Der zerbrochne Krug - Volksschauspiele Telfs
Richter Adams Roadshow
2. August 2024. Es gibt viel Tempo und unerwartete Auftritte bei Anna Bergmanns rasanter Open-Air-Inszenierung des berühmten Lustspiels von Heinrich von Kleist. Starbesetzt ist "Der zerbrochne Krug " auch noch. Unter anderem mit Tobias Moretti, Corinna Harfouch, Harald Schrott und Franziska Machens.
Von Martin Thomas Pesl
2. August 2024. Am frühen Abend ist ein Wolkenbruch über Telfs hereingebrochen. Teile der Bühne sind durchnässt, dafür begrüßt ein Regenbogen das fotografierfreudige Premierenvolk. Um den Tiroler Volksschauspielen als Spielort dienen zu können, erhielt der gepflasterte Eduard-Wallnöfer-Platz vor dem Rathaus des 16.000-Seelen-Städtchens diesen Mai ein Segeldach. Es schützt Zuschauende und Beleuchtungskörper, aber eben nicht die gesamte Spielfläche.
So kommen Fragen auf: Was, wenn es während der Vorstellung wieder regnet? Wann baut jemand den Gerichtssaal auf, den die Fotos im Programmheft zu "Der zerbrochne Krug" zeigen? Gehört die Freiluftschenke in der Mitte zum Stück, oder war es nur zu mühsam, sie abzubauen? Und was ist das für eine kuriose Balustradenkonstruktion, die den Platz säumt und von der Intendant Gregor Bloéb wie ein Politiker herunterwinkt?
Stars und Schwergewichte
Der Tiroler Schauspieler wollte auf die absurd erfolgreichen "7 Todsünden" aus seiner ersten Saison noch eins draufsetzen und präsentiert Heinrich von Kleists Lustspiel aus 1808 jetzt einerseits als Familienbetrieb, andererseits als Starvehikel. Schnittmenge aus beidem ist Bloébs Bruder Tobias Moretti, der den Dorfrichter Adam spielt, Neffe Lenz Moretti ist als Beklagter Ruprecht zu sehen. Das zweite Schwergewicht wirft Regisseurin Anna Bergmann in die Starwaage, denn mit der ehemaligen Karlsruher Schauspielchefin arbeitet Corinna Harfouch besonders gern.
Erst gehört der Platz jedoch einer Newcomerin. Annalena Hochgruber als Eve kniet sich weinend zur Beichte nieder. Der Richter forderte sexuelle Gefälligkeiten von ihr im Gegenzug dafür, dass er ihren Bräutigam Ruprecht von der Miliz befreit. Die ständige Furcht kauft man der 22-Jährigen durchaus ab, vor allem aber ist sie für den in Bergmann-Inszenierungen typischen Pop-Faktor zuständig: Im Laufe des Abends wird sie, jeweils situationsangepasst, "Sympathy for the Devil“, "You’re so Vain“, "Honesty" und "Uninvited" singen.
Ihren vorgezogenen Schlussmonolog unterbricht jedoch ein donnerndes "Dies Irae“, das den frühen Höhepunkt des Abends begleitet: Ein gigantischer Transporter kommt von links hineingebrettert und legt eine Vollbremsung hin, dass einem das Herz stehenbleibt. Kurz darauf stürzt sich Tobias Moretti Blut speiend aus der sich öffnenden Beifahrertür. Im Laderaum des LKWs offenbart sich sodann die erwartete Gerichtsstube, wo Adam, typisch mit Glatze, Kopfwunde und Klumpfuß, und der spießige Schreiber Licht (Harald Schrott lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass er nur darauf wartet, den Chef vom Sessel zu stoßen) die berüchtigte Gerichtsrätin Walter (Harfouch) im Sheriffhut empfangen.
Die Gerichststube als Fluchtfahrzeug
Schon originell: Der Star hat das Bühnenbild hereingefahren. Weitere hübsche Ideen ergeben sich aus den räumlichen Umständen: Ruprecht kommt mit dem Moped zum Gericht, Adam nutzt es am Ende als Fluchtfahrzeug. Zeugin Brigitte, die den Teufel gesehen haben will, derangiert grimassierend von Residenztheater-Doyenne Sibylle Canonica gespielt, wohnt an der eingangs erwähnten Balustrade und ist dort während des Stückes an ihrer Wäsche zugange. Und während der Schreiber sie holen geht, füllt der Richter die Gerichtsrätin an der Bar im Zuschauerraum ab.
Hochgruber und Moretti Junior legen sich mit jugendlichem Eifer histrionisch ins Zeug, während die Vollprofis eher Understatement betreiben. Vor allem Harfouch lächelt das alles mit einer abgebrühten Coolness nur so weg, Tobias Moretti zeigt sich ihr gegenüber unterwürfig, sonst siegessicher, wie toxische Machtmenschen eben sind. Die Präsenz genügt, mehr wäre zu viel.
