Der Herzerlfresser - Ferdinand Schmalz' neues Stück am Schauspiel Leipzig radikal künstlich uraufgeführt
Unterm Pflaster schlägt das Herz
von Michael Isenberg
Leipzig, 20. November 2015. Aus dem österreichischen Kindberg in der Steiermark stammt der Frauenmörder Paul Reininger, besser bekannt als "Herzerlfresser", soll er doch Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur sechs Frauen getötet, sondern obendrein ihre Herzen verspeist haben, um – einem alten Aberglauben nach – unsichtbar zu werden. Heute erinnert noch der nahegelegene "Herzlfresserweg" an die grausige Begebenheit, während die Einkaufsstadt Kindberg in Imagefilmen damit wirbt, durch die Verlockungen des Konsums selbst hart gesottene Hinterwäldler zum mondänen Lebensstil verführen zu können.
Der Shootingstar der neuen Autorenszene, der 1985 in Graz geborene Ferdinand Schmalz, greift diese Vorlage auf, ersetzt die Gebirgsregion durch eine namenlose Moorlandschaft und die Konsumoasen durch ein billiges Shoppingcenter, Spielball von Investoren und Politik, bis eine neue Mordserie den gerade erst erschlossenen Wirtschaftsstandort zu gefährden droht.
Literarische Nahrungskette
Schmalz, dessen Arbeiten in einer Art Running Gag die Möglichkeiten der literarischen Nahrungsaufnahme umkreisen (Am Beispiel der Butter, Dosenfleisch – auch der Name "Schmalz" ist ein augenzwinkerndes Kunstprodukt), widmet sich in seinem neuesten Stück, einer Auftragsarbeit des Schauspiels Leipzig, ganz den kulinarischen Erlebnissen am offenen Herzen. Da rutschen – metaphorisch – Herzen in die Hose, werden auf dem Tablett serviert, gebrochen, gestohlen und verloren.
Immer wieder dringt in das Alltagsleben der Protagonisten, das sich zwischen Arbeit, Shopping, Fußpflege und Fest abspielt, so etwas wie Liebe, Aberglauben und Tod – "ein rest irrlicht über dem moor". Diskurse im Kalauergewitter (wie bei Jelinek), Situationen des kritischen Volkstheaters (Fleißer und Horváth) und die Derbheit "metaphysischen Bodenturnens" (Schwab) kombiniert Schmalz dabei zu einer ganz eigenen und eigenwilligen Sprache zwischen schonungslosem Realismus und radikaler Künstlichkeit.
Trash-Horror in Hochform
Der Uraufführungsregisseur Gordon Kämmerer, der mit seiner durchgedrehten Inszenierung Das Tierreich (Nolte Decar) zum diesjährigen Festival Radikal Jung eingeladen wurde, setzt ganz auf diese Künstlichkeit und steigert sie noch bis ins Exaltierte: In einem Raum aus Neonlicht, Plastikboden, Fototapete, Holzverschlag und viel, viel Bodennebel (Bühne: Jana Wassong), chargieren die fünf Hauptakteure um die Wette, in zotteligen Kostümen mit "Kunstarsch" (Kostüm: Josa David Marx), an weltfremde Yetis oder – wirft man einen Blick ins Programmheft – die pragmatisch liebenden Bonobo-Affen erinnernd: "alles im leben von dem bonobo kann als ein anlass für die paarung herhalten. um streit zu schlichten, sich zu entschuldigen, manchmal auch nur um sich zu grüßen."
Kämmerer lässt seine Spieler*innen den Abend über zu schweißtreibender Hochform auflaufen. Statt gediegenem Grusel in Mooroptik bedient er sich dafür bei sämtlichen Klischees des Trash-Horrors, betont rotzig in Szene gesetzt: Gedärme werden gegessen, Stromschläge ausgeteilt, ein Massaker veranstaltet, Knochen gebrochen, mit den Augen um die Wette gerollt und aus dunkler Kehle gelacht. Bei diesem Parforceritt durch die Pop-Kultur reiht sich – wie auch schon in Schmalz' Text – Zitat an Zitat, von Alfred Jodokus Kwak bis Star Wars ist auf der Bühne alles möglich. Warum genau? Egal. Weiter. Und drüber dröhnt bedrohlich der Schlag der Herzpumpe.
