Einsamer Weg im Scheinwerferlicht

Wien, 8. Januar 2022. Eine Ärztin verweigert einem Priester, bei einer Patientin die letzte Ölung vorzunehmen. Ist sie anti-religiös? Oder rassistisch, weil der Priester ein Schwarzer ist? Robert Icke hat eine an heutigen Identitätsdiskursen geschärfte Neufassung von Arthur Schnitzlers "Professor Bernhardi" geschrieben. Und sie, mit kleinen Schwächen, nach der Londoner Fassung jetzt auch in Wien inszeniert.

Von Gabi Hift

Robert Ickes Ärztin im Kreis ihrer Kolleg:innen © Marcella Ruiz Cruz

Wien, 8. Januar 2022. Nun ist Schnitzlers Professor Bernhardi, in Gestalt von Professor Ruth Wolff, vom britischen Autor und Regisseur Robert Icke brillant ins Heute übersetzt, zurück an seinem Ursprungsort Wien angekommen. Schnitzlers Original, das in der Monarchie von der Zensur verboten und 1912 in Berlin uraufgeführt wurde, handelt von einem charismatischen jüdischen Arzt, Leiter einer Privatklinik, auf dessen Abteilung ein junges Mädchen nach einer missglückten illegalen Abtreibung im Sterben liegt. Als ein Priester ihr die letzte Ölung geben will, verweigert Bernhardi ihm den Zutritt, weil er das Mädchen in der Illusion sterben lassen will, alles werde gut. Von deutschnationalen Kräften wird das im Stück als Angriff auf die christliche Staatsreligion gedeutet und Bernhardi, der sich für unantastbar gehalten hat, verliert die Leitung der Klinik und geht ins Gefängnis. Interessant für die heutige Zeit? Klarer Weise. Doch das Original ist von unserem Wissen überschattet, zu welch Entsetzlichem der Antisemitismus geführt hat, wovon die Figuren im Stück und natürlich auch Schnitzler noch nichts ahnten.

Erweiterung hin zu heutigen Identitätsdiskursen

Robert Icke, der britische Shooting Star, bereits berühmt für seine Übersetzungen klassischer Stücke ins Heute, hat eine geradezu makellose, hochintelligente Neufassung erstellt. Seine Protagonistin Ruth Wolff ist eine säkulare Jüdin, die eine hochangesehene Klinik leitet, mit ihrem Team über Alzheimer forscht und für den Nobelpreis im Gespräch ist. Als sie, ganz wie bei Schnitzler, einen Priester daran hindert, das Zimmer eines sterbenden Mädchens zu betreten, führt dieser Vorfall zu einem gigantischen Shitstorm. Ruths Karriere gerät in Gefahr und die Zukunft des ganzen Instituts.

Icke erweitert das Original hin zu den heutigen Identitätsdiskursen. Erste Angriffe kommen von Antisemit:innen, von der katholischen Kirche, von den Abtreibungsgegnern. Aber es kommt noch hinzu, dass der Priester, dem Professor Wolff den Zutritt verwehrt hat, ein Schwarzer ist, und nun wird ihr Rassismus unterstellt. Die Ärztin weigert sich, sich zu entschuldigen, will sich auch nicht als jüdisches Opfer antisemitischer Angriffe darstellen lassen, weil sie nicht religiös ist, obwohl ihr das nützen könnte. Wolff folgt auch dem Rat nicht, eine vakante Oberarztstelle mit einem christlichen, Schwarzen Kandidaten zu besetzen, weil für sie nur die Qualifikation zählt. Deshalb entscheidet sie sich für die aus ihrer Sicht bessere Kandidatin, eine weiße Jüdin. Lange ist Wolff überzeugt (wie Bernhardi im Original), dass sie es sich leisten kann, sich aus den identitätspolitischen Querelen und Machtspielen herauszuhalten. Worin sie sich täuscht.

Coup auf der Besetzungsebene

Robert Icke fächert die identitätspolitischen Diskurse nicht nur auf inhaltlicher Ebene auf, er landet gleichzeitig auf der Ebene der Besetzung einen fulminanten Coup: Gleich zu Anfang wird man damit konfrontiert, dass zwei Männer aus dem Ärztekonsortium von Frauen gespielt werden, die PR-Dame hingegen von einem Mann. Noch verwirrender wird es, als die Ärzt:innen von dem Problem sprechen, dass der Priester Schwarz ist und nun Rassismusvorwürfe im Raum stünden. Als Zuschauerin hat man den Priester bereits gesehen: er wird vom weißen Schauspieler Philipp Hauß gespielt.

