Reich des Todes - Akademietheater Wien
Als die Party endete
3. April 2022. Der elfte September, der Irakkrieg, Abu-Ghuraib – Rainald Goetz zeichnet ein grelles Porträt der politischen Verbrechen der Nullerjahre. Regisseur Robert Borgmann taucht den wilden Text in Melancholie.
Von Petra Paterno
3. April 2022. Dumpfe Klänge dringen aus dem Foyer, als das Publikum Platz nimmt. Auf der Bühne des Akademietheaters findet eine Art Rave-Party statt: Darstellerstellerinnen und Darsteller verausgaben sich auf dem Podium, in weiße Unterwäsche gewandet, die Augen verbunden. Die Musik von Alva Noto schlägt derart dunkle Töne an, dass das Moll die Zuseher förmlich in die Sitze drückt. Wie auf Kommando stürzen dann alle zu Boden und werden von Bühnenarbeitern sorgfältig mit Erde bedeckt. Aus. Vorbei. Die Party ist zu Ende, und der Theaterabend nimmt seinen Lauf.
Auf dem Spielplan steht Rainald Goetz' Stück "Reich des Todes". Goetz, der in den Neunzigerjahren die Rave-Ära literarisch begleitete, holt diesmal weit aus: Sein Opus Magnum "Reich des Todes" ist ein wild wuchernder Text, der den Anschlag auf das World Trade Center 2001 als "Kritik am Weltmodell des Westens" begreift und die Folterzellen in Abu Ghuraib in die Nähe des NS-Terrors rückt. Ein monumentales Drama, das durch zahllose Anspielungen aus Philosophie, Geschichte und Kultur vom Versagen der Demokratie erzählt. Ein Abend als Attacke auf die politischen Fehlleistungen der Nullerjahre.
Bei der Hamburger Uraufführung vor zwei Jahren begegnete Regisseurin Karin Beier der Überwältigungsdramaturgie in Form eines szenischen Höllentrips. Stefan Bachmann bewältigte das so faktenreiche wie grell überladene Stück in Düsseldorf 2021 ebenfalls mit einem veritablen Assoziationsfeuerwerk. Ganz anders geht Regisseur Robert Borgmann die Sache nun im Wiener Akademietheater an: Der 42-Jährige unterspielt den Text – wo Goetz aufs Gas steigt, drückt Borgmann auf die Bremse. Melancholisches Requiem statt wüster Revue. Ein interessanter Ansatz, der im Lauf der dreieinhalbstündigen Aufführung zu beeindruckenden Bildern führt, aber dennoch keinen rundheraus geglückten Theaterabend ergibt.
Da die Idylle, dort das Grauen
Während Marcel Heuperman etwa mit sanfter Stimme seinen schaurigen Monolog über Foltermethoden führt, liegt er ausgestreckt auf einer Massagebank. Er wird von einem Mitspieler hingebungsvoll massiert, das Massageöl dabei: blutrot. Heuperman, der selbst im Liegen seinen Text in Weltklassemanier zu rezitieren vermag, ist am Ende der Szene von Kopf bis Fuß wie in Blut getaucht.
Andrea Wenzl erweist sich an diesem Abend ebenfalls als erstklassige Theaterkraft. In pastellblauem Kostüm, weißen Pumps und blonder Marilyn-Perücke, legt sie als Außenministerin eine Glanznummer hin, verweist eindrücklich auf die prekäre Rolle von Frauen an der Seite männlicher Alphas: "Man stellt für den Mann eine Lachfigur dar." Einen Augenblick lang scheint in Wenzls Textpassage sogar der gegenwärtige Krieg in der Ukraine präsent: "Der Krieg ist da, und keiner weiß, was das heißt, was zu tun ist, was droht, was gleich passieren wird, jede Eskalation scheint möglich, sogar ein Atomschlag." Die bittere Erkenntnis: "Krieg wird nicht abzuschaffen sein."
Zu den Höhepunkten der Inszenierung zählt fraglos Mehmet Ateşçis Auftritt. Er berichtet als Häftling von der Abu-Ghuraib-Hölle: vom Nicht-Schlafendürfen, dem Quälen durch Lärm, dem grellen Licht, den Prügeln, Demütigungen, der ständigen Angst. Abermals konterkariert Borgmann den schneidenden Text mit eleganter Szenerie: Ateşçi sitzt bei seinem Auftritt in der Bühnenmitte, trägt ein schneeweißes Ballkleid, schält langsam eine Frucht. Da ein Bild des Friedens und der Idylle, dort das Grauen in finsteren Kerkern.