Wie im dauerbeschallten Supermarkt
In den rund anderthalb rasanten Stunden gibt es nur wenig Zeit zum Luftholen. Kalauer folgt auf Kalauer, und die Ideen überholen sich. Der Abend ist wie ein Hochgeschwindigkeitsrennen in einem Einkaufswagen durch einen dauerbeschallten, bunten Supermarkt. Einzig den Monologen der Figur Herbert, der sich gegen Ende – Achtung Spoiler – als moderner Herzerlfresser entpuppt, wird die nötige Ruhe zugestanden, um sich voll entfalten zu können. In seinen Reflexionen zeigen die Fundamente des hysterischen Treibens der Alltagsmenschen Risse, seine grausam schonungslose Idee von Liebe lockt und zieht hinab wie das Moor: "was ich biete, ist ein versprechen, ein versprechen einer berührung, die keine trennung kennt." Kundenbindung einmal anders.
Dennoch bleibt am Ende des Abends ein schaler Geschmack auf der Zunge. Nur in wenigen Momenten gelingt es Kämmerer und seinem Ensemble dem Text und seinen Figuren wahre Tiefe zu verleihen. Die Vielschichtigkeit des Stückes wird reduziert zugunsten des plakativen Effekts, aus geistreicher Komik werden Gags, aus Szenen Spielanlässe. So ist die Schlusspointe zweideutig zu verstehen: "ich krieg grad einen riesen hunger" - "auf was hast lust?" - "was herzhaftes."
Der Herzerlfresser
von Ferdinand Schmalz
Uraufführung
Regie: Gordon Kämmerer, Bühne: Jana Wassong, Kostüme: Josa David Marx, Musik: Max Thommes, Dramaturgie: Esther Holland-Merten.
Mit: Felix Axel Preißler, Runa Pernoda Schaefer, Florian Steffens, Max Thommes, Michael Pempelforth.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-leipzig.de
Das Leipziger Schauspielhaus unter Enrico Lübbe habe sich wie keine andere Bühne "als Autorentheater hervorgetan", konstatiert Bernhard Doppler auf Deutschlandradio Kultur (online 22.11.2015). Gleichzeitig setze das Haus "aber auch auf selbstbewusstes eigenständiges Regietheater. Nicht immer geht das gut aus." Gordon Kämmerers "trashige manierierte Stilisierung" von Schmalz' Volksstück ermüde. Zwar spiele Schmalz "medizinisch, philosophisch und kulinarisch (...) sehr bravourös mit Worten, so dass sich plötzlich auch existentielle Abgründe öffnen", doch "die musikalische Qualität des Textes" scheine "durch die Affenakrobatik" der Inszenierung "verkauft" und komme "wenig zum Blühen".
Ferdinand Schmalz statte "seine Figuren mal mit schnurgeraden Sätzen aus, dann aber auch mit poetischen, verschlungenen Wortpfaden", schreibt Ute Grundmann bei der Online-Ausgabe der Deutschen Bühne (23.11.2015). Regisseur Gordon Kämmerer halte sich in seiner "rasanten wie nachdenklichen" Inszenierung "auf dem schmalen Grat zwischen Irrsinn und Methode". In "all dem Trubel" der Aufführung blieben "die Gedanken und Ängste präsent, die Verwunderung, dass aus dem Loch, in das wir das Essen stopfen, auch die Sprache kommt. Dass man, egal wie, doch nicht allein ist in der Welt."
