Siegen ohne Hoffnung

26. August 2024. Der Autor-Regisseur Guillermo Calderón hat schon öfter im deutschsprachigen Raum gearbeitet. Sein Stück "Vaca" hat er aber nun aus der chilenischen Heimar zum Kunstfest Weimar mitgebracht. Zu erleben war eine Polit-Groteske über die Katastrophen des Alltags und den Kampf ums Überleben in einer autoritären Gesellschaft.

Von Michael Laages 

"Vaca" von Guillermo Calderón beim Kunstfest Weimar © Andreues Eyzaguirre

26. August 2024. Die Kuh muss vom Eis. Genauer: sie muss vergraben werden, so tief wie möglich; niemand darf sie finden. Patricia, kurz: Paty, hatte sie in Pflege gegeben bei Freundin Fresia und deren Partner Osvaldo, die als Pizza-Boten überleben in einer großen Stadt, womöglich Santiago de Chile … aber der Ort ist nicht wichtig. Grandios grotesk ist die Konstellation in jedem gesellschaftlichen Detail – zu Beginn wird die Kuh, eine "Vaca" (so heißt sie auf Spanisch und Portugiesisch), im Hinterhof quasi "geparkt"; und um sie herum entwickelt sich ein Pandämonium aus alltäglichem Schrecken jenseits aller Vernunft und Menschlichkeit. 

Guillermo Calderón, einer der herausragenden Theatermacher aus Chile, erzählt diese ziemlich schräge Geschichte; er hat auch schon Projekte für Stadttheater im deutschsprachigen Raum geschrieben und oft auch selber inszeniert, zum Beispiel in Basel oder am Münchner Residenztheater; und immer nahm er den Wahnsinn des Alltags in politisch prekären Verhältnissen ins Visier. Jetzt, beim Kunstfest in Weimar, ist das Gastspiel von Calderóns chilenischer "Vaca"-Produktion Teil der Reihe "Die Kunst, viele zu bleiben", mit der der Fonds Darstellende Künste den Widerstand gegen den politischen Rechtsruck im Lande stärken und verstetigen will kurz vor den Landtags-Wahlen.

Theater-Telenovela mit irrwitzigen Wendungen

Offenkundig ist die Kuh, die Paty dem Paar der Pizza-Boten überlässt, von Beginn an krank; und die Menschen machen alles falsch: geben der Kuh zum Beispiel einen Namen: "da Silva", nach einer brasilianische "Telenovela", die sie gerade gesehen haben und die von der historischen Widerständlerin Xica da Silva handelte. Aber auch der Metzger, dem sie die Kuh verkaufen wollen, heißt "da Silva" – er wird zum Teil des wild durcheinander wuchernden Personalgeflechts, das sich von nun an mit der Kuh befassen wird; und er nimmt ein besonders groteskes Ende: Fresia und Osvaldo lassen erst ihn in das vier Meter tiefe Loch stürzen, in dem die tote Kuh vergraben werden soll, und werfen dann deren Kadaver hinterdrein. So erschlägt da Silva da Silva, die Kuh den Schlachter. Ulkig. 

Auch eine ziemlich gefährlich anmutende Bande von kleinkriminellen Reggae-Musikern streitet um das Geld, das die Kuh mal wert gewesen ist, und irgendwann greift dann auch die Killertruppe von der Militärpolizei ein – sie exekutiert erst die Bande und vernichtet danach auch das Haus von Fresia und Osvaldo, mit dem Pizza-Paar drin. 

Vaca1 Andreues Eyzaguirre Fundaciuen Teatro a MilanCamila Brito in "Vaca" © Andreues Eyzaguirre, Fundaciuen Teatro a Milan

Mittlerweile war allerdings die zeitweilig wie vom Erdboden verschwundene Paty wieder zurückgekehrt und hatte sich als letzte Nachfahrin eines südamerikanischen Zweiges vorzeitlicher Neandertaler-Kulturen zu erkennen gegeben, die allerdings das Wissen um diese kulturhistorische Welt-Sensation bereits an eine chinesische Universität verkauft hatte … auf derart verzweigten Umwegen deckt Calderón irgendwann im Laufe der überaus wirr verschachtelten 90 Theater-Minuten auch die Vor-Geschichte der Kuh auf – denn wie kam sie überhaupt in Patys Besitz?

