Unheimlich heimatsehnsüchtig

5. Februar 2023. Der Roman "Das flüssige Land" von Raphaela Edelbauer war 2019 auf der Shortlist des Deutschen und des österreichischen Buchpreises. Nun debütiert Sara Ostertag, die schon großartige Dramatisierungen solcher Anti-Heimatromane gezeigt hat, damit im Kasino des Burgtheaters.

Von Gabi Hift

"Das flüssige Land" in der Regie von Sara Ostertag am Burgtheater Wien © Macella Ruiz Cruz

5. Februar 2023. "Man kann eben dort am besten Wurzeln schlagen, wo vieles im Boden verrottet", verkündet ein mysteriöser fliegender Maskenhändler aus Mistelbach. Ruth Schwarz, eine mit Medikamenten zugedröhnte Physikerin mit Karriereknick, würde gern Wurzeln schlagen. Dort, wo sie sie sucht, ist aber der Boden verseucht durch Leichen, über die keiner spricht.

Ein Loch in Groß-Eiland

Es beginnt auf der Bühne im Dunkeln, man hört nur die Stimmen der verdreifachten Ruth (Suse Lichtenberger, Katharina Pichler, Michèle Rohrbach) aus allen Ecken des Raums: beide Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ruth will sie in ihrem Geburtsort beerdigen. Der ist aber auf keiner Karte verzeichnet. Nach tagelanger Suche findet sie Groß-Einland hinter einer Wildnis: eine idyllische Altösterreichische Kleinstadt, deren Gebäude von Rissen durchzogen sind, deren Straßen plötzlich um Meter absinken und deren Bewohner so tun, als wäre das eine Lappalie. Unter dem Ort liegt ein gigantischer Hohlraum: "das Loch", ein ehemaliges Bergwerk, das dabei ist, einzustürzen.

Eine Geschichte, die nicht über ihre Handlung brilliert

Sara Ostertag hat Ruth auf drei Schauspielerinnen aufgeteilt, die auch alle anderen Dorfbewohner:innen spielen. Nur die Gräfin, die über den Ort herrscht, wird durchgehend (und sehr lustig) von Rainer Galke dargestellt. Die Stückfassung erzählt nah am Text das nach, was man "Handlung" nennen kann, und hier beginnt das Problem: Diese Handlung ist nur ein kleiner Teil des Romans. Dort werden die "relevanten" Themen mehr aufgezählt als behandelt: Die Verdrängung der Nazivergangenheit in Österreich auch noch nach Jahrzehnten; die Kultur des Schweigens, die die Generation voneinander entfremdet; die an vielen Orten nach Massakern kurz vor Kriegsende in Eile verscharrten Leichen, von denen alle im Ort wissen, aber niemand darüber spricht.

Schwäche des Buchs ist die allzu grobe Aneinanderreihung dieser Themen und wie stolz es sich aufeinander beziehende Anspielungen präsentiert. Das Schloss, das über die Geschicke der Ortsbewohner bestimmt, sie aber auch beschützt und ihnen Arbeit gibt pocht düster wie bei Kafka. Gleichzeitig verweist es auf Schloss und Gräfin in Rechnitz, wo das Massaker an jüdischen Gefangenen in den letzten Kriegstagen niemals aufgeklärt wurde. Wie die Gräfin Bethany in Rechnitz, die aus der Dynastie Thyssen-Krupp stammte, in deren Fabriken während des zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, ist auch die Gräfin in Groß-Einland die Tochter der Minenbesitzer jenes Stollens, in dem die Leichen der Zwangsarbeiter verscharrt sind. Edelbauer baut in ihren Roman alles ein, was die Diskurse hergeben. Zum Beispiel das gleichzeitige Vorhandensein von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: passend zum transgenerationellen Trauma.

DAS FLÜSSIGE LANDvon Raphaela EdelbauerMit: SUSE LICHTENBERGER, KATHARINA PICHLER, MICHÈLE ROHRBACH, RAINER GALKELive-Musik: PAUL PLUTRegie: SARA OSTERTAGBühne: NANNA NEUDECKMusik: PAUL PLUTKostüme: NANNA NEUDECKLicht: NORBERT GOTTWALDTon: MICHAEL STEINKELLNERDramaturgie: JEROEN VERSTEELEEine Bühnen-Ruth: Michèle Rohrbach © Marcella Ruiz Cruz

Alles in Groß-Einland ist symbolisch. Aber die Symbole verweisen zum Teil auf das eh schon deutlich Ausgesprochene. Dennoch macht das Lesen des Buchs Vergnügen – denn was die Autorin großartig kann, ist die Beschreibung der absurd berstenden, zerbrechenden und absinkenden Gebäude und Straßen. Die Häuser sind fast wie Lebewesen. Und auch die skurrilen Taktiken, mit denen die Bewohner alles vertuschen und immer so tun als wäre nichts, sind wunderbar.

