Tote Kinder, verwaiste Eltern

15. Mai 2023. 563 Gedichte schrieb Friedrich Rückert 1834 nach dem Tod zweier seiner Kinder. Einige davon hat Gustav Mahler 1904 vertont. Nun unternimmt Konstanze Kappenstein eine Recherche zu den Kindertotenliedern. Das Projekt basiert auch auf Gesprächen und Interviews in einem Leipziger Kinderhospiz.

Von Tobias Prüwer

"563 - Eine Recherche zu den "Kindertotenliedern" von Friedrich Rückert und Gustav Mahler" am Schauspiel Leipzig © Rolf Arnold

15. Mai 2023. "Ich werde gefragt, wie ich die professionelle Distanz schaffe. Ich nenne es professionelle Nähe." Wie die zitierte Trauerbegleiterin agierte Gustav Mahler, als er die "Kindertotenlieder" komponierte und damit die Trauerarbeit eines Fremden unmittelbar spürbar machte. Das Rechercheprojekt "563" greift dieses Motiv am Schauspiel Leipzig im Rahmen des Mahler-Festivals auf. Mit diesem und Mahlers Musik hat Konstanze Kappensteins ergreifender Theaterabend direkt wenig zu tun – aber der Rezensent schreibt ja nicht für die Allgemeine Musikzeitung.

Das Unbegreifbare 

"Einen Mann, der seine Frau verloren hat, nennt man Witwe. Wie aber nennt man Eltern, die ihre Kinder verloren haben?" Schon die ersten Sätze gehen zur Sache. Die vier Spielenden stehen vorm geschlossenen Eisernen und umreißen mit der Frage ans Publikum das Unfassbare. Wie gehen Eltern mit dem Tod derer um, die sie eigentlich überleben sollten?

Das Vorhang hebt sich ein Kinderchor in Pastell erscheint sowie ein stilisiertes Eigenheim. Zwischen Gedicht und Gesang schieben sich Berichte von Trauerarbeit, illustriert von Bildern körperlicher Verzweiflungstaten. Diese stammen aus Gesprächen, die das Schauspielteam im Leipziger Kinderhospiz Bärenherz sammelte. Oft ist vom Abrupten, dem plötzlichen Tod zu hören.

Gustav Mahlers "Kindertotenlieder" haftet etwas Tragisches an, das man den akzeptierten und vorausgeahnten Tod nennen kann. Als der Komponist diese fünf aus 563 Texten von Friedrich Rückert, der damit den Tod zweier seiner Kinder verarbeite, heraussuchte und vertonte, stieß er auf das Unverständnis seiner Frau Alma: "Ich kann es wohl begreifen, dass man so furchtbare Texte komponiert, wenn man keine Kinder hat, oder wenn man Kinder verloren hat. Ich kann es aber nicht verstehen, dass man den Tod von Kindern besingen kann, wenn man sie eine halbe Stunde vorher, heiter und gesund, geherzt und geküsst hat!"

Spuren des Verlöschens

Drei Jahre nachdem Mahler die Musik schrieb, starb seine vierjährige Tochter. So erscheint seine Komposition aus der Rückschau wie das Vorausahnen, aber auch akzeptieren des Unausweichlichen. Zumindest wird das immer wieder so gedeutet und Alma Mahler sah sie als schlechtes Omen an. Im vierten Lied erklingt die Musik geradezu friedlich, weich und fast wie ein Belcanto zu diesem Text: "Oh sei nicht bang, der Tag ist schön! / Sie machen nur den Gang zu jenen Höh’n! / Sie sind uns nur vorausgegangen". Quasi vorweggenommen ist damit der Tod und angenommen.

563 1 Rolf Arnold uIm skelettierten Haus: Anne Cathrin Buhtz, Mitglieder des Kinderchores Leipzig, Philip Frischkorn © Rolf Arnold

Wie den Tod des Kindes annehmen? Aus den Berichten klingt vor allem das Unvermögen, das zu können. Die O-Töne sprechen die Spielenden abwechselnd vorm oder im skelettierten Haus, dem blassen Relikt des einst trauten Heims. Zwischendurch sind sie dabei zu sehen, wie sie Zettel – Vermisstenanzeigen? – aufhängen, ziellos umher rennen, zögern, ein Zimmer zu betreten, brechen zusammen. Routinen des Versuchs, die Leere zu ertragen, zu bewältigen. Livemusik aus dem Off und vom Klavier auf der Bühne unterstreicht das, der Kinderchor singt und summt begleitend – ihre Kostüme in Pastellfarben sind selbst Spuren des Verlöschens.