Politische Pointe

Wer jemals im Leben für längere Zeit einer echten brasilianischen "Telenovela" ausgesetzt war, ist ein wenig vertraut mit der irrwitzig absurden Dramaturgie aus undurchschaubar in- und miteinander verstrickten Handlungssträngen, wie Calderón sie rund um die arme tote Kuh ausbreitet. Tatsächlich behauptet er ja auch noch, dass all dies Teil vom Program der "Kultur-Television" sei, einem virtuellen Fernsehkanal, dem, der auch (wie wir zu Beginn erfahren haben) "Xica da Silva" gezeigt hat. Immer wieder unterbrechen die Mitglieder von Calderóns Schauspiel-Trio die Vorstellung mit "Stationsansagen"; und auch die Musik von Ximena Sánchez könnte ganz gut zu einem Fernsehsender passen. 

Im furiosen Finale nimmt die krude Fabel noch eine völlig unerwartete und ziemlich radikal-politische Wendung – denn hinter der chinesischen Universität, die zukünftig das Wissen um die (angebliche) südamerikanische Linie der Neandertalerin Paty ausbeuten wird, verbirgt sich die "Rote Armee Vietnam", die immer weiter kämpfen wird, auch im Augenblick der fürchterlichsten Niederlagen – ohne jede Hoffnung, aber siegesgewiss. Sollen wir doch weiter vor der Glotze hocken und uns betäuben lassen – diese Rote Armee wird siegen.

Absichtsvoll statische Inszenierung

Wer sich viel Mühe gibt und den Übertiteln zur spanischsprachigen Aufführung folgt, kann sich über die wirklich phantastisch wirre Fabel freuen; die szenischen Vorgänge halten allerdings nicht Schritt. Im Gegenteil – Calderón hat sie absichtsvoll statisch wie eine Talkshow inszeniert; wir sind halt ausweglos gefangen im Fernsehprogramm. Aber alles bleibt ohne jenen optischen wie darstellerischen Reichtum, der noch die schlimmeren Telenovelas in Brasilien auszeichnet … diese Inszenierung bleibt ganz auf die Vielfalt der Motive in der Fabel konzentriert. Und zu sehen bleibt zwischen den Talkshow-Sesseln mit Darsteller und Darstellerinnen drin (die fleißig die Perücken wechseln) nur ein riesiger, mit Planen abgedeckter Klumpen – das könnte die tote Kuh sein, wird aber schließlich als Motorrad des Pizza-Teams kenntlich.

Die Aufführung reist jetzt weiter nach Groningen; und es wäre wirklich schön, "Vaca" gemeinsam mit mehr Chileninnen und Chilenen zu erleben; oder zumindest mit mehr Spanisch sprechendem Publikum. Denn Calderóns Geschichte von der Kuh ist ziemlich komisch; und verzweifeltes Lachen bekäme der Fabel sehr gut: ohne Hoffnung, aber siegesgewiss.

Vaca
von Guillermo Calderón
Buch und Regie: Guillermo Calderón, Gesamtgestaltung: Manuela Mege, Komposition: Ximena Sánchez, Künstlerische Produktion: Maria Paz González, Regieassistenz: Ximena Sánchez.
Mit: Luis Cerda, Camila Brito, Francisca Lewin.
Koproduktion: Fundación Teatro a Mil, ArtsEmerson
Kooperation: Goethe-Institut, Noorderzon, Grand Theatre Groningen
Premiere am 26. August 2024 beim Kunstfest Weimar
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.kunstfest-weimar.de

 

Kritikenrundschau

Die "aberwitzige Seifenoperette" von Guillermo Calderón nimmt "die allzu seichte Spielart südamerikanischen Kulturfernsehens aufs Korn", schreibt Wolfgang Hirsch in der Thüringer Allgemeinen Zeitung (27.8.2024). Der Korrespondent berichtet von "Wunderlichkeiten in dem qua Anlage handlungsarmen, statischen Stück, das bald Dimensionen des Absurden gewinnt".

Ein "Drama, das keine Hoffnung verbreiten möchte", sah Eva-Christina Meier von der taz (28.8.2024) in Weimar. Guillermo Calderón verstehe es, "die Inszenierung durch eigenwillige Metaphern und weitreichende Bezüge vor einer allzu naheliegenden Abbildung der Verhältnisse zu bewahren. Er verleiht ihr dadurch eine allgemeingültigere Bedeutung weit über die Grenzen Lateinamerikas hinaus".

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