Wiener Tänze auf dem Vulkan
Die Sprünge und Assoziationen, die Goetz in seinem Text aufbietet, quittiert Borgmann mit formschönen Intermezzi. Er lässt 15 Statisten Walzer tanzen, als gälte es, den Opernball zu eröffnen – die Frauen in weißem Ballklei und funkelnder Tiara, die Männer im schwarzen Frack. Wiener Tänze auf dem Vulkan. Dann wieder verwandelt sich das Tanzensemble unversehens in einen Auflauf von dickwanstigen Micheline-Männchen, formiert sich zu nachgestellten Orgien à la Pasolinis "120 Tage von Sodom".
Am Ende führen die sorgfältig choreografierten Einfälle aber leider nirgendwo hin, wirken oft beliebig, ein umfassenderer Gedanke zu den inhaltlichen Angeboten, die das Stück liefert, ist nirgends in Sicht. Der Bühnenvorhang, auf dem der Grundriss eines Konzentrationslagers aufgezeichnet ist, wird häufig eher wahllos heruntergelassen und hochgezogen. Der Abend zerfranst, verliert nach der Pause jeglichen Rhythmus, das Spiel wirkt zunehmend ermüdend. Beim 20-minütigen Schlussmonolog, den Martin Schwab vom Blatt abliest, hört man buchstäblich das Papier rascheln.
"Nichts Böses entsteht aus dem Nichts", heißt es an einer Stelle. Wie entsteht das Böse? Diese Frage umkreist "Reich des Todes", in dem Rainald Goetz Momente der Entgleisung aufstöbert, um dem Grauen auf die Spur zu kommen. In Wien verflacht die Großfahndung nach dem Bösen zur Harmlosigkeitsorgie.
Reich des Todes
von Rainald Goetz
Regie und Bühne: Robert Borgmann, Kostüme: Bettina Werner, Komposition: Alva Noto, Chorleitung: Christine Groß Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Sabrina Zwach.
Mit: Mehmet Ateşçi, Marcel Heuperman, Felix Kammerer, Christoph Luser, Elisa Plüss, Safira Robens, Martin Schwab, Andrea Wenzl und Komparsen.
Premiere am 2. April 2022
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause
https://www.burgtheater.at
Kritikenrundschau
Schon im ersten Teil gerate Goetz’ wüste, zwischen Dante und de Sade angesiedelte Phantasmagorie immer wieder aus dem Takt, im zweiten entgleite die Abrechnung aber komplett. "Wenn am Ende Martin Schwab in einer altväterlichen Rede dann auch noch anfängt über das Theater (und viel zu vieles mehr) nachzudenken, gleicht das nicht nur einer Kapitulation der Dramaturgie, sondern auch der Regie vor Goetz’ Monstertext", so Stephan Hilpold vom Standard (3.4.2022). "Einige Buhs beim Applaus. Man muss ihnen leider trotz starken Auftakts und manch wuchtiger Szenen recht geben."
Christina Böck von der Wiener Zeitung (3.4.2022) sucht vergeblich nach einem roten Faden in der Inszenierung. "Wenn das wirre Treiben einmal kurz zur Ruhe kommt, kann es gute, wenn auch rätselhafte Bilder bewirken: etwa, wenn Mehmet Atesci Foltererfahrungen berichtet." Der Kritikerin bleibt jedoch unklar, "welchen Weg diese Inszenierung geht, außer den auf die Nerven der Zuschauer". Und weiter: "Die in den Raum gestellte Gleichstellung des Menschheitsverbrechens des Holocaust und den Menschenrechtsverbrechen der USA in Guantanamo und Co., womöglich auch noch der Exekution an Diktatoren wie Ceaucescu und Hussein, ist eine Provokation, eine Anmaßung, die zu weit geht."
Sven Ricklefs von SWR2 (4.4.2022) nennt das Stück ein "szenisches Monumentalessay". Goetz steige tief hinab in das Böse, das sich immer auch und vor allem aus den Trieben und aus der Lust speise. Robert Bergmann mache diesen unmittelbaren Zusammenhang szenisch immer wieder deutlich. Er finde großartige Bilder und schmerzhaft eindringliche Szenen. Sein fulminantes Ensemble füge dem Textkonvolut eine überaus eigenwillige Ästhetik hinzu, die eine Form schaffe und dem Rave des Textes eine Ruhe gebe.
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