Ein Glücksfall

3. August 2024. Ja, es gibt noch das große sinnliche Theater. Aber nicht im Schauspiel, sondern in der Oper. Regisseur Krzysztof Warlikowski triumphiert mit Mieczysław Weinbergs "Der Idiot" bei den Salzburger Festspielen.

Von Thomas Rothschild

"Der Idiot" bei den Salzburger Festspielen © Bernd Uhlig

3. August 2024. Das kompositorische Werk von Mieczysław Weinberg (1919-1996), der vor den Nationalsozialisten aus Polen in die Sowjetunion flüchten musste, hat seit seiner späten Wiederentdeckung unter nahezu einstimmigem Beifall der Kritik Konzertsäle und Tonträger erobert, wie es nicht oft passiert. Dass sich seine Opern jedoch auf den Bühnen durchgesetzt hätten, lässt sich nicht behaupten.

"Der Idiot" nach dem Roman von Fjodor Dostojewski, dessen dramatische, dialoglastige Struktur zu mehreren Verfilmungen und im Sprechtheater, noch ehe Romanadaptionen zum Alltag gehörten, zu unzähligen Bearbeitungen angeregt hat, wurde in Moskau fünf Jahre nach seiner Entstehung in einer Kurzfassung und erst 2013 in der Regie der damaligen Mannheimer Generalintendantin Regula Gerber und unter dem Dirigat von Thomas Sanderling vollständig uraufgeführt. Seither hat sich in Deutschland unerklärlicherweise kein Opernhaus für dieses in vieler Hinsicht bemerkenswerte Stück interessiert. Jetzt hat es einer der interessantesten Regisseure unserer Tage, der international gefragte Pole Krzysztof Warlikowski, bei den Salzburger Festspielen zu neuem Leben erweckt.

Ein warmes Herz

Weinbergs Librettist Alexander Medwedew, der auch bei der seit David Pountneys Bregenzer Inszenierung erfolgreicheren "Passagierin" für das Buch zuständig war, hält sich sehr eng an die – freilich stark gekürzte – Romanvorlage, und die ist zwar antikapitalistisch, kritisch gegenüber einer habgierigen Welt, aber sie ist es nicht, wie man bei einer in der Sowjetunion entstandenen Oper vermuten könnte, von einem sozialistischen, sondern von einem urchristlichen Standpunkt aus. Ihre Utopie ist nicht die Revolution, sondern das Mitleid, die Warmherzigkeit des "Narren in Christo".

Rückkehr nach St. Petersburg: Vladislav Sulimsky (Parfjon Semjonowitsch Rogoschin), Bogdan Volkov (Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin), Iurii Samoilov (Lukjan Timofejewitsch Lebedjew) © Salzburger Festspiele / Bernd Uhlig

Ganz nach den Konventionen der Operntradition ist Fürst Myschkin mit einem Tenor, der maßlose Rogoschin, ein Vorläufer von Lopachin aus Tschechows "Kirschgarten", mit einem Bariton oder Bass, Nastassja Filippowna mit einem Sopran und die brave, hinterhältige Aglaja mit einem Mezzosopran besetzt. Die Personen der Handlung werden nicht nur durch die Stimmlage, sondern mehr noch durch die musikalische Semantik charakterisiert. Weinbergs streckenweise tonmalerische, klug instrumentierte Musik nützt, wie schon in der "Passagierin", rhythmische und harmonische Elemente des Jazz und der Folklore, die vorrangig der zugleich komischen wie bedrohlichen, typisch dostojewskischen Figur des Lebedjew attribuiert werden.