Bühnentransfer: schwierig

Leider lässt sich aber gerade dieser atmosphärische Teil schwer auf die Bühne übersetzen. Schon gar nicht mit der Lösung, die Ostertag gefunden hat: Auf der Bühne stehen zwei große Trampoline, und das ganze Stück über springt manchmal nur eine, meist zwei der Ruthdarstellerinnen unermüdlich hoch hoch hoch, während sie den Text sprechen. Das soll vermutlich der Figur der Ruth die Energie einer energisch handelnden Person verschaffen – die hat sie aber im Buch nicht. Die Roman-Ruth hat eine sarkastisch distanzierte Beobachtungshaltung, streift Wochen und Monate ziellos durch die Gegend, die Zeit steht still, wie im Märchen und langsam wird sie von dem Ort eingesaugt. Dazu passt das Trampolingehüpfe nicht.

Es scheint oberflächlich eine schlichte Metapher: Ruth hat nie festen Boden unter den Füßen. Aber sie ist doch falsch, denn das Sprungtuch schleudert die Springerinnen immer wieder in die Höhe, was überhaupt nicht zum langsamen Versinken passt, von dem der Text erzählt. Dazu kommt, dass die drei Darstellerinnen die apathische, traumwandlerische Ruth mit einer schrecklich aufgesetzten Munterkeit sprechen. Nur in den Nebenrollen gelingen den dreien lustige Typen. Einzig Rainer Galkes Gräfin erfreut auf dem Trampolin. Wenn es ihm bei jedem Hüpfer die voluminöse Krinoline hebt, seine stämmigen Beine zu sehen sind und die dünnen langen Haare an den Seiten der Glatze hochfliegen als wären es Zöpfe eines kleinen Mädchens, dann gibt's endlich auch was zum Lachen.

Musik, die den Text atmet

Ganz unauffällig an der Seite der Bühne sitzt der Musiker Paul Plut. Das aufgeklappte Akkordeon vor sich wie ein Teetisch, und singt dazwischen immer mal wieder kleine melancholische Indie-Songs. Mal zu Zeilen aus dem Roman, mal einen Song wie "Devil Town" von Daniel Johnston. Und da ist auf einmal diese unheimliche, heimatsehnsüchtige, giftige und traurige Stimmung, wie sie aus den besten Stellen des Textes atmet. Das Modrige, das einen leise in sich hineinsaugt. Aber er sitzt da ganz allein unter der riesigen Marmorkaryatide des Kasinos – und seine Songs verbinden sich einfach nicht mit dem Geschehen auf der Bühne. Schade.

 

Das flüssige Land
von Raphaela Edelbauer
In einer Fassung von Sara Ostertag und Jeroen Versteele
Regie: Sara Ostertag, Bühne: Nanna Neudeck, Musik: Paul Plut, Kostüme: Nanna Neudeck, Licht: Norbert Gottwald, Ton: Michael Steinkellner, Dramaturgie: Jeroen Versteele.
Mit: Suse Lichtenberger, Katharina Pichler, Michèle Rohrbach, Rainer Galke.
Premiere am 4. Februar 2023.
Dauer: 1 Stunde und 40 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

"Mit sparsamsten Zeichen kleidet Ostertag eine Landschaft aus, die man, mit Rücksicht auf Edelbauers Prosa, eine mentale wird nennen müssen, gekennzeichnet von Absenzen und Auslassungen“, schreibt Ronald Pohl vom Standard (5.2.2023). An diesem "wohlgelungenen, überaus sinnfälligen Kasino-Abend" werde eine Art Totengedenken betrieben, "auf würdige Weise, in weiser Umgehung allzu bühnenwirksamer Entäußerungen".

Thomas Trenkler vom Kurier (6.2.2023) schreibt: "Sara Ostertag und ihre Ausstatterin Nanna Neudeck heben den Trip auf eine abstrakte Ebene. Um den Preis, dass der reale Schrecken verloren geht." Und weiter: "Als Metapher für das verflüssigte Land dienen zwei mächtige Trampoline, auf denen die Performerinnen kunstvoll (besonders
Rohrbach beeindruckt mit Artistik) durch die Luft wirbeln und insgesamt zu lang den Boden unter den Füßen verlieren."

