Eine Straßenbahn namens Betrug 

23. September 2024. Heute spielt er in der siebten nationalen Fußballliga, aber einst feierte er erstaunliche Erfolge: der Grazer Sportklub Straßenbahn. Christian Winkler nimmt ihn beim steirischen herbst zum Anlass, getreu dem Festivalmotto "Horror Patriae" ein Kapitel österreichischer Geschichte zu beleuchten und jongliert erhellend mit  Fakes und Fakten. 

Von Martin Thomas Pesl

Christian Winklers "Empire: Rooting for the Anti-Hero" in Graz © steirischer herbst / Wolf Silveri

23. September 2024. In Graz dräut das Grauen Heimat. Sogar auf Bussen steht groß das Motto der diesjährigen Ausgabe des Festivals steirischer herbst: "Horror Patriae". Nicht nur österreichweit wird bald gewählt, auch hier im Bundesland Steiermark, und in den USA sowieso.

Autochthones und Fremdes sind dabei eine viel gehandelte Ware. Der herbst hat etliche Kunstwerke initiiert, die sich schlüssig ins Thema fügen. Ein Fast-FPÖ-Plakat, von der Polizei sichergestellt, ging schon durch die Medien, bevor Intendantin Ekaterina Degot am Donnerstag das Festival mit einer galligen Rede eröffnete. In der Auftaktperformance zerpflückte dann die Truppe La Fleur aus postkolonialer Perspektive genüsslich das Heimatgenre schlechthin, die Operette.

Hinreißend erfunden

Und auch der Grazer Autor Christian Winkler, der sich als Regisseur Franz von Strolchen nennt, wirft im herbst-Auftrag einen Blick in die österreichische Geschichte. Sein neuester Streich "Empire: Rooting for the Anti-Hero" handelt vom Grazer Sportclub Straßenbahn. Heute spielt er in der siebthöchsten nationalen Fußballliga, doch einst feierte der nach dem Ersten Weltkrieg von Beschäftigten der Grazer Verkehrsbetriebe gegründete Amateurverein erstaunliche Erfolge – in Niederländisch-Indien, also dem heutigen Indonesien. Diese Reise des SC Straßenbahn im Jahr 1934 ist verbrieft. Wie viel vom Rest der Geschichte stimmt, die Winkler uns auftischt, bleibt unklar, auf jeden Fall ist sie hinreißend. Besonders aber entzückt, wie uns Winkler immer kühner mit der Nase auf sein Seemannsgarn stößt.

Empire2 1200 C steirischer herbst Wolf SilveriFakt oder Fake? Marten Schmidt lädt zu einer großartigen Gratwanderung © steirischer herbst / Wolf Silveri

Eine wuchtige Lampenkonstruktion ragt von der Decke weit nach unten zur Bühne im kleinen Theater am Lend, dessen Boden mit Glocken, Trommeln, Zupf- und anderen Instrumenten komplett zugestellt ist. Die werden auch alle genutzt: Denn neben der Komponistin und Live-Musikerin Anna Anderluh liefert das zwölfköpfige Gamelan Nyai Rara Saraswati der Kunstuniversität Graz die kulturell naheliegende musikalische Untermalung.

Wer schon einmal touristisch in Indonesien unterwegs war, kam an den Aufführungen der traditionellen Gamelan-Orchester wahrscheinlich nicht vorbei. Dass aber die Grazer Kunstuni über ein solches verfügt – wie herrlich kurios ist das bitte! Oder vielleicht auch ein Fake? Andererseits: Diese Menschen in uniformen T-Shirts sind ja gekommen, sie haben gespielt, eindeutig.

Verblassende Schwarz-Weiß-Fotos

Auch Marten ist gekommen, um aus dem Tagebuch/Fotoalbum seines Urgroßvaters vorzulesen. Suwandi arbeitete in Graz damals als exotischer Liftboy (man hielt ihn für einen Afrikaner) und begleitete die Straßenbahner auf der Schiffsreise in seine alte Heimat. Marten erzählt souverän auf Indonesisch, die deutsche und englische Übertitelung erscheint auf denselben beiden Leinwänden, auf die eine Live-Kamera auch verblassende Schwarz-Weiß-Fotos projiziert: Elefanten sieht man da und weiße junge Männer in Anzügen, die rauchen und sich sehr überlegen vorkommen.

Empire4 1200 C steirischer herbst Wolf SilveriAdäquater Sound: Die Komponistin und Live-Musikerin Anna Anderluh © steirischer herbst / Wolf Silveri

Es ist fast schade, die großartige Wendung zu verraten, aber sie erfolgt schon früh und bildet den Clou der Aufführung. Nachdem man dem sympathischen Indonesier innerlich zur halbwegs korrekten Aussprache der schwierigen Spielernamen und der Firmenbezeichnung "Kastner und Öhler" gratuliert hat, schlägt er vor, ins Deutsche zu wechseln. Er stamme nämlich eigentlich aus Leoben in der Obersteiermark, nur die Mutter sei aus Jakarta, und er lebe erst seit einigen Jahren dort. Erwischt! Erwischt beim geheimen Verlangen nach Exotismus. Direkt hineingetappt in die Falle des Heimathorrors.

So schlicht die Konstruktion ist, die Christian Winkler da erdacht hat, so liebevoll, konsequent und aufwändig hat er sie umgesetzt. Er bietet uns einen indonesischen Folklore-Abend (mit kleinem Extra: dem Schlager "So oder so ist das Leben" in der Gamelan-Version) und lässt uns zugleich spüren, was daran falsch ist.

Schillernde Prosa

Zunehmend bröckelt die Glaubwürdigkeit der nunmehr auf Deutsch dargebrachten Geschichte in schillernder Prosa. Wie Suwandi, der Fußball nur aus dem Radio kannte, vom Dolmetscher zum Sportreporter zum Ko-Trainer aufsteigt, als der eigentliche Coach dem Team untreu wird. Wie er entsetzt entdeckt, dass die Matches geschoben sind, um die Überlegenheit Europas zu demonstrieren. Und wie das Gedicht für seine geliebte Ayu, die vermeintliche Urgroßmutter des Performers, sich "lustigerweise" vorne in dem literarisch hochwertigen Fotoalbum findet.

Am Ende werden auch die Leichtgläubigsten verstanden haben, dass Suwandi nie existiert hat, aber sich umso mehr wünschen, es hätte ihn gegeben.


Empire: Rooting for the Anti-Hero
von Christian Winkler
Regie/Konzept: Franz von Strolchen, Bühne: Andrea Cozzi, Hanga Balla, Musikkomposition: Anna Anderluh, Technik: Ronny Priesching, Dramaturgie: Maria Leitgab.
Mit: Marten Schmidt, Anna Anderluh und dem Gamelan Nyai Rara Saraswati der Kunstuniversität Graz.
Premiere am 22. September 2024 im Theater am Lend
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause

www.steirischerherbst.at
www.theateramlend.at

Kritikenrundschau

Daniel Hadler vom Kurier (23.9.2024) erlebte grandiose 90 Minuten. "Wo das Pendel der Doku in die Fiktion ausschlägt, bleibt unklar und unerheblich." Der Kolonialismus zeige sich weniger in seiner Brutalität als in seiner grenzenlosen Absurdität.

"Christian Winkler findet einen verblüffenden wie unterhaltsamen Zugang zueinem schwierigen Thema (Kolonialismus)", schreibt ein faszinierter Thomas Trenkler vom Kurier (23.9.2024).

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