozialfiktion
Ausgedacht hat sich dieses Szenario die junge Dramatikerin Rebekka Kricheldorf. Sie war vor drei Jahren Hausautorin am Nationaltheater Mannheim, produziert Dramen am laufenden Band und hat auf den einschlägigen Stückemärkten schon diverse Preise gewonnen. Mit ihrer nun am Staatsschauspiel Dresden in einer Koproduktion mit dem Theaterhaus Jena uraufgeführten "Sozialfiktion" (Untertitel) greift Kricheldorf das alte Thema Heilsversprechung auf.

Es ist gewiss nicht verkehrt, dieses heftig wabernde und dampfende Stück als Versuchsanordnung zu begreifen, angesiedelt irgendwo zwischen der Kapitalismuskritik eines Michel Houellebecq und der Totalitarismuskritik eines Aldous Huxley. Primäres Versuchsobjekt in Kricheldorfs Menschenlabor ist dabei ein junger Pizzabäcker namens Don Mond (Gunnar Tietzmann). Der zieht in der staatlichen Lotterie das große Los: Ab sofort genießt er absolute Freiheit, kann nach Lust und Laune im Luxus schwelgen und darf über Menschen gebieten wie Bürokräfte über Papier. Er ist, wenn man so will, die fleischgewordene Utopie von Bestland: eine Inkarnation des totalen Glücks.

In den Abgründen von Nadja Nadja
Natürlich endet alles ziemlich böse. Der Askesetrip, auf den Don nach anfänglichen Konsumexzessen umschwenkt, führt nicht zu Weisheit, sondern in die Abgründe des eigenen Ichs. Sehr zum Frust seiner Freundin Sam (Karina Plachetka) hat sich der Freiheitsmillionär in den medialen Engel Nadja Nadja (Zoe Hutmacher) verliebt und wird zum Kettensägen-Monster, als er begreift, dass die Schöne aus dem Fernsehen endlos verfügbar ist. Denn Nadja Nadja ist ein Klon vom Klon vom Klon ...

Der Hang der Autorin zu sprachlich Speziellem und Entrücktem, ihre Lust an der intellektuellen Manieriertheit machen sich vielfach bemerkbar. Dabei kann Kricheldorf eigentlich sehr schöne, lakonische Sätze schreiben. "Denken führt selten weiter, wenn die Übung fehlt", lautet einer.

Manövriermasse mit Unterhaltungswert
Doch die Figuren in diesem süßlichen Bestiarium sind eher Manövriermasse als Menschen. Man lernt sie als geschichtslose Wesen kennen, die zwanghaft harmonisch oder zwanghaft böse sind, manchmal beides. Kontur können sie nur gewinnen, wenn sich die Darsteller etwas einfallen lassen. Das gelingt ihnen auf den kantigen und gefährlich abgründigen, weil nicht ganz zusammen geschobenen Riesenquadern von Petra Schlüter-Wilke überraschend gut.

Immerhin: Kricheldorfs schöne neue Schauerwelt widersetzt sich einer allzu glatten Lesart. Der Uraufführungs-Regisseur Markus Heinzelmann – er ist Schauspielchef am Theaterhaus Jena – hatte damit kein Problem. Er zieht sich aus der Affäre, indem er einfach am Text entlang spielen lässt, lustvoll Arrangements kreiert und die Groteske betont. Das hebt zwar nicht den Sinngehalt, dafür aber den Unterhaltungswert. Und so ist der zögerlich bis freundlich aufgenommene Abend relativ komfortabel zu überstehen.

 

Neues Glück mit totem Model
von Rebekka Kricheldorf
Uraufführung in Koproduktion mit dem Theaterhaus Jena
Regie: Markus Heinzelmann, Bühne und Kostüme: Petra Schlüter-Wilke, Musik: Vicki Schmatolla. Mit: Gunnar Titzmann, Karina Plachetka, Zoe Hutmacher, Björn Gabriel.

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

Es sei "wahrlich ein grell absurdes Szenario", das "die so fleißige wie viel beachtete Jungautorin Kricheldorf" geschrieben habe, meint Reinhard Wengierek in der Welt (3.1.2008). Die Uraufführung sehe jedoch "leider weder grell, noch rabenschwarz, sondern freudlos im lauen Licht der Regie" aus. Die "üppig wuchernde surreale Fantasie Rebekka Kricheldorfs" sei zwar "auch der Grund, weshalb alle Theaterwelt sich begeistert" auf sie stürzten, denn ihre Texte "heben sich wohltuend ab von der gespreizt sozialpolitischen Klein-Klein-O-weh!-Dramatik so mancher Kollegen". Sie würden aber auch "in ihrer ausgetüftelten Entrücktheit, ihrer zuweilen maßlosen Konstruiertheit zuweilen zum Sperrigen" neigen, "und da walzt eine den Text simpel nachbuchstabierende Lesart wie jetzt in Dresden alles Furiose, alles Anspielungsreiche platt, das im jüngsten Kricheldorf-Opus vom Glück mit dem toten Model steckt". Die Inszenierung mache aus dem Text eine "allzu banale" und "bloß nett groteske" und "letztlich übel thesenhafte Bühnenrealität".

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