Franziska Machens bedarf indes besonderer Erwähnung. Denn Eves Mutter hat bei ihr nichts vom nervigen Keppelweib. Diese Marthe Rull ist eine moderne Frau, der Kleidung nach Marilyn-Monroe-Fan, durchwühlt schon mal den Richtertisch nach Alkohol und Aschenbecher und hält ohne falschen Respekt vorm Amt ein so ehrliches Plädoyer für ihren Krug, dass man merkt: Scheiße, der war ja echt was wert.
"Den Richter zeig' ich an!"
Alles in allem bekommt Telfs den bekannten Kleist zu sehen, nur besser, weil schneller. Auf gut anderthalb Stunden ist das Stück eingestrichen, die Figuren müssen sich also nicht elendslang dumm stellen. Auch am Ende braucht Bergmann nur einen zusätzlichen Satz, um ein heutiges Publikum (vorerst) befriedigt nach Hause zu schicken. Während nämlich ursprünglich nur Marthe die nächsthöhere Instanz anrufen will (der Krug ist ja immer noch kaputt), ergänzt hier Eve: "Den Richter zeig' ich an." Ob mit Erfolg, das bleibt freilich auch 2024 eine andere Frage.
Der zerbrochne Krug
von Heinrich von Kleist
Regie: Anna Bergmann, Bühne, Lichtdesign: Volker Hintermeier, Kostüme: Lane Schäfer, Dramaturgie: Florian Hirsch.
Mit: Sibylle Canonica, Corinna Harfouch, Annalena Hochgruber, Franziska Machens, Lenz Moretti, Tobias Moretti, Harald Schrott.
Premiere am 1. August 2024 auf dem Eduard-Wallnöfer-Platz in Telfs
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.volksschauspiele.at
Kritikenrundschau
Markus Stegmayr vom ORF (2.8.2024) lobt vor allem die Schauspielerinnen und Schauspieler. Tobias Moretti lege seine Figur mit einem hohen Intensitätsgrad an. "Blicke, Mimik und Gesten suggerierten auch den womöglich mit dem Stoff nicht vertrauten Personen, dass von Beginn an irgendetwas nicht stimmte und sich unter der grotesk-komischen Oberfläche gewaltige Abgründe auftaten." Und weiter: "Ebenso einzigartig agierte Franziska Machens, welche die Figur der Marthe Rull und deren Nuancen zwischen Naivität, fassungsloser Betroffenheit und Erkenntnis meisterhaft auslotete."
Aus Sicht von Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (2. 8. 2024) ist Anna Bergmann genau die Richtige, dieses Stück über toxische Männlichkeit auf die Bühne zu bringen. "Bergmann versammelt ein fantastisches Theater- und Film-Star-Ensemble, in dem alle hervorragend, selbstverständlich und genau mit Kleists Sprache umgehen können, am allerschönsten Sibylle Canonica als Messi-Nachbarin, die letztlich die ganze Chose aufklärt. Manch tirolerisches Wort wird hineingeflochten, das steht dem Kleist gut, auch Bergmanns Tempo – nach einer Stunde und 40 Minuten ist man durch."
"Dass der Spagat zwischen MeToo und heiterem Bezirksgericht gelingt, liegt nicht zuletzt an der Figur des Dorfrichters Adam", schreibt Ivona Jelčić von der Wiener Zeitung Der Standard (2.8.2024). "So brachial-brutal Moretti eingangs die Bühne entert, so trottelig lässt er seinen Adam wirken, wenn er versucht, sich aus der Affäre zu ziehen." Bergmann scheut aus Sicht der Kritikerin "trotz Fokus auf das Thema patriarchale Gewalt nicht vor Komödiantischem zurück und streut auch allerlei zeitgeistige Musikeinlagen ein, bei denen Hochgruber als Sängerin brilliert."
"Klug und knackig ist die Fassung, verdichtet auf eineinhalb Stunden – jede Pause wäre ein Verbrechen", so Joachim Leitner in Tiroler Tageszeitung (3.8.2024). "Sprachlich ist alles nah am Original." Anna Bergmann "geheimnist nichts hinein in den Stoff", sondern fasse ihn in klare Konturen. "Große Kunst ist das bisweilen. Und ein bisschen Kasperltheater."
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Wild und voll ungezähmter Lust, jung halt. Die Hochgruber ein Talent, man wird sie noch oft hören und sehen.
Harald Schrott, war das Tüpfchen auf dem i. Hat das Ganze rund gemacht. Bin immer noch gleich begeistert. DANKE von einer theater-begeisterten Telferin.