Eine Verneigung im Walzertakt

In einer Chorszene scheint Strawinski anzuklingen. Im Walzertakt verneigt sich der Komponist auch in dieser Oper vor seinem Freund und Förderer Schostakowitsch. Regisseur Warlikowski hat übrigens in Paris dessen "Lady Macbeth von Mzensk" inszeniert: In russischen Dingen kennt er sich aus. In beiden Opern geht es, wie auch in der auf einer russischen Vorlage basierenden "Katja Kabanowa" von Janáček, um nicht mehr und nicht weniger als um das Recht der Frau auf (sexuelle) Selbstbestimmung. Die Katerina Ismailowa sang damals die Litauerin Aušrinė Stundytė. Jetzt besticht sie, inmitten eines überwiegend russischen und osteuropäischen Ensembles, sängerisch wie schauspielerisch, in der weiblichen Hauptrolle der Nastassja Filippowna.

SALZBURGER FESTSPIELE 2024DER IDIOT•Mirga Gražinytė-Tyla Musikalische Leitung •Krzysztof Warlikowski Regie •Małgorzata Szczęśniak Bühne und Kostüme •Felice Ross Licht •Kamil Polak Video •Claude Bardouil Choreografie •Christian Longchamp Dramaturgie •Bogdan Volkov Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin •Ausrine Stundyte Nastassja Filippowna Baraschkowa •Vladislav Sulimsky Parfjon Semjonowitsch Rogoschin •Iurii Samoilov Lukjan Timofejewitsch Lebedjew •Clive Bayley Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, General •Margarita Nekrasova Jelisaweta Prokofjewna Jepantschina, seine Frau •Xenia Puskarz Thomas Aglaja Iwanowna Jepantschina •Jessica Niles Alexandra Iwanowna Jepantschina •Pavol Breslik Gawrila (Ganja) Ardalionowitsch Iwolgin •Daria Strulia Warwara (Warja) Ardalionowa Iwolgina •Jerzy Butryn Afanassi Iwanowitsch Totzki Alexander Kravets Messerschleifer Der Fürst als Messias © Salzburger Festspiele / Bernd Uhlig

Auf der Rückwand steht neben mathematischen Formeln und einzelnen Stichworten – "das Böse", "das Gold" – in russischer Sprache und in der verwendeten deutschen Übertitelung der Satz aus Dostojewskis Roman "Ich lasse mich auf keinen Handel ein". Darunter liegt vorübergehend Fürst Myschkin als Doppelgänger des toten Christus, wie er von Hans Holbein dem Jüngeren gemalt wurde und wie ihn auch Herbert Wernicke als Sinnbild in seinem "Actus tragicus" zitiert hat. Warlikowski sagt zwar, dass er mehr an die Humanität glaube als an Religion, aber seine Symbolik lässt daran Zweifel zu, was bei einem polnischen Künstler ebenso wenig verwunderlich ist wie bei Dostojewski.

In der ersten Hälfte der Oper steht Fürst Myschkin fast ununterbrochen im Zentrum. Nastassja Filippowna ist eher in Absenz, als Idee präsent. Dostojewskis "Idiot" läuft auf ein Tutti zu, den Eklat, in dem die Filippowna das Geld ins Feuer wirft, mit dem Rogoschin sie kaufen will. Die Szene vereinigt alle Figuren in ihrem Salon auf der breiten Bühne der Felsenreitschule. Hier werden die Fäden der komplexen Handlung verknüpft. Und hier zeigt sich Warlikowskis Talent für überwältigende Bilder in seiner ganzen Schönheit. Fast könnte man zu der Ansicht gelangen, dass das große, das sinnliche Theater heute in der Oper stattfindet. Und, nicht ganz unwesentlich, mit dafür komponierter Musik. Der Preis: die Musik zwingt dem Spiel seine Tempi auf, der szenischen Beliebigkeit setzt sie Grenzen. Die Einschränkung erweist sich als Bereicherung.

Harmonisches Duo

Rogoschin, in dieser Inszenierung eher ein sympathischer Anarchist und Abenteurer als ein wilder Rowdy mit schlechten Manieren, platzt bei Warlikowski auch musikalisch in den Namenstag. Gegen Ende verfällt er in eine Volksmelodie. Der russische Nationalist, wie ihn sich Putin wünscht? Der Triumph der Hingabe und der Verzweiflung?