Ferdinand Schmalz sei "so etwas wie der neue Werner Schwab", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (27.11.2015), und der "Herzerlfresser" sei eine seiner "wundersamen, sprachlich gewitzten und philosophisch gewürzten Radikal(tragi)komödien". Regisseur Gordon Kämmerer habe aber bei der Uraufführung "ungeheuer aufgedreht, wie von der eigenen Witzigkeit berauscht, auf die Einfallspauke" gehauen. "Schade, dass man diesen Jungregisseur so unbedarft ungestüm über den 'Herzerlfresser' hat herfallen lassen, ist das Stück, geschrieben in einem so spinösen wie maliziösen Kunstdialekt, doch eine echte Preziose." Herausgekommen sei unter Kämmerers Regie: "präpotentes Zombietheater".
Schmalz überblende den Grusel der Sagen-Vorlage mit allerlei humorigen Skurrilitäten einer Provinzposse und komme doch immer wieder auf den düsteren Kern der Sache zurück, schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.12.2015) in seiner Doppelrezension über Kämmerers Inszenierung als auch der von Ronny Jakubaschk in der Box des Deutschen Theater Berlin. Die Leipziger Uraufführung des Jungregisseurs Gordon Kämmerer klammere alle sprachliche Eigenheit und befremdliche Stimmung des Textes aus und präsentiere stattdessen mit Hilfe von Nebelmaschinen, Stroboskoplichtgewitter und Affenkostümen eine verspielte Rocky-Horror-Comedy-Show, und doch "wird es auf einmal still und schneidend, wenn Herbert (Felix Preißler) tonlos von der Zerbrochenheit der Welt erzählt".
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Die nächste Premiere in Dresden ist nicht "Drei Männer im Schnee". Zuerst inszeniert Volker Lösch "Graf Öderland/Wir sind das Volk" von Max Frisch (plus Texte von Dresdner Bürgern).
Dann findet die Bürgerbühnenpremiere "Morgenland" statt, bei der Geflüchtete auf der Bühne stehen.
Das "Montagscafé" wiederum ist etwas ganz anderes, nämlich eine Begegnungsstätte von Dresdnern und Refugees, das hat weder mit Lösch noch mit der Bürgerbühne was zu tun.
Wir töten Frauen (naturgemäß töten Frauen auch Männer)
und verspeisen ihre Herzen und Herzerl, damit wir für sie
u n s i c h t b a r, und daher nicht mehr angreifboar sind.
Vielleicht is es in Deutschlaond draussn ganz aonders -
in Österreich is es oba so! (des is die Schattenseitn von dem
österreichischn Scharm und süßn Schmarrn). - Gewiss ein uralter
Aberglaube. . .(der Aberglaube wird im aollgemeinen Sprachgebrauch
ja mit Un-Vernunft und Unwissenschschaoftlichkeit gleichgesetzt
und gleich-gewetzt). - Dieses weitverbreitete gegenseitige
"Herzerl-Fressen" ist jao auch reine Unvernunft. Es ist nichts
Aonderes als ein Volksglaube (nach meinen Beobachtungen).
Dieser "Volksglaube" wird oft synonym zum pejorativ besetzten
Begriff Aberglauben verwendet, also auf als h e i d n i s c h
oder okkult empfundene Überzeugungen und Haondlungen bezogen. -
Un das, waos des Stück vom Schmalz als das Volk(und Folk) zumaol
in Bezug auf die außer- und ÜBERnatürliche Welt
für w a h r hält(sagt Euch eindringlich Euer Herzerlfresserchen
und hartgesottener Hinterwäldler Fraonz . . .)
Zum Stück: Noch nicht gesehen, aber die öffentliche Probe gab einen schönen Einblick in die Inszenierung sowie in die Arbeit Kämmereres. Bin gespannt. Auch wenn ich das Gefühl nicht los werde, dass Lübbe die Stücklaufzeiten immer mehr drücken will.. wahrscheinlich spart er einiges ein wenn er kein Personal für die Pausen braucht.