Die Aerztin2 c 805 Ruiz Cruz uZur Rechenschaft verpflichtet: Sophie von Kessel vor Bless Amada, Zeynep Buyraç und Gunther Eckes © Marcella Ruiz Cruz

Nun kennt man das ja, dass Schwarze Figuren von weißen Schauspielern gespielt werden, weil es keine Schwarzen Schauspieler:innen im Ensemble gibt. Aber hier stehen gleich drei Schwarze Schauspieler:innen auf der Bühne – nur, das ist der Clou: Sie spielen gerade nicht die Schwarzen Figuren. Außer bei Sophie von Kessel als Dr. Wolff stimmen Hautfarbe und Geschlecht der Figuren nicht mit denen der Schauspieler:innen überein, die sie verkörpern. Das verlangt von den Zuschauer:innen eine hohe Aufmerksamkeitsleistung und Mitarbeit. Ausnahmsweise wird man für intellektuell satisfaktionsfähig gehalten und das ist erfreulich.

Brüske Machtmenschen mit bröckelnder Autorität

Wo man Robert Icke als Autor und konzeptionellen Denker nur bewundern kann, hat er als Regisseur allerdings vor allem im ersten Teil einige Schwächen. Vielleicht wollte er ja seine erfolgreiche Aufführung aus dem Londoner Almeida Theater allzu direkt nach Wien übertragen. Im angenehm sachlichen Neonröhrenraum von Hildegard Bechtler stimmen einfach die Machtverhältnisse im Ärzteteam nicht. Sollte es nicht zu Anfang einen Status quo geben, der dann langsam durch den Druck von außen bröckelt? Aber Sophie von Kessel glaubt man die charismatische, von allen bewunderte Chefin nicht wirklich, die zwar arrogant und brüsk ist, ein Herz nur für ihre Patient:innen hat, nicht aber für ihre Mitarbeiter:innen, die aber auch ein Inspiration ist für alle um sie herum, mit unangestrengter natürlicher Autorität. Stattdessen wirkt sie von Anfang an so, als müsse sie sich verteidigen. Vielleicht ist der staubtrockene, sarkastische Witz, den Icke für die Figur geschrieben hat, doch allzu britisch und lässt sich nicht so leicht nach Wien übertragen.

Die Aerztin3 c 805 Ruiz Cruz uSeelsorger:innen unter sich: die Ärztin (Sophie von Kessel) und der Priester (Philipp Hauß) © Marcella Ruiz Cruz

Ernest Allan Hausmann als dienstältester Professor wiederum schreit bei jeder Replik so hysterisch, dass man ihm niemals den honorigen ärztlichen Leiter einer Klinik abnimmt. Zeynep Buyraç hingegen spielt den machistischen Gegenspieler von Dr. Wolff, Prof. Roger Hardiman, vollkommen glaubhaft und witzig. Mit einem fein abgestimmten Arsenal an Gesten und Haltungen erweckt sie ihn zum Leben ohne ihn zu karikieren. Da ist ein Machtmensch, der weiß, wie er mit einem Minimum von Anstrengung dominieren und sich dabei auch noch amüsieren kann. Buyraç, die hier an der Burg mit dieser Rolle debütiert, ist einfach großartig.

Idealismus und rigide Selbstgerechtigkeit

Im zweiten Teil muss sich Dr . Wolff in einer Fernsehdiskussion gegen Angriffe von den verschiedensten Seiten verteidigen. Hier, zunehmend in die Enge gedrängt, ist Sophie von Kessel eher in ihrem Element. Als Zuschauerin ist man zunächst so selbstverständlich auf der Seite des Humanismus und der Aufklärung, dass man erst nach einer Weile ihre sture Weigerung, sich irgendeiner Gruppe zuordnen zu lassen, anzuzweifeln beginnt. Aber dann wird ihr immer wiederholtes, scheinbar weltanschaulich neutrales "Ich bin Ärztin" immer suspekter. Am Ende trifft sie sich in einem Gespräch mit dem Priester und hier zeigt sich, wieder ganz eng an Schnitzler: Von allen Figuren sind die beiden sich am Ähnlichsten, denn der Humanismus braucht ebenso einen Glauben als Zentrum, der über die selbstsüchtigen Interessen gestellt wird. Obwohl sich das Stück auf der Seite dieser beiden Idealist:innen stellt, seziert es doch auch die rigide Selbstgerechtigkeit der guten, idealistischen Menschen.