Sara Ostertag habe diese Mischung aus österreichischer Antiheimatsatire, kafkaesken und surrealen Elementen in sehr geglückter Form auf die Bühne gebracht, schreibt Anne-Catherine Simon von der Presse (6.2.2023). Sie betone den grotesken Witz der Vorlage, was dem Theaterabend eine trotz schrecklichen Untergrundes große Leichtigkeit gebe. "Ostertag gelingt es, mit minimalen visuellen Mitteln (Schatten des bebenden Trampolinnetzes, angestrahlte Männerbüsten an der Palaiswand, skurrile Reifröcke) eine Romanwelt lebendig zu machen – was auch, aber nicht nur am guten Romantext liegt."

 

Kommentare  
Das flüssige Land, Wien: An die Nachtkritik Redaktion
Liebe Redaktion und Kritikerin,
was ist das denn für eine Passage über den Schauspieler Rainer Galke? Warum gibt es hier keine Beschreibung seines großartigen Spiels, das ja übrigens in jeder anderen Kritik herausgestellt wird, sondern nur seiner Körperlichkeit? Aufgrund derer „es endlich mal was zu lachen gibt“? Da würde ich mir ein bisschen mehr Reflexion seitens der Kritikerin und der Redaktion vor der Veröffentlichung erwarten. Dass eine Reduktion auf Äußerlichkeiten bei Spielerinnen nicht in Ordnung ist scheint bei Vielen ja zum Glück mittlerweile angekommen zu sein, gleiches gilt für Männer und alle Personen.
Beste Grüße
Das flüssige Land, Wien: Devil Town
Nur eine kurze Anmerkung: Devil Town ist im Original von Daniel Johnston, die Version von Tony Lucca ist ein Cover.

Anm. d. Red.: Herzlichen Dank für den Hinweis. Wir haben die entsprechende Stelle verbessert.
Das flüssige Land, Wien: Und die Inszenierung?
Ist ja gut wenn man erstmal die Vorlage beschreibt. Aber gefühlt zwei Drittel zum Buch und dann nur 1 Drittel zur Inszenierung ist schon etwas viel Ungleichgewicht. Und dann die Inszenierung daran messen, ob sie denn das Buch auch brav umgesetzt hat? Da würde ich mir wünschen, dass von der Kritikerin doch etwas mehr Offenheit da ist, dass hier auch Figuren ein anderer Anstrich gegeben werden darf — die Frage muss doch sein, ob die Inszenierung in sich etwas Schlüssiges ergibt, nicht, ob sie auch die "richtige" Umsetzung der Vorlage darstellt!? Erst, wenn das so gar nicht der Fall ist, finde ich, sollte man direkt wertend vergleichen. Auch erschließt es sich mir nicht, wieso ausgerechnet der "atmosphärische Teil" eines Buches schwer auf die Bühne übersetzbar sein sollte.
Das flüssige Land, Wien: Romandramatisierungen
Liebe*r Naseweis,

Danke für Ihre Anmerkungen! Die Frage, wie ich als Kritikerin mit Stücken umgehen soll, die auf Romanvorlagen basieren, stelle ich mir selbst immer wieder und komme auf keine ideale Lösung. Ich würde sie ganz ähnlich beantworten, wie Sie es tun. Sie schreiben: “Die Frage muss doch sein, ob die Inszenierung in sich etwas Schlüssiges ergibt, nicht, ob sie auch die "richtige" Umsetzung der Vorlage darstellt!? Erst, wenn das so gar nicht der Fall ist, sollte man direkt wertend vergleichen.”- wobei ich das “wertend” weglassen würde. Ich würde gern ohne Vorwissen in eine Aufführung gehen und nur dann, wenn ich mir auf etwas keinen Reim machen konnte, oder falls mich nichts daran berührt hat, würde ich die Romanvorlage lesen- als Versuch zu verstehen, was mir da eigentlich hätte erzählt werden sollen. Das ist aber zeitlich nicht möglich, schon gar nicht für uns Nachtkritikerinnen. Also bespreche ich jedes Mal als erstes die Dramatisierung.