"Und stirbst im Herzen nicht ..."

Johanna Ihrig singt einmal zusammen mit einer getragenen Männerstimme aus der Konserve, vielleicht das größte Zugeständnis an das Mahler-Festival Leipzig. Ihre klare, von allem Schwulst freie Stimme nimmt dem Text jede Ausflucht der Romantisierung.

Wenn Schauspieler Thomas Braungardt ein Gedicht Rückerts wie im Loop spricht und dabei immer eindringlicher wird, erreicht der Abend seinen intensivsten Moment: "Wo ich auch nach dir frage, / Find' ich von dir Bericht, / Du lebst in meiner Klage / Und stirbst im Herzen nicht." Er hebt seine Stimme, lauter werden auch das begleitende Summen von Chor und das Klavier. Die Scheinwerfer gleiten zu Boden: leere Verzweiflung spricht aus der Szene.

Ewigkeitsmusik

Diese Porträts der Trauerarbeit rühren zu Tränen. Sie transportieren schwer Fassbares auf sehr emotionaler Ebene und sind, wenn man so will, auch ein Spiegel der Trauerarbeit Friedrich Rückerts – und der späteren von Mahler. Damit rücken sie als Menschen, nicht Genies in den Blick. Professionelle Nähe.

In seiner 9. Symphonie bestätigt Mahler musikalisch den Trost durch Akzeptanz, wenn er kurz vorm Verklingen der Musik noch einmal jenes Schlussmotiv der "Kindertotenlieder" bedient: "Oft denk‘ ich, sie sind nur ausgegangen." Seine letzte Spielanleitung dazu lautet "ersterbend" – "Ewigkeitsmusik" nannte die Musikjournalistin Renate Ulm diesen Schluss, das Verstummen für immer. Der Leipziger Abend erstirbt mit eben diesen Zeilen, während Bühnenarbeiter das Kulissenhaus endgültig demontieren.

563
Eine Recherche zu Friedrich Rückerts und Gustav Mahlers "Kindertotenlieder"
Regie: Konstanze Kappenstein, Bühne: Franz Dittrich, Kostüme: Carolin Schmelz, Musikalische Leitung: Philip Frischkorn, Leitung Gewandhaus-Kinderchor: Frank-Steffen Elster, Musikalische Einstudierung: Franziska Kuba, Dramaturgie: Benjamin Große., Klavier: Philip Frischkorn, Live-Elektronik: Philipp Rumsch.
Mit: Julia Berke, Thomas Braungardt, Anne Cathrin Buhtz, Johanna Ihrig, Mitglieder des Gewandhaus-Kinderchor Leipzig
Premiere am 14. Mai 2023
Dauer 1 Stunde, 15 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de


Kritikenrundschau

Am Umgang der Regisseurin Konstanze Kappenstein mit dem Werk "Kindertotenlieder" wird für Peter Korfmeier von der Leipziger Volkszeitung (16.5.2023) ein grundsätzliches Problem dieses Theaters deutlich: "Es behauptet, alten Meisterwerken zu zeitgemäßer Relevanz zu verhelfen - dekonstruiert sie dabei aber als Kunstwerk so vollständig, dass sie tatsächlich nicht mehr zeitgemäß erscheinen oder relevant." Dabei ist sowohl Rückert also auch Mahler aus Sicht des Kritikers gelungen, "jedem für sich und beiden zusammen, woran der Theaterabend mit dem verräterisch sperrigen Titel wortreich scheitert: Sie machten das Unsagbare sagbar, fühlbar, erleb- und erleidbar. Unerträglich und doch auch tröstlich, weil sublimiert." Davon könne aber nun nicht die Rede sein. "An die Nieren geht die Produktion dennoch. So sehr, dass der ausführliche Applaus am Ende zwar befreiend wirkt, aber auch mehr als nur ein wenig deplatziert."

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