Die Wechselwirkungen von Politik, Karrierekämpfen in Institutionen und den verschiedenen Charakteren von Menschen, die Auseinandersetzung zwischen Religion und Vernunft, solche Komplexität abzubilden, diesen Ehrgeiz haben und hatten nur ganz wenige Theaterautor:innen. Schnitzler war einer von ihnen und Robert Icke eifert ihm nach, versucht ihn noch zu überbieten – und erreicht messerscharfes, intelligentes Theater für erwachsene Zuschauer:innen, wenn er auch nicht ganz an die Schnitzler'sche Eleganz herankommt.

Die Ärztin
von Robert Icke nach Arthur Schnitzler, übersetzt von Christina Schlögl
Regie: Robert Icke, Bühne & Kostüme: Hildegard Bechtler, Sounddesign: Tom Gibbons, Lichtdesign: Natasha Chivers, Licht: Hector Murray, Ton: Johnny Edwards, Dramaturgie. Anika Steinhoff.
Mit: Sophie von Kessel, Maresi Riegner, Philipp Hauß, Zeynep Buyraç, Gunther Eckes, Sandra Selimovic, Bless Amada, Ernest Allan Hausmann, Melanie Sidhu, Stacyian Jackson, Bardo Böhlefeld. Schlagwerk: Teresa Müllner, Live-Kamera: Tobias Jonas.
Premiere am 7. Januar 2022
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau 

"Robert Icke, für seine Klassikerneudichtungen im deutschen Sprachraum seit Jahren bekannt, spürt dem süffisant-zynischen Esprit aus Schnitzlers Original hinterher (…) und gibt der deutschsprachigen Erstaufführung auch Raum für (meist aggressiven) Witz", schreibt Margarete Affenzeller im Wiener Standard (08.01.22). Mit der umgekehrten Rollenbesetzung gebe Icke der "Wer-darf-wen-darstellen?-Debatte" am Theater Stoff. So entfessle der Regisseur "ein darstellerisches Verwirrspiel, in dem am Ende keiner mehr genau weiß, wer jetzt männlich, muslimisch, weiß oder sonstwas ist." Das gehe bestens auf.

"Verglichen mit den smarten Klassikerüberschreibungen des Australiers Simon Stone wirkt "Die Ärztin" recht grob gestrickt", schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (09.01.22). Die Inszenierung habe den Transfer auf das Festland nicht schadlos überstanden. Bei der Besetzung nehme Icke keine Rücksicht auf Geschlecht und Hautfarbe der Figuren und Schauspieler:innen: "Ein Kunstgriff, der produktive Irritation auslöst, im diesbezüglich viel diverseren Londoner Theater allerdings wohl ungekünstelter daherkommt als in Wien."

"Eine rasante Aufführung", schreibt Norbert Mayer in der Presse (08.01.22). Icke verzichte auf die Raffinesse des Originals und setzt auf Geradlinigkeit: „Kein Schnitzler-Ton, aber das Drama entwickelt sich Schlag auf Schlag.“ Das Rollen-Verwirrspiel beschreibt Mayer als heilsam, da es manche Behauptung ad absurdum führe.

 

Kommentare  
Die Ärztin, Wien: Eng an Schnitzler?
Vorausgeschickt: Ich habe die Aufführung nicht gesehen und kenne Ickes "Überschreibung" nicht. Aber der folgende Abschnitt der Rezension irritiert mich: "Von allen Figuren sind die beiden sich am Ähnlichsten, denn der Humanismus braucht ebenso einen Glauben als Zentrum, der über die selbstsüchtigen Interessen gestellt wird. Obwohl sich das Stück auf der Seite dieser beiden Idealist:innen stellt, seziert es doch auch die rigide Selbstgerechtigkeit der guten, idealistischen Menschen." Bei Schnitzler ist Bernhardi, im Gegensatz zum Pfarrer, gerade kein Idealist, genauer: er folgt keiner Ideologie. Während der Pfarrer zugunsten der Kirche seine Aussage unterdrückt, die Bernhardi entlasten würde, obwohl er ihm zuvor zugestanden hat, dass er "nicht in feindlicher Absicht gegen mich oder gegen – das, was ich zu repräsentieren habe, vorgegangen" ist, betont Bernhardi, dass er "ja nicht im entferntesten daran gedacht habe, irgendeine Frage lösen zu wollen. Ich habe einfach in einem ganz speziellen Fall getan, was ich für das Richtige hielt". Das ist die eigentliche Aussage von Schnitzlers Stück, der man als Zuschauer*in natürlich nicht folgen muss. Es wendet sich, am Beispiel des Antisemitismus, gegen die Unterordnung unter eine Ideologie. Wenn Icke diesen am Unterschied zwischen dem Pfarrer und Bernhardi exemplifizierten Kern einebnet, mag er ein zeitgenössisches Stück geschrieben haben, aber "ganz eng an Schnitzler" ist er nicht.
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