Der ukrainische Tenor Bogdan Volkov als Myschkin und der belorussische Bariton Vladislav Sulimsky als dessen Gegenspieler und "Bruder" Rogoschin geben stimmlich ein harmonisches Duo ab. Auch Aušrinė Stundytė als Nastassja Filippowna und die australische Mezzosopranistin Xenia Puskarz Thomas als deren Rivalin Aglaja glänzen auf Augenhöhe. Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert pointiert und sängerfreundlich. Viel Applaus für sie und für das ganze Ensemble. Das ist selbst in Salzburg keine Selbstverständlichkeit mehr.
 

Der Idiot
Oper in vier Akten op. 144 (1986/87, uraufgeführt 2013) von Mieczysław Weinberg
Libretto von Alexander Medwedew nach dem Roman von Fjodor Dostojewski
Musikalische Leitung: Mirga Gražinytė-Tyla, Regie: Krzysztof Warlikowski, Bühne und Kostüme: Małgorzata Szczęśniak, Licht: Felice Ross, Video: Kamil Polak, Choreografie: Claude Bardouil, Dramaturgie: Christian Longchamp.
Mit: Bogdan Volkov, Aušrinė Stundytė, Vladislav Sulimsky, Iurii Samoilov, Clive Bayley, Margarita Nekrasova, Xenia Puskarz Thomas, Jessica Niles, Pavol Breslik, Daria Strulia, Jerzy Butryn, Alexander Kravets, Jutta Bayer.
Premiere am 2. August 2024
Dauer: 3 Stunden 40 Minuten, eine Pause

https://www.salzburgerfestspiele.at

Kritikenrundschau

In dieser Aufführung kommt für Bernhard Neuhoff auf BR-Klassik (3.8.2024) vieles zusammen. "Großartige Sänger. Eine Dirigentin, die ihre bedingungslose Identifikation mit der Partitur in eine ebenso inspirierende wie klare Zeichensprache übersetzen kann. Und ein Regisseur, der sich – verglichen mit den meisten seiner übrigen Inszenierungen – diesmal wohltuend zurücknimmt. Vor allem anderen aber ist da ungemein kraftvolle Musik", deren "dunkle, packende, unter die Haut gehende Dringlichkeit" ihn ergreift. Regisseur Warlikowski bespiele "virtuos die schier endlos breite Bühne der Felsenreitschule." Genau dafür gebe es Festspiele: "Um unbekannte Opern zu spielen, die ins Repertoire gehören. Und um den Beweis dafür anzutreten – durch die Qualität der Aufführung."

"Ob es um einen Hauch von Romantik ging oder darum, die volle Härte der Konflikte und tödlichen Auseinandersetzungen dringlich, aber ausgewogen zu vermitteln: Die Essenz der Musik wurde deutlich spürbar", schreibt Ljubiša Tošić im Standard (3.8.2024).

Von einer "einer brillant ausgefeilten Inszenierung" spricht Bernd Künzig bei SWR Kultur (5.8.2024). "Alles ist im epischen Fluss." Wie das ganze Ensemble und das Regieteam werde auch Mirga Grazinyté-Tyla am Pult der Wiener Philharmoniker "absolut berechtigt gefeiert. Sie koordiniert herausragend Weinbergs epischen Fluss mit dem verdichteten Motivgeflecht, das den Motor dieser Roman-Oper bildet. Da ist alles en Detail ausgefeilt, die Klanggewalt, wie die intime Ausdünnung in die Solopartien hinein." Für den Kritiker ist es "die perfekte Symbiose mit Warlikowskis spannungsgeladenem Fluss seiner Regie. Mit dieser Aufführung von Mieczysław Weinbergs 'Der Idiot' ist den Salzburger Festspielen ein meisterhafter Coup gelungen."