Das mit der “richtigen” Umsetzung ist auch eine schwierige Frage- natürlich versuche ich, mich von solchen Gedanken freizuhalten. Wenn ich von Aspekten in einem Roman total begeistert bin, die dann in der Inszenierung gar nicht vorkommen, ist es aber manchmal schwer, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

Bei “Das flüssige Land” liegt der Fall aber anders. Hier geht es ums Offensein für die Möglichkeit “den Figuren einen anderen Anstrich zu geben!”. Sara Ostertag sagt im Vorfeld in einem Interview, was sie interessiert hat: “Was Raphaela (Edelbauer) macht, ist - und das finde ich zeitlos wichtig -, sich aus ihrer Generation heraus mit der Frage des Nationalsozialismus in der eigenen Biografie zu beschäftigen". Diesen Aspekt wollte Ostertag dann in der Hauptfigur Ruth auch betonen: den einer aktiven Frau, die mit großer Energie gegen das Schweigen der vorigen Generationen ankämpft, die die Verbrechen ans Licht bringt und die Ermordeten ehrt. Das Problem ist, dass das eben auf der Bühne für mich überhaupt nicht “sinnfällig” gezeigt wurde. Die hohe sportliche Energie und der zuversichtliche Ton der drei trampolinspringenden Ruth Darstellerinnen stand für mich in merkwürdigem Gegensatz zum (gekürzten, aber unveränderten) Romantext. Dadurch hat mich das Zusehen ermüdet. Und das liegt meiner Meinung nach daran, dass die Hauptfigur Ruth im Roman diesen Aspekt überhaupt nicht hat. Es ist aber nicht so, dass ich die Hauptfigur im Buch “besser” finde. Ganz im Gegenteil: die Passivität der Erzählerfigur, die ständig unter Drogen steht und auch keine Entwicklung durchmacht, finde ich eine große Schwäche des Buches. Ich hätte mir bei dem Thema genau wie Sara Ostertag eine kämpferische Figur im Zentrum gewünscht, die durch die Auseinandersetzung zu Erkenntnissen kommt. Aber dazu hätte sie meiner Meinung nach den Text und auch die Geschichte verändern müssen- denn so funktioniert die Umwertung der Figur Ruth, jedenfalls für mich, nicht.

Gut gelungen finde ich hingegen die Figur der Gräfin- hier sind sich Roman, Dramatisierung und Regie aber auch “einig”.

Meine Meinung war also nicht, dass hier die Regie ein Buch nicht “gut” umgesetzt hat, sondern dass die Regie einer Hauptfigur so drastisch fehlende Energie einimpfen wollte, dass dabei andere, gelungene Aspekte des Romans- wie die Atmosphäre des Ort- verloren gegangen sind.

Was ich unbedingt noch erwähnen wollte: die großartigste Umsetzung eines Romans, die ich im letzten Jahrzehnt, oder vielleicht überhaupt im Leben, gesehen habe, war “Das große Heft” von Agota Kristof von Sara Ostertag, 2019 im Kosmostheater. (https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=17435:das-grosse-heft-kosmos-theater-wien-sara-ostertag-agota-kristof&catid=291&Itemid=40#rundschau)
Das flüssige Land, Wien: Fallstricke und Schönheiten
Danke, geschätzte Gabi Hift, dass Sie sich auf so eine ausführliche Beschreibung Ihrer Beweggründe einlassen, eine Kritik an einer inszenierten Romanvorlage so zu fertigen wie Sie das tun. Ich finde, es sollten viele mehr Menschen miteinander über die Schwierigkeiten und Fallstricke und Schönheiten in ihren jeweiligen Berufen sprechen! Also nicht nur Theatermenschen und Kritiker! -

Ich frage mich, warum jemand überhaupt einen Roman, den ein anderer Mensch aus eigenen Gründen so geschrieben hat, wie er nun einmal geschrieben wurde, auf der Bühne so darstellen möchte, dass eine der Figuren daraus als vollkommen anderes Wesen in einem vollkommen anderen oder auch gar keinem Zusammenhang zu irgendeiner anderen Figur dargestellt werden muss?
Muss Theater Romanfiguren um-werten oder deren als möglicherweise schmerzhaft, zumindest aber als beschreibenswert empfundenen Zustand ent-werten?
Wenn ja, WARUM?
Die Gräfin war also überzeugend werte-gerecht geschrieben? Warum dann nicht das Rechnitz-Stück von Jelinek inszenieren, wenn das inszenatorische Interesse eigentlich dahin geht, eindeutig Inhumanes als inhuman zu zeigen??? -

Ich wollte nicht mit Ihnen tauschen, darauf Antworten finden zu müssen aus beruflichen Gründen...
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