Alice verschwindet - Landestheater Linz
Alle schauen irgendwie nach unten
5. Dezember 2022. Seit 2004 schreibt das Landestheater Linz im Zweijahres-Rhythmus ein Thomas-Bernhard-Stipendium aus. 2021/22 ging es an Selma Matter und Marie Lucienne Verse für das gemeinsame Theaterstück "Alice verschwindet", das lose Fäden der Carroll'schen Alice aufnimmt. Jetzt hat Valerie Voigt die Uraufführung des Stücks inszeniert.
Von Reinhard Kriechbaum
5. Dezember 2022. Warum hat Alice einst gar so genau die Gewänder ihrer Töchter inspiziert, nach Löchern und fehlerhaften Stellen gesucht? Warum ist sie immer und immer wieder abends mit Kleidungsstücken zur Schneiderin gefahren? Die Frau war – so bildhaft formuliert es jetzt eine der Töchter – auf der Suche "nach einem Riss, durch den sie durchschlüpfen" konnte. Ihre sexuelle Orientierung hat sie nie frei leben können. Mit der Schneiderin hat Alice eine lange lesbische Beziehung verbunden, und diese Nähe besteht auch jetzt noch, da die Wohnung aufgelöst und Alice im Altersheim ist.
Präzise Sprache, kontrollierte Emotion
Von dort ist Alice nun also verschwunden. Sie ist einfach getürmt. Die Nachricht kommt per SMS. Damit setzt der Text des Schreib-Kollektivs Matter*Verse ein, die erste Arbeit der beiden für die Bühne. Aus dem Treffen der drei Töchter, bei dem eigentlich nur die nötigen Schritte zu besprechen gewesen wären, um Alice irgendwo aufzustöbern, wird eine Familien-Exploration. In jeder der drei jungen Frauen kommen Erinnerungen hoch, werden verknüpft zu einem Flechtwerk aus gemeinsamen Erfahrungen.
Offenbar haben die Schwestern vieles so noch nie untereinander ausgesprochen. Von den ersten Sätzen an ist klar: So, wie die Mutter gefangen war in gesellschaftlichen Konventionen und inneren Zwängen, haben sich auch in der folgenden Generation Mauern aus Schweigen aufgebaut. Das Offensichtliche auszudrücken, zu bewerten, auch nur nüchtern zu benennen fällt immens schwer. Lauernd umkreisen die Töchter einander, tastend nach den Ansichten der anderen.
Selma Matter und Marie Lucienne Verse verkaufen in diesem Text alte Hüte der Psychologie, doch die sitzen passgenau auch auf jungen Köpfen. Das rechtfertigt das Unternehmen. Der Text ist dramaturgisch stringent gebaut, verlangt nach präziser Sprache und kontrollierter Emotion. Das lösen Gunda Schanderer, Lorena Emmi Mayer und Nataya Sam auf der Studiobühne des Linzer Landestheaters bestens ein. Das Kammerspiel braucht auch die unmittelbare Nähe zum Publikum.
Es gibt keine Tür mehr für ein Gespräch
Regisseurin Valerie Voigt hat sich von Thomas Garvie einen Quader bauen lassen mit transparenten Wänden. Dort drinnen ist Alice gefangen – die Tänzerin Andressa Miyazato mit wasserstoffblonder Perücke und maskenhaft geschminktem Gesicht. Am Beginn wird sie von blauen Bändern rundum gehalten, an jeder freien Bewegung im ohnedies kleinen Raum gehindert. Diese Fesseln müssen erst abgerissen werden, aber auch dann wird Alice in ihrem Gefängnis verharren, wird sie sich nur körpersprachlich äußern. Sie bleibt eine Existenz ohne Worte. Die Töchter umschleichen das Seelen-Verlies ihrer Mutter.
Freilich kommen die Jungen gelegentlich auf Besuch, steigen ein in den abgeschlossenen Seelen-Quader, aber das bleiben choreographische Kürzest-Episoden. Es ist eben zu lange geschwiegen worden, da ist keine Tür mehr zu einem Gespräch. Alice ist nicht erst jetzt verschwunden, sie und ihre Töchter sind einander schon in deren Kindertagen abhanden gekommen, weil das Offensichtliche eben nicht benannt wurde, nicht hat benannt werden dürfen. "Alle schauen irgendwie nach unten", heißt es einmal.
Die Töchter kennen nicht mal ihren Namen
Der Körpersprache, dem Tanz kommt ein entsprechend hoher Stellenwert zu in dieser Inszenierung. Am Ende wird Alice herausgeholt, eigentlich herausgezwungen aus ihrem Seelenverlies. Es kommt zu einem Anflug von Nähe – und doch machen sich die vier Frauen zuletzt jede in eine andere Richtung davon. Das Schweigen zwischen den Generationen ist nicht zu brechen.
Und die Schneiderin? Die ist nicht Thema in diesem Stück. Die Töchter kennen nicht mal ihren Namen. Die Begegnungen, von denen sie erzählen, blieben steif und wurden rasch beendet. Auch der unterdessen verstorbene Ehemann von Alice hat natürlich etwas bemerkt. "Er hat es gewusst, aber nur die eine Gehirnhälfte", sagt eine der Töchter, womit das Thema Vater auch schon wieder abgehakt ist. Es durfte nicht sein, was doch jeder sah.
Alice verschwindet
von Selma Matter und Marie Lucienne Verse
Regie, Choreografie: Valerie Voigt, Bühne und Kostüme: Thomas Garvie, Musik: Veronika König aka Farce, Dramaturgie: Wiebke Melle.
Mit: Gunda Schanderer, Lorena Emmi Mayer, Nataya Sam, Andressa Miyazato.
Uraufführung am 4. Dezember 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.landestheater-linz.at
Kritikenrundschau
"Am Ende erzählt 'Alice verschwindet' mehr über die akribischen Mama-Beobachterinnen als über die Seniorin selbst. Ein Blickwinkel, der dazu anregt, eindimensionale Mutter-Bilder zu hinterfragen, die sich in Fürsorge und Häuslichkeit erschöpfen", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (5.12.2022).
"Die Sprache der drei Schwestern ist behutsam gewählt, Erinnerungen werden nicht in genauer zeitlicher Abfolge im Chor in Halbsätzen skandiert. Dazu passend mit eben solcher Sorgfalt gewählt: Sprachrhythmus, Mimik, Gebärde und Bewegung", schreibt Gerlinde Rohrhofer im Oberösterreichischen Volksblatt (6.12.2022). "Den Schauspielerinnen Gunda Schanderer, Lorena Emmi Mayer und Nataya Sam werden Spitzenleistungen abverlangt."
"Die Sprache ist poetisch, immer exakt, teils stakkatoartig, teils chorisch, oft wortwitzig und humorvoll", schreibt Herbert Schorn von den OÖ Nachrichten (6.12.2022). Sein Fazit: "Vielschichtiges und trotzdem kurzweiliges Stück in poetischer Sprache, behutsam inszeniert und intensiv gespielt."
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