Von einer "wahrhaft festspielwürdiger Form, was Musik und Szene betrifft," schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (5.8.2024). Gražinyte-Tyla lässt mit den Wiener Philharmonikern einen energischen, das Wortreiche und Unentschlossene auf der Bühne seinerseits unumwunden auf den Punkt bringenden und insofern tatsächlich kommentierenden Orchesterpart hören. Es gibt scharfe tanzbare Momente. Trotz der großformatigen Besetzung verschwimmt nichts. Eher scheint es – Weinberg dürfte es so geplant haben, Gražinyte-Tyla holt es hervor –, als wäre alles Füllmaterial weggelassen und nur das wirklich Notwendige zu hören.

"Vom ersten Ton an entwickelt diese solistisch ausdifferenzierte Orchesterpartitur einen starken Sog," schreibt Eleonore Büning in der NZZ (5.8.2024). "Das war bereits in Mannheim so, wo Thomas Sanderling dirigierte – dramatischer, saftiger und auch schneller, als es in Salzburg die litauische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla anlegt. Dafür lotet Gražinytė-Tyla die Stimmungswechsel präziser aus. Sie gestattet einzelnen Bläser- und Streichergruppen bewegende Kommentare. Mit präziser Schlagtechnik gestaltet sie Weinbergs Musik in allen Facetten aus, mal gesanglich und tänzerisch, mal mit dynamisch auftrumpfender Leuchtkraft."

"Krzysztof Warlikowski, ein Meister der psychologisch tiefsinnigen Regie, der mitunter einen Hang zu überassoziativen Verwirrspielen hat, arbeitet hier mit instinktsicherer Präzision," schreibt Egbert Tholll in der Süddeutschen Zeitung (5.8.2014). "Er bevölkert den Riesenraum immer wieder mit ein paar Statisten, wodurch ganz zart Motive aus dem Roman in die Oper hineingetragen werden."

"Einem Regisseur wie Timofej Kuljabin, der im März dieses Jahres eine blitzgescheite Lesart von Peter Tschaikowskys 'Pique Dame' an der Oper Lyon herausgebracht hat, wäre vielleicht anderes eingefallen, wie man den spirituellen Imperialismus Dostojewskis auf der Bühne hätte zeigen können," schreibt Jan Brachmann in der FAZ (5.8.2024). "In seinen 'Geständnissen eines Slawophilen' bekannte der Schriftsteller im Sommer 1873 immerhin, 'dass unser großes Russland an der Spitze der vereinten Slawen der ganzen Welt, der ganzen europäischen Menschheit und ihrer Zivilisation sein neues, gesundes und von der Welt noch ungehörtes Wort sagen wird'. Und Myschkin ist ein Prophet dieses Wortes. Warlikowski bezeichnet Dostojewski als Vampir – allerdings nur im Programmheft. Eine Auseinandersetzung auf der Bühne bleibt er schuldig."

Mieczysław Weinbergs letzte Oper wird zum Triumph und Überraschungserfolg des Festspieljahrgangs, schreibt Regine Müller in der taz (15.8.2024). Warlikowski deutet den Titelhelden als Menschen, der anfangs weltfern Formeln von Einstein und Newton an eine Tafel schreibt. "Myschkin ist von zarter Statur, ein rätselhafter Typ, der stets die Wahrheit sagt." Warlikowskis analytisch ansetzende Regiepranke verzettelt sich diesmal nicht in übercodierten Rätselbildern. Für jede Figur findet er eine eigene Körpersprache, einen subtil ausbalancierten Ausdruck, "sodass packende Konstellationen entstehen, an deren psychologischer Tiefenschärfe man sich kaum sattsehen kann".

Kommentare  
Der Idiot, Salzburger Festspiele: Deplatziert
Sorry, aber "Kritik" empfinde ich immer als deplatziert.
Ernsthafte Regisseure arbeiten intensiv an einem Stück und nach nur etwa 3 Stunden wird "kritisiert". Was wenn man lieber von Rezension spricht? MfG Hedi Wychera
Kommentar schreiben

nachtkritikregional

nachtkritik podcast

nachtkritikcharts

charts modTOP TEN DES THEATERS

nachtkritikvorschau

charts mod

 

nachtkritiknewsletter

charts modJETZT ABONNIEREN

digitalerspielplan

charts modDIGITALER SPIELPLAN